Unfälle in Zeitlupe

Die Angst vor herabfallenden Ziegeln und die Trauer um verlorene Liebhaber: „Havanna – Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ von Florian Borchmeyer ist eine schöne Dokumentation über das Leben im Zerfall und die Treue zu Tauben

Trotz rigider Zensur und schwieriger Arbeitsbedingungen scheint Kuba derzeit ein beliebtes Thema bei Dokumentarfilmern zu sein. Mit „Havanna – Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ kommt ein weiterer Film in die Kinos, der sich mit dem Leben in Kuba beschäftigt. Florian Borchmeyers Film dokumentiert in bedrückend schönen Bildern die zerfallende Architektur in der Metropole Havanna – und zugleich das Schicksal der Menschen, die darin leben.

Der Klempner Totico etwa hält einen neunstöckigen einsturzgefährdeten Wohnkomplex im Stadtzentrum in Stand. Vor Jahren hat er sich von seiner Frau Magdalena getrennt, als diese ihn vor die Wahl stellte, sich zwischen ihr und seinen geliebten Tauben zu entscheiden, die er auf dem Dach des Hauses züchtet. Totico vergleicht das Gebäude, in dem er sein gesamtes Leben verbracht hat, mit einem lebenden Organismus, einem „alten Mann, der nach und nach ausmergelt“.

Eine weitere porträtierte Person ist Reinaldo, ein moderner Diogenes, der weltliche Besitztümer ablehnt und im ehemals glamourösen Teatro Campoamor, in dem einst Enrico Caruso aufgetreten ist, inmitten von Schutt haust. Eigentlich sollte er dort nur einen Job als Nachtwächter antreten, doch Reinaldo gefiel das Gebäude und so zog er ein und blieb.

Die Ruinen, das wird schnell klar, sind keine Orte der Kontemplation, sondern vielmehr „Unfälle in Zeitlupe“, wie Jean Cocteau einmal geschrieben hat. Da in ihnen das Leben einfach weitergeht, erlauben sie keine Melancholie, keinen romantisierenden Blick. Der Schriftsteller und selbsterklärte Ruinenliebhaber Antonio José Ponte stellt die These auf, die Ruinen würden deshalb von der Regierung geduldet, weil sie ein Mahnmal für einen nie vollzogenen US-Angriff darstellten und somit ein geeignetes Mittel zur Repression der Bevölkerung seien. Zudem, so Ponte, gingen privates und öffentliches Scheitern Hand in Hand. „Die Ruine trägt man im Innern, wie ein Trauerkleid“, sagt er.

Warum die Bewohner bleiben? Einerseits wohl, weil sie keine Alternative haben, andererseits, weil sie von Erinnerungen an bessere Zeiten gehalten werden. Sie können oder wollen sich nicht von ihren Träumen lösen und klammern sich deshalb so heftig an die Vergangenheit. Misleidys etwa, eine Frau um die dreißig, würde am liebsten die Etage, die sie in einem zerfallenen ehemaligen Luxushotel bewohnt, überhaupt nicht mehr verlassen. Einst war sie mit einem Millionär verheiratet, wohnte danach mit ihrem Liebhaber in ebendiesem Hotel. Während der Liebhaber ging, ist Misleidys geblieben und lebt nun in ständiger Angst, nachts von einem herunterfallenden Ziegel erschlagen zu werden.

„Havanna – Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ ist ein bewegender Film, der immer nah bei seinen Protagonisten bleibt und trotzdem etwas Generelles über das heutige Leben auf Kuba vermittelt. Durch die Art und Weise, wie hier Schwarz-Weiß-Filmausschnitte aus den 60er-Jahren mit Einzelporträts kombiniert werden, gewinnt man einen detaillierten Eindruck vom dramatischen Wandel der Lebensverhältnisse in einem Land, dessen Gebäude zu einem Symbol für seinen ökonomischen Ruin geworden sind. ANDREAS RESCH

„Havanna – Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ läuft im Babylon Mitte