Bestseller: Die Liebe aus dem Leben gestohlen

"Wir sind niemals aus Auschwitz raus", heißt es bei Savyon Liebrecht. In Deutschland wird die Autrorin gerade für das Theater entdeckt.

Bild: dtv

In Israel ist Savyon Liebrecht eine Bestsellerautorin. Sie erzählt Familiengeschichten, voll von Geheimnissen und von bröckelnden Bindungen, die von den Spätfolgen des Holocaust und den Traumata der Überlebenden durchsetzt sind. In Deutschland sind ihre Romane und Kurzgeschichten bei dtv erschienen, und oft war sie hier auf Lesereise. Diesmal aber ist die 58-jährige Autorin nach Bonn gekommen, weil sie in Deutschland nun auch für das Theater entdeckt wird: In Bonn erlebt ihr Stück "Sonia Mushkat" die deutsche Erstaufführung, in Kiel wird Ende März "Spreche ich Chinesisch?" gezeigt. Bonn hat sich auch ihr neuestes Stück gesichert, das der Beziehung von Hannah Arendt und Martin Heidegger nachgeht.

"Ich hatte weder Großeltern noch Tanten, noch Cousins. Aber bei uns wurde getan, als sei das normal", erzählt Savyon Liebrecht. Bis heute weiß sie nicht, wie viele ihrer Verwandten in KZs umgebracht wurden, weil ihre Eltern schwiegen. In München wurde sie geboren, als Tochter eines Paares polnischer Juden, die als Einzige von riesigen Familien übrig geblieben waren. Deutsch kann Savyon Liebrecht, die in Israel aufwuchs, noch verstehen, wenn auch nicht sprechen. In Deutschland fühlt sich wie ein Kind, das stellvertretend für die Eltern hier noch etwas zu bearbeiten hat. "Die Luft, die Farben kommen mir vertraut vor. Gleichzeitig liegt für mich diese Spannung in der Luft."

In Liebrechts Werken tauchen oft wie beiläufig Menschen auf, die sich nachts schreiend im Bett wälzen. Flüchtige Erinnerungen an Kinder, die nie älter geworden sind. Mütter, die ihre Töchter nicht lieben können, weil sie mit ihren Erinnerungen beschäftigt sind. In ihrem Roman "Ein Mann und eine Frau und ein Mann" pflegt eine Frau ihre demenzkranke Mutter, die einst abweisend und kühl war. Wie auf der Flucht vor deren wirr aufkommenden Holocausterinnerungen, von denen die Tochter nie etwas wissen wollte, verliebt sie sich in einen Mann, der im Nebenzimmer seinen kranken Vater betreut - und entfernt sich dabei immer weiter von ihrer Familie. Oder war die Entfremdung schon vorher da, weil Kommunikation und Erinnerung so gestört sind?

Im Stück "Spreche ich Chinesisch?" muss eine 40-Jährige die Wohnung ihrer Eltern verkaufen, aus der sie als Jugendliche weglief. Dort sieht sie sich selbst als junges Mädchen wieder, zwischen einer abweisenden Mutter und einer verführerischen Tante, die um ihren Vater buhlten. Das Israel der 60er-Jahre, der Konflikt von europäischen und arabischen Juden, taucht wieder auf. Verbunden sind die Schwestern durch eine alte Schuld: Im Todeslager haben sie das letzte Stück Brot geklaut. "Wir sind niemals aus Auschwitz raus", sagt die Mutter einmal. Das Stück war in Israel ein großer Erfolg: Über 350 Vorstellungen wurden gespielt.

Liebrechts Stücke sind well made plays: Sie sind ein wenig zu gut gebaut, um wahr zu wirken, ihre perfekte Konstruktion und Handlungsfülle wendet sich zuweilen gegen sie. Aber sie sind elegant und flüssig geschrieben. Bühnenwirksam verschwimmen Zeitebenen ineinander, tauchen verheimlichte Lieben und uneheliche Kinder auf.

"Sonia Mushkat", vor knapp zehn Jahren im Nationaltheater Tel Aviv uraufgeführt, hat ein klaustrophobisches Grundszenario. Vier eingeschlossene Menschen bereiten sich die Hölle. Zwei Schwestern und ein erwachsener Sohn aus einer jüdischen Aristokratenfamilie verstecken sich in einem Keller monatelang vor den SS-Schergen - versorgt vom christlichen Dienstmädchen Sonia. Die jüdischen Aristokraten entpuppen sich als dekadente, egoistische Monster. Auch hier wird wie in einem Krimi ein finsteres Familiengeheimnis aufgedeckt, das die zwei bösen Schwestern zum Schluss vernichtet - ein wenig wie das Märchen vom Aschenbrödel. Interessant ist "Sonia Mushkat" wohl vor allem deshalb, weil man die Umkehrung der Rollen nicht gewohnt ist: eine Familie jüdischer Verfolgter als Täter darzustellen. "Für mich handelt das Stück nicht vom Holocaust, sondern eher davon, was mit der menschlichen Psyche in Kriegszeiten passiert", sagt Liebrecht.

In Bonn hat Regisseur Michael Helle den Keller in eine Sperrholzkiste verwandelt, in der Matratzen, Nachttöpfe und Wasserflaschen lagern. Untergründig evozieren die Szenen Bilder aus Konzentrationslagern. Überdeutlich wird der brutale Geschlechtsverkehr zwischen dem Sohn der Adligen und dem Dienstmädchen gezeigt und die Eskalation des Familienhasses. Drastischer Fernsehrealismus, der die eigentliche Frage des Abend auslässt: was eigentlich aus einem israelischen Stück über menschliche Schuld wird, wenn es in Deutschland gespielt wird. So kommt man am Bonner Theater nicht um den Eindruck herum, dass das Haus mit dem Thema des Holocaust Bedeutung beansprucht, die sie dann doch verpassen.

Liebrecht selbst kann man das allerdings kaum vorwerfen. Ihr Werk zeigt vor allem, wie es sich anfühlt, Nachgeborene von Auschwitz sein, und wie sehr das, schmerzhaft wie beiläufig, zu einem israelischen Leben gehört.

Deutsche Erstaufführung von "Spreche ich Chinesisch?" am 25. 3. im Schauspielhaus Kiel. "Sonia Mushkat" läuft in den Kammerspielen Bonn wieder am 10., 18., 24. und 29. März

Savyon Liebrecht, bei dtv: "Ein Mann und eine Frau und ein Mann", Roman (2000); "Die fremden Frauen", drei Novellen (2002); "Ein guter Platz für die Nacht", sieben Erzählungen (2005)

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