„Sie hätte ihr Leben verneinen müssen“

Siegfried Fleiner, der langjährige Seelsorger der ehemaligen RAF-Kämpferin Brigitte Mohnhaupt, spricht über die Forderung nach einer öffentlichen Entschuldigung. Die freigelassene Exterroristin habe im Gefängnis überhaupt nicht bereuen können

SIEGFRIED FLEINER, 75, war 15 Jahre Seelsorger von Brigitte Mohnhaupt. Sie hat ihn viermal besucht.

INTERVIEW DANIEL SCHULZ

taz: Herr Fleiner, Frau Mohnhaupt ist frei. Was wird sie jetzt tun?

Siegfried Fleiner: Über ihre Zukunft hat sie mit mir nicht gesprochen. Und ich bin auch überzeugt, dass sie nicht will, dass ihre Pläne in aller Öffentlichkeit breitgetreten werden. Sie hat ihre Strafe abgesessen. Sie war 24 Jahre im Gefängnis, das ist eine unvorstellbar lange Zeit. Brigitte Mohnhaupt hat ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden.

Wie hat Frau Mohnhaupt die lange Zeit im Gefängnis verarbeitet?

Sie wollte diese Zeit ungebrochen überstehen, sie hat einen unbedingten Überlebenswillen. Ich habe mich selbst immer wieder gefragt, wie ein Mensch eine so lange Zeit im Gefängnis überstehen kann. Sie konnte es, weil sie eine gestandene Persönlichkeit ist. Sie weiß, was sie will, und sie wollte diese 22 Jahre in Aichach überleben. Sie wollte das Gefängnis ungebrochen verlassen.

Heißt das: Sie wollte ihre Taten nicht bereuen?

Ich meinte das nicht politisch. Sie wollte das Gefängnis als intakter Mensch verlassen, der danach fähig ist, weiterzuleben.

Brigitte Mohnhaupt wurde in vielen Zeitungen aufgefordert, Reue zu zeigen. Haben die Angehörigen der RAF-Opfer nicht ein Recht darauf?

Für die Gefühle der Opfer habe ich sehr großes Verständnis. Aber die Kampagne in den Medien gegen die Mitglieder der RAF war einfach nur sensationslüstern. Die Angehörigen wurden durch diese Kampagne geradezu gedrängt, unrealistische Forderungen an Frau Mohnhaupt zu stellen.

Was ist an der Forderung nach Reue unrealistisch?

Frau Mohnhaupt hat ihre Taten für die RAF aus ideologischen Gründen begangen. Und eine Ideologie kann man im Gefängnis nicht bereuen. Das hätte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, weil sie dann vor sich selbst hätte zugeben müssen, dass all die Jahre im Gefängnis umsonst gewesen sind. Sie konnte das aus reinem Selbsterhaltungstrieb nicht tun. Sie hätte ihr ganzes Leben verneinen müssen, das hätte einen Fall ins Bodenlose bedeutet.

Wird sie in Freiheit bereuen?

Ich bin kein Hellseher. Aber ich kann mir vorstellen, dass Frau Mohnhaupt sich in einigen Jahren entschuldigt. Sie muss erst einmal selbst wieder Boden unter den Füßen haben, um so etwas in Erwägung zu ziehen. Erst wenn ihr eigener Standort nicht mehr über die Zeit im Gefängnis definiert ist, wenn sie tatsächlich ein neues Leben angefangen hat, kann sie ihre Taten bereuen. Derzeit ist die RAF für sie immer noch Gegenwart, es muss ein wenig mehr Vergangenheit werden.

Worüber haben Sie im Gefängnis eigentlich mit Frau Mohnhaupt gesprochen?

Ich war lange Zeit Pfarrer in Guatemala, also haben wir sehr viel über die Situation in der Dritten Welt gesprochen. Das hat sie immer sehr interessiert. Wir redeten auch über die politischen Bewegungen, die nach den 70er-Jahren entstanden sind, insbesondere über die Friedensbewegung. Daneben ging es aber auch um ganz normale Dinge des Alltags. Sie sprach mit mir oft über ihre Katze, die sie sehr gern hatte. Die durfte auf dem Gelände des Gefängnisses herumlaufen und hatte eine kleine Treppe in ihr Zimmer.

Sie sind Seelsorger. Welche Rolle spielte Gott in den Gesprächen?

Keine. Das Interesse war nicht da. Und ich habe mich eher als menschlichen Begleiter gesehen, weniger als religiösen.

Und wie haben Sie Brigitte Mohnhaupt kennengelernt?

Nach ihrer Verurteilung nahmen sich mehrere Jesuiten einiger Mitglieder der RAF an. Als Frau Mohnhaupt in die Haftanstalt Aichach kam, fragte mich einer der Jesuiten, ob ich mich um sie kümmern könnte. Und das habe ich getan.

Andere ehemalige RAF-Mitglieder haben künstlerische Berufe ergriffen, sind Autoren oder Filmemacher geworden. Wünschen Sie sich das auch für Frau Mohnhaupt?

Ich glaube nicht, dass es ihrem Wunsch entspräche, so etwas zu machen. Ich wünsche mir, dass sie in Ruhe von vorn anfangen kann. Ich hoffe, dieser Wunsch bleibt keine Illusion.