Schule der vergessenen Kinder

AUS MÜNCHEN CHRISTIAN FÜLLER

Ein Fremder betritt den Schulhof. „Hallo, wer sind Sie, sind Sie ein Lehrer?“, schallt es ihm von Schülern mit jungen, aufgeweckten Gesichtern entgegen. „Ach, Sie sind Reporter – wollen Sie Prügelei sehen?“ Schon knuffen und rempeln sich die Halbwüchsigen. Der pummelige Mike und der protzige Nico verkeilen sich. Selbst die muslimischen Mädchen nutzen das Handgemenge, um Iridon einen Schlag zu verpassen, dem Pausenhofkönig. Die Kids inszenieren, was ihrer Meinung nach die Öffentlichkeit von ihnen sehen will: Chaos. Bushido, den rappenden Propheten von „Respekt durch Gewalt“, kennen sie hier bestens. „Grüße an Bushido!“, rufen sie.

Wir sind in der Torquato-Tasso-Schule in München, Stadtteil Milbertshofen, Am Hart. Der Bezirk, so hat es die lokale Boulevardzeitung tz in einer Statistik geraden neu ausgewiesen, ist der ärmste in der Hauptstadt des reichen Bayern. Mehr als 22 Prozent zählen hier zur Unterschicht. Wenig spricht dafür, dass diese Hauptschule ihren Schülern helfen könnte, da rauszukommen.

„Was wollt ihr mal werden, welchen Beruf wollt ihr ergreifen?“ Das ist offenbar eine witzige Frage. „Ha“, lachen die jungen Kerle, ehrlich belustigt. „Wir kriegen sowieso keine Lehrstelle.“ Wahrscheinlich würde das fast jeder der 205 HauptschülerInnen an der Torquato-Tasso-Schule sagen.

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Ein prunkvoller Bau, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Bayerns König Ludwig, hat ihn errichten lassen. Das Maximilianeum ist ockerfarben, toskanischer Ton, der Sitz des Bayerischen Landtags. In einer Aktuellen Stunde verhandelt das Landesparlament gerade über seine Bildungsstätten. Der Abgeordnete Gerhard Waschler zitiert Goethe. „Man muss das Wahre immer wiederholen“, sagt der CSU-Mann, „weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird.“

Keine schlechte Pointe, dachte sich der Waschler wohl. Bis die grüne Abgeordnete Simone Tolle ans Rednerpult tritt. Man könne die Wahrheit gar nicht oft genug sagen, persifliert die Grüne ihren Vorredner, weil es die Lüge ist, die so weit verbreitet sei. Dann hält sie ein Papier hoch. Darin steht ein für bayerische Verhältnisse geradezu ungeheuerlicher Satz: „Hauptschulen sind eine von der Bevölkerung nicht mehr akzeptierte Schulform.“

Der Satz stammt nicht etwa von ihr, sondern aus einem Papier, das Experten der CSU verfasst haben. Tolle hält das Blatt im Landtag hoch, als wär’s eine Bulle des leibhaftigen Königs. Tolle zitiert daraus, dass den CSUlern das Blut in den Kopf schießt. Der Bestand an Hauptschulen in Bayern sei akut gefährdet, heißt es da. Die Schülerzahl sinke dramatisch. Und auch dies: „Es hilft dieser Schulart nicht, wenn man unflexibel und unbeirrt an alten Hauptschulvorstellungen festhält.“

Jetzt gibt es einen kleinen Tumult im Parlament. Die Schwarzen („Mir san die Mehrern, mir san die Schwerern“), die Simone Tolle sonst eigentlich ganz witzig finden, sind mächtig sauer. Man giftet sie an. Einer der ganz, ganz Mächtigen lässt später mitteilen, niemand in der Fraktion kenne dieses Papier. Und: „Die Hauptschule bleibt, was sie immer war, die beliebteste Schulform Bayerns.“ Der Mann heißt Joachim Herrmann, ist Fraktionschef der CSU und will einmal Ministerpräsident Bayerns werden. So einer wird doch nicht die Unwahrheit sagen.

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Eine Wahrheit ist auf Klassenfotos einer anderen Münchner Schule abgebildet. Darauf immer wieder dieser fesche Mann inmitten seiner Schüler. Er ist so stolz auf sie, so beeindruckt. Hält den Rücken gerade, trägt Anzugjacken mit Hirschhornknöpfen und Zopfmuster. Ein bayrischer Lehrer, wie er im Buche steht. Einer, der weiß, wie großartig es ist, junge Menschen so durch die Schule zu führen, dass sie einen Beruf bekommen und eine Chance haben im Leben.

Klaus Ostendarp ist Hauptschullehrer und Rektor. Die Namen derer, die ihm Freude bereitet haben im Jahrgang 2002, sind flugs aufgezählt. „Das waren meine Besten in der Klasse“, sagt er. 5 von 25 Schülern. Beim Bild des Folgejahrgangs wird er zurückhaltend. „Das war schwierig“, zögert er. Kein schlechtes Wort will er über seine Schüler sagen. „Da haben nur vier den Quali geschafft.“ Für den qualifizierenden Hauptschulabschluss müssen sie eine gesonderte Prüfung ablegen. „Der Quali ist für viele die letzte Hoffnung, eine Lehrstelle zu bekommen“, erzählt Ostendarp. 4 von 21 Schülern der Hauptschule an der Implerstraße in München Sendling. Das sind nicht viele. Aber auch das ist Hauptschule in Bayern.

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Bayerns Hauptschule ist die Mutter aller Hauptschulen in Deutschland. Vier von zehn jungen Bayern besuchen diese Schulform. Das Land hat seine Spitzenergebnisse, so haben die Pisa-Forscher ermittelt, den Hauptschülern zu verdanken. Denn in anderen Bundesländern besuchen die Hauptschule nur noch 10 bis 20 Prozent eines Jahrgangs. Das sind Restschulen, mit katastrophalen Lernerfolgen, die Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bremen oder Berlin im Pisa-Ranking weit nach unten drücken. Anders in Bayern. Dort sind Hauptschulen manchmal so gut wie anderswo Realschulen. Bayerische Politiker werden nicht müde, das immerfort zu erzählen. Dabei müssten sie, wenn sie ganz ehrlich wären, sagen: Es war so, es ist vorbei. Denn auch die weiß-blaue Traumhauptschule ist im Abstieg begriffen.

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„Das war eine katastrophale Entscheidung.“ Im Lehrerzimmer der Hauptschule an der Torquato-Tasso-Straße herrscht Kopfschütteln, wenn die Rede auf die sechsjährige Realschule kommt. „Früher hatte man die guten Schüler wenigstens bis zur sechsten Klasse dabei“, sagt eine Lehrerin. „Jetzt klaut uns die Realschule die besten Schüler schon nach der vierten Klasse“, ergänzt ein anderer. Es gibt keinen Hauptschullehrer, der das nicht sagen würde. Und es war nicht der liebe Gott, sondern die allmächtige CSU selbst, die entschied: Die Realschule beginnt nicht mehr in der siebten, sondern schon in der fünften Klasse. Das war vor zehn Jahren. Die damalige Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) ist dafür verantwortlich, die Realschüler ab der fünften Klasse abzweigen. Jetzt ruiniert diese Entscheidung Bayerns Hauptschulen.

Selbst in der CSU haben das inzwischen manche gemerkt. In dem Papier, das ihre Schulexperten geschrieben haben, steht es schwarz auf weiß. Der Strom von Schülern, die nach der vierten Klasse in die Realschule wechseln, ist um bis zu 40 Prozent gestiegen, heißt es da: „Der Übertritt in die Hauptschule hat entsprechend dramatisch abgenommen.“ Klaus Ostendarp, Rektor der Torquato-Tasso-Schule, sagt: „Ich mag den Begriff ‚Restschule‘ nicht, aber es ist wirklich nur der Rest, der für uns übrigbleibt.“

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Das ist die Lage der bayerischen Hauptschulen. In den Städten ist sie Heimstatt der Unterschicht, auf dem Land gehen ihr die Schüler aus. Allein in den vergangenen zehn Jahren mussten bereits 472 Hauptschulen schließen, das ist ein Drittel. Akut gefährdet sind die Standorte in Ahrain, Vilsheim, Weiding, Kumhausen und so weiter und so fort. 170 Hauptschulen haben zu wenige Schüler, um eine fünfte Klasse zu bilden. Die Lokalpolitiker sind wütend, schicken Petitionen aus Oberfranken, aus der Rhön, aus dem ganzen Zonenrandgebiet nach München. Wie der Landrat Theo Zellner aus dem oberpfälzischen Cham stilisieren sie den Erhalt der Hauptschule zur „Schicksalsfrage für die Zukunft des ländlichen Raums“.

In München hört man das wohl. Hoffnung verbreitet man nicht. Kultusminister Siegfried Schneider (CSU) startete zwar am Wochenende wieder eine Rettungsaktion für die Hauptschule. Aber er sagt den Provinzen auch, dass die verbleibenden 1.000 Hauptschulen „nicht um jeden Preis erhalten bleiben können“. Er weiß, von 270.000 Hauptschülern werden bald nur noch knapp 200.000 da sein. Dass er vorsorglich 1.600 Lehrerstellen an den Hauptschulen wegfallen lässt, sagt er lieber nicht. Auch er will noch Ministerpräsident werden.

Und in den Großstädten? In München, Augsburg und Nürnberg wird die Hauptschule zwar zum Sammelbecken für die Kinder der Unterschicht. Entsprechend negativ ist die Haltung der Firmen. Aber aus Prinzip weigern sich Landesregierung und CSU, Haupt- und Realschulen zusammenzulegen, um so wieder bessere Lernmilieus zu schaffen. Der CSU-Abgeordnete Waschler lehnt das zum Beispiel ab, weil es der Einführung der Gesamtschule gleichkomme – und „am Wohl der Kinder vorbeigeht“.

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An der Tasso-Schule in München schmiedet man hochfliegende Pläne. Nach 20 Jahren bekommt sie wieder einen neuen Anstrich. Die 14-jährige Sarah wirft den Kopf zurück und sagt: Ich will Model werden. „Die Usbekin Zubeyde (16), seit zehn Jahren in München, würde sich auch mit Stewardess zufriedengeben. Maja (13) hat sich in den Kopf gesetzt, als Modeassistentin bei Dolce & Gabbana zu arbeiten. Sarah lässt nicht locker: „Wo muss ich mich melden, wenn ich Model werden will?“ Hauptschüler haben noch Träume.

Otto Schön hat sich aufs Pult gesetzt. Er lässt die Beine baumeln, gibt den lockeren Sozialarbeiter – und bläut seinen Schützlingen Realitätssinn ein. „Ihr müsst einen realistischen Beruf finden“, sagt er immer wieder in die Klasse 8a hinein. Schön ist von der Jugendarbeit der Diakonie in Milbertshofen und im Hasenbergl, dem nebenan gelegenen Problemviertel. Er kommt in die Schule, um den Jugendlichen Berufsberatung anzubieten. „Gebt Gas, ab jetzt zählt es!“, ermuntert er sie, sich früh nach Praktika umzuschauen.

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Zurück im Maximilianeum. Dort mag kein Schwarzer mehr zu dem eigenen Papier stehen. Offiziell gilt es als „nicht beschlossene Vorlage“. CSU-Chef Edmund Stoiber sagt, nur Lehrer, aber keine Abgeordneten hätten daran mitgeschrieben. Gerade so, als wären Lehrer nicht wichtig. Den Bildungspolitikern der CSU-Fraktion aber, die das Papier selbstverständlich kennen, fehlt der Mumm, zu sagen: Ja, es stimmt, was da drinsteht, die Hauptschule, sie fällt. Nur wenn die Kameras wegsehen und die Mikrofone abgeschaltet sind, dann brummt etwa der CSU-Abgeordnete Georg Stahl lapidar. „Da steht halt drin, wie es draußen ausschaut.“

Christine Tolle, die Grüne, ist gar nicht empört. Wie verklärt steht sie da. „Das ist die Schule der vergessenen Schüler“, sagt sie. „Das wissen die alle, auch die CSU. Aber wir sind in Bayern. Hier fällt die Hauptschule nicht, hier muss sie verenden.“