„Es herrscht Willkür“

Ein Gespräch mit dem Regisseur Jia Zhangke, der in Venedig den Goldenen Löwen für seinen Film „Sanxia Haoren“ erhielt, über die Zensur in China und die mangelnde Solidarität berühmter Kollegen

Interview VOLKER HUMMEL

taz: Jia Zhangke, droht Ihnen nach dem Gewinn des Goldenen Löwen in Venedig ein ähnliches Schicksal wie Ihrem Kollege Lou Ye, der vor Kurzem ein fünfjähriges Berufsverbot erhalten hat?

Jia Zhangke: Nein, im Gegensatz zu Lou Yes Film „Summer Palace“, der in Cannes lief, ist „Sanxia Haoren“ von offizieller Seite freigegeben worden. Der fertige Film wurde von der Zensurbehörde in Peking begutachtet, es gab einige Änderungswünsche, auf die ich mich nicht eingelassen habe, und der Film durfte in Venedig gezeigt werden.

Wie genau sieht die Arbeit der Zensurbehörde aus?

Das ist bei allen Regisseuren verschieden. Es kommt darauf an, wie alt man ist, wie viele Filme man schon gedreht hat, und wie erfolgreich sie waren. Bei meinem vorletzten Spielfilm „The World“, der erste, den ich offiziell angemeldet habe, mussten wir noch jede Woche die neuen Aufnahmen zur Zensurbehörde bringen und sie dort absegnen lassen. Das ist das normale Procedere bei jungen und kritischen Regisseuren. Da die Behörde in Peking sitzt, kann dieses Hin- und Herfahren mit den Filmaufnahmen eine teure und zeitaufwändige Angelegenheit sein, wenn man in der Provinz dreht. Gott sei Dank musste ich das bei „Sanxia Haoren“ nicht mehr machen, sondern nur den fertig geschnittenen Film vorführen.

Sind Sie bei dieser Vorführung dabei gewesen?

Nein. Der Film wird von einem Gremium von zwanzig Funktionären begutachtet, da gibt es einen Verantwortlichen für den Kinderfilm, einen für Frauen, für Erziehung, für Geschichte usw. Am nächsten Tag wird man dann einbestellt, und ein Mitglied des Gremiums spricht mit einem über die Probleme, die aufgetaucht sind. Noch vor drei, vier Jahren wurde dem Regisseur einfach eine Liste mit Änderungswünschen überreicht, über die nicht diskutiert werden durfte. Heute darf man immerhin schon mal nach den Gründen für bestimmte Änderungen fragen. Wird keiner genannt, kann man den Film so lassen, wie er ist, wird einer genannt, hat man immerhin eine Diskussionsgrundlage und kann Gegenargumente vorbringen.

Was hatte man denn an „Sanxia Haoren“ auszusetzen?

Vor allem gefiel ihnen nicht, dass im Titel „Drei Schluchten“ vorkommt („Sanxia Haoren“ bedeutet „Die guten Menschen der Drei Schluchten“, Anm. V. H.). Allerdings bekam ich keine Antwort auf meine Frage, was sie denn daran störe, da der Film nun mal dort spiele. Also blieb der Titel. Eine anderer Änderungswunsch betraf eine Szene, die in einer Fabrik spielt. Dort hingen riesige Porträts von Marx, Lenin und Mao an der Wand, und sie wollten, dass die rausgeschnitten werden. Sie vermuteten einen ironischen Unterton. Woran man sehen kann, dass die Leute in der Zensurbehörde keine Ahnung vom Film haben, das sind ganz gewöhnliche Parteikader. Als ich darauf aufmerksam machte, dass ich die Bilder so vorfand, und zurückfragte, ob die drei Herren mittlerweile politisch verpönt seien, durfte die Szene drinbleiben. Außerdem störte man sich an der Aufnahme eines sechzehnjährigen Jungen mit einer Zigarette. Der für Jugend und Erziehung verantwortliche Funktionär machte sich Sorgen, weil das einen schlechten Einfluss auf Kinder haben könnte. Den Einwand konnte ich mit dem Hinweis auf die hohen Kosten eines Nachdrehs abwenden. Es ist zu hundert Prozent mein Film geblieben.

Die Zensur in China ist also in den letzten Jahren um einiges liberaler geworden?

Ja, das stimmt. Aber das Berufsverbot für Lou Ye zeigt auch, wie willkürlich dieses Gremium nach wie vor agiert. Es gibt keine einheitlichen Richtlinien, die für alle Regisseure gleichermaßen gelten, es ist immer auch entscheidend, welcher Mensch einem gerade gegenübersitzt. Dass ich nichts ändern musste, hat auch viel damit zu tun, dass ich mittlerweile international einen guten Ruf habe und man allzu viele negative Medienberichte über die eigene Arbeit vermeiden möchte. Junge, unbekannte Regisseure werden viel strenger überwacht. Gemeinsam mit einer Gruppe anderer Regisseure kämpfe ich darum, dass diese Willkürlichkeit im Bereich des Films endlich ein Ende hat und dieselbe Freiheit herrscht, wie sie die anderen Künste in China mittlerweile haben. Uns schwebt dabei ein ähnliches System wie in westlichen Staaten vor, wo die Behörden nur darüber entscheiden, ab wie viel Jahren ein Film freigegeben ist. Wir haben mittlerweile drei Briefe mit Vorschlägen an die Regierung geschickt, die bisher nicht beantwortet wurden.

Wie setzt sich diese Gruppe zusammen?

Wir sind fünfzehn Regisseure, die alle der 6. Generation angehören, unter anderem Lou Ye, Wang Xiaoshuai, He Jianjun und Zhang Yuan. Ältere Regisseure, deren Worte mehr Gewicht hätten, enthalten sich bisher leider jeder Stellungnahme. Wir haben uns zum Beispiel an Zhang Yimou gewandt, aber da hätten wir auch gleich den Volkskongress fragen können. Er zeigt nicht das geringste Zeichen von Solidarität, wofür ich kein Verständnis habe. Eigentlich müsste er ja aus eigener Erfahrung die Probleme kennen, mit denen wir zu kämpfen haben.

Wie waren die Dreharbeiten in Fengjie?

Die meisten Bewohner dort hielten uns für ein Kamerateam vom Fernsehen und wollten bei uns ihre Beschwerden loswerden. Man muss wissen, dass das Gebiet von 2000 bis 2004 voll von Journalisten war, die vom Drei-Schluchten-Staudamm berichteten. Seitdem kommt jedoch niemand mehr, weil der Wert der Nachrichten von dort gesunken ist. Ich habe den Menschen erklärt, dass ich kein Reporter bin, sondern ein Regisseur. Ich kann den Leuten schließlich nicht bei ihren Alltagsproblemen helfen.

Gab es behördliche Auflagen für die Arbeit vor Ort?

Normalerweise müsste man sich dort bei der Polizei melden und mitteilen, was man an welchem Tag drehen möchte. Das bringt einige Annehmlichkeiten mit sich, zum Beispiel polizeilichen Schutz und Getränke, aber auch viele Schwierigkeiten, weil die Beamten ebenso willkürlich verfahren wie die der Zensurbehörde. Deshalb haben wir uns nicht gemeldet. Außerdem bestand kein Risiko, von den Behörden entdeckt zu werden. Nach Fengjie selbst trauten sich nämlich keine Polizisten, weil es dort Malaria, Seuchen und sehr gefährliche Verbrecher gab. Die gesamte Zone, die ja heute schon überflutet ist, glich einer vom Krieg zerstörten Ruinenlandschaft, in der nur noch Kriminelle, die Arbeiter und einige im Müll hausende Bewohner lebten.