Bin ich drin?

Das Café Sankt Oberholz in Berlin-Mitte gilt als inoffizielles Hauptquartier der sogenannten digitalen Bohème. Aber wer sitzt dort eigentlich – und warum? Eine Homestory

VON DAVID DENK

Ansgar Oberholz kann den Begriff nicht mehr hören. Nichts gegen die beiden Erfinder, die kennt und mag er und auch ihr Buch hält er für „eine tolle Zusammenfassung eines Zeitgeistphänomens“. Der Begriff sei „wie ’n reifer Apfel vom Baum gefallen“. Holm Friebe und Sascha Lobo haben ihn aufgehoben und ihm in ihrem Buch „Wir nennen es Arbeit“ einen Namen gegeben: digitale Bohème.

Dass selbst Ansgar Oberholz genug hat vom Gerede über in Cafés vor ihren Apple-Laptops hockenden Kreativmenschen, wundert einen schon sehr, denn die digitale Bohème ist seine Geschäftsgrundlage. Gemeinsam mit seiner Geschäfts- und Lebenspartnerin Koulla Louca betreibt er die Gaststätte Sankt Oberholz am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. Seit der Eröffnung im Juni 2005 ist das Café das inoffizielle Hauptquartier der digitalen Bohème Berlins. „Ich glaube, Apple hat bei den Laptops in Europa einen Marktanteil von 1,5 Prozent, hier sind es wohl 95 Prozent“, sagt Oberholz, ein ehemaliger Werber und selber Besitzer eines Powerbooks. „Gäste fragen uns immer wieder, ob wir von Apple gesponsert werden oder man die Laptops ausleihen kann.“ Weder noch.

Samstagabend im Sankt Oberholz. Ich bin gekommen, um hier über die digitale Bohème zu schreiben. Zu Hause kann ich mich – so widersinnig das klingt – nicht so gut konzentrieren wie in der Öffentlichkeit. Hier bin ich ganz bei mir – und doch nicht allein.

Maria ist im Sommer von Kopenhagen nach Berlin gezogen. „Das Wichtigste, was ich mitgebracht habe, ist mein Computer.“ Normalerweise geht die Architekturstudentin an der Uni ins Internet, im Sankt Oberholz ist sie zum zweiten Mal. „Ich mag das Konzept“, sagt die 26-Jährige. „In Kopenhagen muss man fürs Internet im Café zahlen.“ Das findet sie falsch: „Der Zugang zum Internet sollte für jeden free sein.“ Weil ihr Deutsch noch nicht so gut ist, spricht sie Englisch und benutzt das Wort „free“, was sowohl umsonst als auch frei bedeutet. Es könnte auch eine politische Forderung sein.

Die Getränkekarte ist mit weißer Kreide auf drei große schwarze Schiefertafeln geschrieben. Ich entscheide mich für eine Cola. Selbstverständlich wird hier keine Imperialistenbrause ausgeschenkt, sondern das Lifestyle-Gebräu eines kleinen Herstellers. Die 0,33-Liter-Flasche kostet 2,20 Euro. Unter den Tafeln sitzen sorgsam nachlässig gekleidete Gäste auf Bänken an der Wand, auf den hohen Tischen vor ihnen stehen ihre Apple-Laptops in Weiß, Metallic und Schwarz. Wer hier sitzt, ist nicht auf Diskretion aus.

Genau da sitzt auch Pelen – obwohl ihr die Gäste im Sankt Oberholz suspekt sind. „Wer hier surft, hat entweder kein Geld für einen Internetanschluss“, sagt die 22-Jährige, „oder es geht ihnen ums Sehen und Gesehenwerden.“ Die Abiturientin versichert, nur hier zu sein, weil sie gerade umgezogen ist und noch kein Internet hat, sich aber über mögliche Studiengänge informieren muss. Modemanagement oder -journalismus schweben ihr vor. „Sobald ich den Anschluss habe, werde ich den bevorzugt nutzen.“ Also fühlt sie sich wohl nicht der digitalen Bohème zugehörig? „Bohème – was ist das?“

Ich setze mich mit meiner Cola in den ersten Stock, klappe den Laptop auf und bringe den Apfel zum Leuchten. Hier oben ist es gemütlicher als unten, weniger Gewusel, gedimmtes, leicht puffiges Licht. Durch die großen Fenster hat man den Rosenthaler Platz gut im Blick. Eine Gruppe Spanier trinkt Wein, ein Pärchen kuschelt. Zwei Freundinnen kommen die Kiefernholztreppe hoch. Als die eine von beiden all die Laptops sieht, sagt sie mitleidig: „Die armen Leute arbeiten alle.“

Dieses Verschmelzen von Abhängen und Arbeiten, das Auflösen eines scheinbaren Widerspruchs, erzählt Ansgar Oberholz, sei immer Teil des Konzepts gewesen. „Das glaubt uns nur leider niemand.“ Als „modernes Pendant zum Aschinger“ sei das Sankt Oberholz gedacht gewesen. „Beste Qualität bei billigstem Preis“ lautete der Slogan des Gastronomieunternehmens, das in seinen Höchstzeiten in Berlin 30 „Bierquellen“ betrieb, eine davon am Rosenthaler Platz, in den heutigen Räumen des Sankt Oberholz. Genau dort war in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ übrigens auch Franz Bieberkopf zu Gast. Als Aschinger-Reminiszenz liegen in der Vitrine am Tresen neben Couscous-Salat und Zucchinipuffern auch Buletten, Knacker und Wiener Schnitzel. Und auf der Getränkekarte stehen die Fassbiere in der Kategorie „Molle“.

Apropos trinken: Ich bin jetzt seit knapp drei Stunden hier und sollte wohl mal wieder was bestellen. Dafür muss ich aber runter an den Tresen. Und wer passt in der Zwischenzeit auf meinen Computer auf?!

„Leute, die sich stundenlang an einem Getränk festhalten, zerreißen mir das Gastronomenherz“, sagt Ansgar Oberholz und deutet auf die beiden Frauen am Nebentisch, die nur ihre Laptops vor sich stehen haben. „Wir mögen unsere Gäste“, sagt der 33-Jährige, „solange sie uns fair behandeln.“ Später wird er rübergehen und freundlich, aber bestimmt erklären, dass Strom und WLAN zwar für die Gäste umsonst sind, nicht aber für den Wirt. Warum stellst du dann nicht auf Bedienung am Platz um, dann würden die Leute mehr konsumieren? „Ja, aber die entspannte Arbeits-Wohnzimmeratmosphäre wäre dahin.“

Schon seltsam, dass man im Café wildfremden Leuten seine Sachen anvertraut. Ob sie es verhindern würden, wenn jemand meinen Computer mitnimmt? Der Buddy-Holly-Typ vom Nebentisch kann offenbar Gedanken lesen und hat auf die Frage, ob er mal eben kurz aufpassen könnte, mit „Klar“ und einem breiten Grinsen geantwortet.

Thorleifur, der seinen Namen lieber selbst in den Notizblock schreibt, behauptet von sich, einer der ersten Stammgäste des Sankt Oberholz zu sein. Der 28-Jährige kommt jeden Tag her, meistens abends. Heute zur Mittagspause, er isst die Tagessuppe, Weißkohlsuppe mit Hackfleisch für 3,50 Euro. Seinen Computer hat der Isländer ausnahmsweise mal nicht dabei, er wollte eigentlich Economist lesen, doch den gab’s am Kiosk nicht. Seit 14 Monaten lebt er in Berlin, studiert Regie an der Ernst Busch. An seinen eigenen Stücken schreibt er lieber im Sankt Oberholz als zu Hause – und wundert sich drüber: „Verrückt, dass Leute an öffentliche Orte gehen, um private Dinge zu tun.“ Mit einem seiner Stücke wird er im Februar am Berliner Maxim Gorki Theater gastieren. Darin geht es um Mitarbeiter einer Marketingabteilung, die das Image ihrer Firma aufpolieren, dabei aber ihr eigenes zerstören. „Das Sankt Oberholz baut sein Image auf Leuten auf, die hier an ihrem eigenen Image bauen“, fällt ihm derart eingestimmt ein.

Warum bin ich hier? Zur eigenen Imagepflege? Um einem Bild zu entsprechen? Weil meine Wohnung klein und unaufgeräumt ist? Ich weiß es nicht. Wenn ich jetzt sage: weil es mir hier gefällt, klingt das wie eine faule Ausrede. Kann man als Neu-Berliner überhaupt hier wohnen, ohne von irgendwem für ein Szene-Opfer gehalten zu werden? Oder anderen solche Gedanken zu unterstellen?

Dieter ist zufällig hier, weil ihm die Straßenbahn vor der Nase weggefahren ist. Der 65-Jährige kommt vom Arzt, trinkt seinen Kaffee im Stehen. Finden Sie’s schön hier? „Nicht schön, sondern vor allem praktisch“, antwortet der ehemalige Kellner. „Wenn ich mit meiner Frau einen Gaststättenbesuch machen würde, würden wir nicht hier reingehen.“ Nein, Internet hat er zu Hause in Lichtenberg nicht, kein Bedarf. Die Tasse ist leer. Dieter muss los.

Während ich eine kurze Pause mache, leiht sich der Buddy-Holly-Typ vom Nebentisch meinen Computer und ruft folgende Seiten auf: www.mail.ru, www.wlw.de, www.google.de (Suchwort „Blockeis“), dict.leo.org (Suchwort „equipment“), www.hansa-industrieanlagen.de, www.ziegra.com, www.coldjet.com. Dabei ist es doch draußen schon kalt genug …

Nach der Wende war zehn Jahre lang ein Fastfood-Restaurant in den heutigen Räumen des Sankt Oberholz untergebracht. „Zu Burger-King-Zeiten war ich furchtbar oft hier“, sagt Ansgar Oberholz, „nachts, besoffen, wie jeder.“ Danach machte dort ein Schwulenclub auf und bald wieder zu, gefolgt von einer Table-Dance-Bar. „Gastronomisch war das hier verbrannte Erde“, sagt Oberholz, der mittlerweile ganz gut von seinem kleinen Unternehmen leben kann. Das Sankt Oberholz schreibt schwarze Zahlen. „Kein Wunder, dass das läuft, bei der Lage“, hört Oberholz immer wieder. Es ärgert ihn, weil Erfolg eben kein Naturgesetz ist.

„Dich habe ich hier aber auch schon mal gesehen – als Gast“, sagt Oberholz irgendwann. Leugnen wäre zwecklos. Als er eine Visitenkarte holt, bringt er einen kleinen Zettel mit. Jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß: „Du bist Stammgast im Sankt Oberholz.“ Meine E-Mail-Adresse soll ich eintragen, damit man mich zur geplanten Stammgast-Party einladen kann.

Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe.