Existenzieller Marx

Heinz Bude eröffnet eine Vortragsreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung: „Wie weiter mit Marx?“

„Bei uns in Russland interessiert sich man sich nicht so für Marx“, sagt eine schmale Studentin am Eingang des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). In Hamburg tun es so viele, dass ganze Gruppen vor der Tür bleiben müssen. „Wie weiter mit Karl Marx?“, so fragte am Montag der Soziologe Heinz Bude als Erster in der Reihe „Wie weiter mit …?“. Sie soll klären, inwieweit der Blick der großen sozialwissenschaftlichen Theoretiker (und einer Theoretikerin) des 19. und 20. Jahrhunderts noch unserer sein kann.

„Teilweise“, so antwortet Bude an diesem Abend für die Marxsche Perspektive und dieses „teilweise“ war interessant, weil es ein emphatisches war. Marx, so sagt Bude, habe bereits 1848 Strukturen einer globalisierten Welt mit „ungeheurer spontaner Evidenz“ beschrieben: Die Gier des Kapitalismus und die wechselseitige Abhängigkeit der Volkswirtschaften, die an die Stelle der alten, nationalen Selbstgenügsamkeit tritt und immer neue Bedürfnisse produziert. Und eine Überproduktion, die zum Kampf zwischen Ausgebeuteten und Profiteuren führt.

Doch bereits hier macht Bude Abstriche am Marxschen Modell: „Es ist keine rein wissenschaftliche Analyse, sondern der Ansatzpunkt einer moralischen Suche nach objektivem Grund für subjektive Empörung.“ Marx ja, aber entkleidet seines ökonomischen Unterbaus. Seine Vorstellung, Produkte hätten bereits jenseits des Marktwerts alleine durch die in sie investierte Arbeit einen Wert, sei nicht zu halten. Was Marx über die Akkumulation des Anlagekapitals zu sagen habe, sei eine richtige Diagnose – aber sonst erschöpften sich die Aussagen zur Ökonomie in „falschen Substanzialisierungen“. Und die Marx’sche Vorstellung, der Mensch verwirkliche sich primär über seine Kreativität, sei ein überaus „angestrengtes Modell“.

Was bleibt? „Ist Marx ein Denker der Gleichheit oder der Freiheit?“, fragte Bude. Im real existierenden Sozialismus sei an die Stelle der Freiheit eine „Ideologie der Egalität“ getreten, gegen eine Welt der Differenz. Eine „Politik des Ressentiments“, in der man mit dem bösen Blick der Gleichheit die Freiheit verurteilt habe, die man heimlich begehrte. Für Bude ist Marx’ Blick der der Freiheit. Verstanden als Freiheit zur Negation, die den eigentlichen Grund der Geschichte bilde. „Das ist der Grund der Treue zu Marx.“

Bude stellt ihn mit leichter Hand in die Nähe Sartres und er macht kein Hehl daraus, dass er in Marx keinen Sozialwissenschaftler, sondern einen Geschichtstheoretiker sehen möchte. Kein Bauplan für die neue Gesellschaft also, sondern eine existenzielle Ermächtigung. Und hier, beim kollektiven Wir, sieht Bude die Dämonen, die dem Marx’schen Modell innewohnen: Denn mit der Idee der Revolution sei immer die Konstruktion eines kollektiven Wir verknüpft, das die Wahl habe. „Wir alle aber wissen, dass ein Wir, das sich dazu aufwirft, gefährlich ist.“

Für jenes kollektive Wir gebe es zwei Modelle: Das einer „Multidude“, wie es Negri vertritt, also einer unklaren Masse, die sich am ehesten als revolutionäre Energie fassen lässt. Und das in der Nachfolge Gramscis, das dem Bild eines Stellungskriegs nahekommt und an eine Aggregierung jener Energie glaubt.

Bude selbst sieht die Revolution nicht an der nächsten Hausecke. Der Glaube an eine nahe Revolution sei „naiv“, aber auch hier treffe Marx’ Krisentheorie zumindest in den Abstiegsängsten bislang saturierter Gruppen die gegenwärtige Situation. Am Ende, und da berief er sich auf Derrida, gäben Marx’ Gespenster keine Ruhe: „Sie flüstern uns zu: ,Proletarier aller Länder, vereinigt euch‘.“

Aber davor meldeten sich diejenigen zu Wort, denen Budes Sicht auf Marx allzu existenzialistisch geraten war: „Wenn Sie die Fabriksozialisation und die Ökonomie aus der Marxschen Analyse herausnehmen, wird die Revolution immer mehr zum existenziellen Akt“, sagte Institutsgründer Jan Philipp Reemtsma. Andere, die einen weniger wissenschaftlichen denn emphatischen Zugang zu Marx hatten, erinnerten an Marx als denjenigen, der die Spannung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Produktivkraft bewusst gemacht habe – und verwiesen auf Mercedes-Benz, wo die Arbeiter weg von der Gruppenarbeit zurück ans Fließband geschickt würden.

Marx wende sich nicht an ein vom schlechten Gewissen geplagtes Bürgertum, entgegnete Bude maliziös. Sondern, und hier wurde auch Heinz Bude emphatisch, an diejenigen, die auf der Suche seien nach einem Theoretiker, der unsere Hinnahmefähigkeit in Frage stelle. „Jemand, der nicht sagt: So funktioniert es. Sondern fragt: Wie wollen wir leben?“ FRIEDERIKE GRÄFF