Dieses Buch ist kein T-Shirt

Es könnte aber eins sein. Warum werden Debütromane in der Mediengesellschaft häufig als Mogelpackungen rezipiert? Einige Überlegungen anhand Benjamin Kunkels „Unentschlossen“

In der Mediengesellschaft, in der ein Buch heute wirken muss, wenn es breit wirken will, gibt es das rein Literarische nicht mehr

VON CHRISTIAN KORTMANN

Kürzlich lief im ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ ein Beitrag über die Verleihung des hauseigenen Literaturpreises für das beste deutschsprachige Debüt: Umgeben von einem Grüppchen Schaulustiger gratulierte Moderator Wolfgang Herles auf der Frankfurter Buchmesse dem Schriftsteller Paul Ingendaay, der für seinen Roman „Warum Du mich verlassen hast“ ausgezeichnet wurde. Es folgte ein kurzer Talk, aber keine Laudatio, was auch daran liegen könnte, dass es im Literaturbetrieb noch an einer Systematik mangelt, mit der sich die Leistung von Debütanten würdigen ließe. Denn bislang ist die Debütästhetik eine subkutane: Eine große Faszination strahlt vom Debüt aus, ohne dass die Kultur einen Begriff vom Genre hat. Bei einem Debüt wird ja nicht allein der Text prämiert, sondern auch die Initiation eines meist jungen Künstlers in das Berufsschriftstellertum: Wie beim Eröffnungsspiel einer Fußball-WM geht es auch hier ums Rahmenprogramm.

Ist man sich darüber klar, dann liegen die Kriterien auf der Hand, mit denen sich etwa Ingendaay abfeiern ließe: Er ist 45 Jahre alt und damit ein recht später Belletristik-Debütant. Er sagt, sein enormer Respekt vor seinen Vorbildern habe ihn davon abgehalten, früher zu veröffentlichen. Das ist eine derart bescheidene und außergewöhnliche Haltung, dass sie einen bereits vor dem Lesen des ersten Satzes für den Autor einnimmt: Beim Debüt rezipiert man auch die Schreib- und Lebenssituation des Debütanten.

Der folgende Beitrag der „aspekte“-Sendung belegte diese enge Verbindung des Debüts zu den figuralen Inszenierungen der Mediengesellschaft: Es ging um bekannte Fernsehgesichter, die jüngst mit Erstlingswerken zum Sturmlauf auf die literarischen Bestsellerlisten ansetzten. Doch entgegen der Verehrung für Ingendaay hatte man für die Debüts von Kim Fisher, Manuel Andrack oder Hape Kerkeling nur Spott und Kopfschütteln übrig. Dabei sind ein inflationärer Debütausstoß und der damit einhergehende Kulturpessimismus Kennzeichen eines lebendigen Marktes – und zwar epochenübergreifend. So schrieb Hermann von Beaulieu vor 100 Jahren in seinem Essay „Erstlingswerke, Halbtalente, Dilettanten“: „Ja, wenigstens für ein Symptom von nicht Gesundsein halte ich die Allgemeinheit des kleinen Talents, für ein Zeichen von Dekadenz. […] Wer findet, daß es zu lange dauert, bis man ein Bild malen kann, der schreibt ein Buch. Das geht schneller. So wird die Literatur zum Asyl der Armen und Elenden.“

Doch wo genau liegt die Grenze zwischen preiswürdiger Literatur und einer gekonnten PR-Kampagne rund um eine attraktive Debütantenfigur? Unter den Rahmenbedingungen der Mediengesellschaft, in der ein literarisches Artefakt heute wirken muss, wenn es breit wirken will, gibt es das rein Literarische nicht mehr. Auch wenn die Hochkultur dies nicht wahrhaben will, so wirken kulturindustrielle Durchformung und Marketingstrategien des Pop längst auch auf ihre Inhalte zurück.

Besonders deutlich wird dies am Fall des Debüts der Saison: Benjamin Kunkels „Unentschlossen“, vom Verlag Bloomsbury Berlin als „neuer Kultroman aus New York!“ annonciert, wo das Buch 2005 erschien. Wie Hape Kerkelings Image als Fernsehkomiker a priori eine unterhaltende Lektüre verspricht, so erzeugt auch dieser Paratext große Resonanz – die transatlantische Rezeption wird zum Bestandteil des Primärtextes: Gleich dem Star Spangled Banner auf dem Mond beansprucht der semantische Vorlauf aus Amerika Deutungshoheit über den neu entdeckten Autor. Zusammen mit diesem Debüt bekommt man also die Meinung geliefert, die man darüber zu haben hat.

Zentral im Roman ist ein Medikament namens Abulinix, das entscheidungsunwillige Menschen entschlussfreudig macht. Wie anderen Debütanten vor ihm – z. B. Françoise Sagan in „Bonjour tristesse“ oder Arno Schmidt in „Leviathan“ – , gelingt es Kunkel, den Geist seiner Generation, hier: die Illusion unendlicher Lebensmöglichkeiten, auf den Begriff zu bringen: „In der Kapsel konnte ich förmlich sehen, wie sich die ganzen magischen Körnchen von Velleität vereinigten und zusammen vielleicht einen WILLEN ergaben.“

Die Abulinix-Kapsel diente den Feuilletons als Vorlage für den Zeitgeist erkundende Artikel, in denen man mehr über Benjamin Kunkel als über sein Buch erfuhr: Rezensionen wurden durch Porträt und Homestory ersetzt und biografistisch nach Ähnlichkeiten zwischen Autor und Ich-Erzähler gefahndet. Bevorzugt besuchte man dafür Kunkel, den 33-jährigen „neuen amerikanischen Vorzeige-Intellektuellen“ (Die Zeit) „mit schwarzem T-Shirt unter dem Motorradkragenjackett“ (Tagesspiegel) in New York. Dort kommt er „ins Café ‚Paradise‘ in Chelsea, in dessen Nähe er wohnt“ und „streicht sich das blondrote Haar aus dem Gesicht“ (FAS) oder „er sitzt in seiner Wohnung […], hinter ihm an der Wand hängt ein blauer Schmetterling in einem Glaskasten, auf dem Boden liegen Bücher, natürlich auch eines von Nietzsche“ (Die Zeit) oder er bestellt „statt eines Papayasalats, wie Philip Roth ihn in Restaurants gern mal ißt, […] beim Treffen in New York einen Artischockensalat und einen Cappuccino“ (FAZ). Kunkel ist nicht der erste Schriftsteller, der von Journalisten angehimmelt wird. Doch es fällt auf, wie in diesen Artikeln hippe Lifestyle-Impressionen an die Stelle der einstigen genieästhetischen Verklärung von Künstlern treten, die bei aller Faszination für die Person ja stets einen inkommensurabel scheinenden Geniestreich zu ergründen suchte. „Unentschlossen“ aber ist statt eines großen Wurfs nur das Beiwerk eines perfekt in die mediale Gegenwart passenden Debütanten.

Durch die überwiegend hymnische Kritik werden Erwartungen geweckt, die der Roman nicht im Geringsten hält: Die Willenspille ist eine tolle Idee, aus der sich ein Feuerwerk an Pointen ergeben könnte. Doch Kunkel macht nichts daraus, weder dramaturgisch noch motivisch. „Unentschlossen“ ist bloß ein ebenso geschwätziger wie ereignisarmer Bericht aus der US-Angestelltenwelt und dem südamerikanischen Rucksacktouristenmilieu. Der Autor ist um keine Banalität verlegen: Hier wird sogar noch die verstaubt-falsche Eskimo-Wörter-für-Schnee-Metapher benutzt, die in den Mund zu nehmen man sich seit mindestens 10 Jahren nicht mehr traut.

Das Debüt ist das Genre des Neuartigen: Wir wollen überrascht werden! Heute ist jeder als Debütant denkbar: Das Publikum überblickt die Welt als Bühne, auf der Debütanten wie Statisten sind, die plötzlich ihre Stimme erheben. In „Unentschlossen“ ist nur die Idee des Neuen erkennbar, ohne dass sie ausgeführt wird. In der Mediengesellschaft scheint dies für einen Markterfolg zu genügen, weil der heuristische Wert der Berichterstattung den des Artefakts übertrifft. Hier wird keine Literatur rezipiert, sondern über die Figur des Debütanten ein Thema verhandelt, das in der Luft liegt, und ein Produkt lanciert: Vom Feuilleton aufmerksam gemacht, sieht der Konsument die Kunkel-Werbung in der Presselandschaft von Neon bis Literaturen, und das Buch liegt prominent in allen Buchhandlungen. Stets wird das Werk von den gleichen weichgezeichneten Schwarz-Weiß-Porträts des auf bestürzende Weise Wayne Carpendale ähnelnden Debütanten flankiert. Wenn der Leser dann zu Hause sitzt und sich mit „Unentschlossen“ langweilt (Abulinix kommt auch erst auf Seite 46), könnte er glauben, er sei dümmer, als das Feuilleton erlaubt. Dabei lässt er sich nur nichts vormachen.

Um so schwerer fällt das literarische Urteil, weil es sich gegen die Überzeugungskraft, die ein Debütant durch mediale Präsenz gewinnt, durchsetzen muss. Mit dem publizistischen Apparat wuchsen auch die Möglichkeiten der Autoreninszenierung. So entfaltete sich die Faszination des Debüts vollständig erst in in der Mediengesellschaft. Ende des 19. Jahrhunderts begannen Bilddokumente, die Ideale von Jugend und Künstlertum realistisch abzubilden. Im Bildnis des Schriftstellers fallen seitdem die Eigenschaften von literarischer und Autorenfigur in eins, eine Pose steht für eine Philosophie. Dies war auch ein Leitmotiv bei der Rezeption der Popliteratur und Debütantenschwemme im Deutschland der Neunziger. Aus dieser Erfahrung sollte man die Definition von Popliteratur als einer Prosa ableiten, die von ihrer Autorenfigur unabhängig nicht gedacht werden kann. So betrachtet, realisiert jeder Autor in unterschiedlichem Grade popliterarische Elemente, von Günter Grass bis Patrick Süskind. Benjamin Kunkel bewegt sich am oberen Ende dieser Skala – wenn er nicht gerade den New Yorker Hipster gibt, wird es dünn. Doch „eine reiche Menschlichkeit läßt uns beim Schriftsteller über künstlerische Mängel hinwegsehen“, wie von Beaulieu in seinem Debüt-Essay schrieb.

Als Genre bewahrt sich das Debüt die maximale Offenheit. Vielleicht sieht das Debüt von morgen gar nicht mehr aus wie ein Buch und wir müssen es erst als literarisches Debüt entdecken – denkbar ist ein sensationell gut geschriebenes Computerspiel. Kunkel aber hat die Hohlform eines Debüts geliefert, in der es nur noch die Überraschung gibt, aber keinen literarischen Text mehr. Positiv gesagt handelt es sich bei „Unentschlossen“ um debütästhetische Konzeptkunst. Man kann in diesem Roman auch eine literarische Mogelpackung sehen, die sich als Lifestyle-Produkt innerhalb des Mediums Literatur materialisiert hat. Genauso gut könnte „Unentschlossen“ nämlich ein T-Shirt sein, mit dem einprägsamen, von Nina Rothfos und Patrick Gabler gestalteten Cover auf der Brust und einer Abulinix-Werbung auf dem Rücken.

Vom Autor stammt die Studie „Die aus dem Nichts kommende Stimme. Zur Ästhetik des literarischen Debüts in der Mediengesellschaft“. Verlag Königshausen & Neumann