Nicht auf Rache aus

Endlich einmal fragt ein Buch: Wer waren die Menschen, die zu Opfern der RAF wurden? Das allein macht es wichtig. Schade nur, dass die Autorin Anne Siemens wenig über die RAF weiß

VON RUDOLF WALTHER

Es ist schon erstaunlich. Über die RAF erscheinen immer mehr Bücher, aber keines davon hat bislang die Opfer der Terroristen ins Zentrum der Betrachtung gestellt. Insofern ist es zu begrüßen, dass Anne Siemens endlich nachfragt: „Wer waren die Menschen, die zu Opfern der Terroristen wurden?“

In 28 Jahren ermordete die RAF 34 Menschen, neben den Prominenten die oft vergessenen Polizisten, Fahrer, Personenschützer und amerikanischen Soldaten. Anne Siemens sprach mit Ehefrauen, Söhnen und Töchtern, aber auch mit Kollegen von 9 Opfern. Sie versuchen, möglichst lebendig von den Menschen zu berichten, denen sie nahestanden, und ärgern sich wie Corinna Ponto darüber, dass die Öffentlichkeit ihren ermordeten Vater auf ein abstraktes Gewaltopfer reduziert.

Der Versuch, die Ermordeten zu porträtieren, gelingt den Interviewten nicht immer gleich gut. Oft erzählen die Angehörigen ziemlich ausführlich über das politische Klima der 70er-Jahre und den Zusammenhang von Studentenbewegung und RAF, aber recht wenig über sich und das Opfer. In einigen Fällen werden auch gut dokumentierte Verbrechen wie die Schleyer-Entführung oder die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ langatmig nacherzählt. Anna Siemens verdoppelt diese bekannten Tatsachen obendrein, indem sie die Vorgeschichte der Attentate, die Biografien der Opfer oder Berichte über die Prozesse gegen die Täter in die Interviews montiert. Das macht das Buch etwas zäh zu lesen.

Restlos irritiert sind viele Angehörigen von der Art, wie ehemalige Terroristen, die ihre Haft verbüßt haben oder begnadigt wurden, heute in den Medien auftreten. Clais Baron von Mirbach zum Beispiel, der Sohn des am 24. April 1975 ermordeten Soldaten und Diplomaten Andreas von Mirbach, findet den Auftritt, den sich Karl-Heinz Dellwo im schwedischen Spielfilm „Stockholm ‘75“ leistete, „auf verstörende Weise selbstgerecht“. Dellwo berief darin sich auf seine „Ideale“, hängte das RAF-Signet in seine Küche und hielt langatmige Predigten über „politischen Widerstand in der Nachkriegszeit“.

Mirbach stößt sich überhaupt nicht daran, dass Dellwo von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht wie jeder andere, sondern daran, dass Dellwo von den Medien und der Gesellschaft für sein indiskutables Verhalten nicht stärker kritisiert wird. Dieses Gefühl, von der Öffentlichkeit nicht zureichend in ihrer Würde verteidigt zu werden, hat viele Angehörige von Opfern zum Schweigen gebracht. Die Mehrheit unter ihnen wollte deshalb nicht mit Anne Siemens reden – insbesondere niemand von den Hinterbliebenen der ermordeten Polizisten, Fahrer, Personenschützer und Soldaten.

Die Hinterbliebenen schwören nicht auf Rache, auf lebenslanges Wegschließen oder auf öffentliche Bußrituale und Reuebekenntnisse, wie dies die Springerpresse den noch Inhaftierten abnötigen möchte. Andererseits erstaunt, dass bislang keiner der ehemaligen Terroristen weder privat noch über die Medien ein persönliches Wort an die Angehörigen gerichtet hat. Die Vermutung, dass die jetzt in Freiheit Lebenden ihre Schuld eben durch dieses Schweigen „bewältigen“ und damit verdrängen, äußern nicht nur Corinna Ponto, sondern auch andere Gesprächspartner von Anne Siemens.

Hanns-Eberhard Schleyer und der Lufthansa-Pilot Jürgen Vietor legen sich die Dinge ziemlich grobschlächtig zurecht, in dem sie Studentenbewegung, RAF und Terror zu einem Brei verrühren. Dieser „eingeschränkte Blick“ (Claudia Hillegaart, Tochter des 1975 ebenfalls in Stockholm ermordeten Diplomaten) ist rustikal und durchsichtig politisch eingefärbt. Für Schleyer sind Joschka Fischer, „die“ Intellektuellen und insbesondere Mitscherlich, Adorno und Marcuse immer noch „die geistigen Väter der Studentenbewegung“ und damit für ihn auch des Terrors.

Man muss Joschka Fischer nicht mögen, aber er hat 1976 mit einer Rede in Frankfurt viele der Leute aus der „Turnschuhfraktion“ – die Spezialisten im Schaufensterscheibenplattmachen – nachweislich davon abgehalten, sich zu bewaffnen und abzutauchen. Fischer sah darin nur den „Weg in die Selbstvernichtung“. Den RAF-Leuten warf er vor, sie handelten „wie Techniker, wie Soldaten, wie ein Stoßtrupp im Feindesland“, also unpolitisch und gebannt von „blindem Aktionismus“. Vor seinen Schlusssätzen braucht Fischer, anders als von seiner Außenpolitik, auch heute nicht wegzulaufen: „Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im Untergrund gehört, weil wir uns mit ihnen so eng verbunden fühlen, fordern wir sie von hier aus auf, Schluss zu machen mit diesem Todestrip, runterzukommen von ihrer bewaffneten Selbstisolation, die Bomben wegzulegen und die Steine, und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint, wieder aufzunehmen.“ Die Angehörigen hoffen wohl vergeblich darauf, dass eine oder einer der Haftentlassenen etwas Vergleichbares tut und „einen klugen Appell“ (Corinna Ponto) an jene richtet, die glauben, auf die Gewalt setzen zu müssen.

Annes Siemens’ 30-seitiges Vorwort „Zur Geschichte der RAF“ sollte der Leser ignorieren. Es handelt sich um Prosa, die nur nur die schmale historische Grundausstattung der Autorin belegt. Auch hier geistern Adorno, Horkheimer und Marcuse als Väter von „Umsturzphantasien“ herum; aber das Wort „große Koalition“ – außer Vietnam und den Notstandsgesetzen der wichtigste Impuls der Studentenbewegung – kommt darin gar nicht erst vor.

Anne Siemens: „Für die RAF war es das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus“. Piper Verlag, München 2007, 287 Seiten, 19,90 Euro