Wir sind Murat Kurnaz

NAVID KERMANI, 39, Schriftsteller, Orientalist und Islamwissenschaftler, lebt in Köln. Soeben ist im Ammann Verlag sein Roman „Kurzmitteilung“ erschienen. Der mehrfach ausgezeichnete Publizist ist u. a. Träger des Ernst-Bloch-Förderpreises.

Dieser Bart. Und die Haare. Dazu diese Strähne über der Stirn, die wahrscheinlich einfach nur eine Strähne ist, aber aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich wegen der wüsten Frisur, fettig wirkt oder schweißnass. Vor allem aber dieser Bart, dieser unglaubliche Bart, länger und krauser als der Bart von … von … – und schon ist die Assoziation da, obwohl dessen Bart doch ganz anders aussieht, im Vergleich geradezu gepflegt: länger und krauser als der Bart von Bin Laden. Nein, sein Äußeres ist nicht dazu angetan, Murat Kurnaz Sympathien einzubringen in seiner deutschen Heimat. Und doch ist es eben dieser bärtige junge Mann mit den zotteligen Haaren, an dessen Geschichte abzulesen sein wird, was unsere Werteordnung uns wirklich gilt. Wir sind Murat Kurnaz.

Rechtsstaaten bieten keine Gewähr, dass in ihnen alles nach Recht und Gesetz vor sich geht. Aber sie sollen garantieren, dass Rechtsbrüche geahndet werden und Rechtsopfern Gerechtigkeit widerfährt. Vor ihrem Gesetz und nur vor ihrem Gesetz sind alle Menschen gleich, der Bundespräsident und der mutmaßliche Extremist. Murat Kurnaz muss niemandem sympathisch sein. Sympathie darf überhaupt keine Rolle spielen. Er hat Rechte, Menschenrechte, die nicht verhandelbar sind und nicht abhängen von seinem Aussehen, seiner Religion oder seiner Reiseroute. Schon die Vorstellung, dass ein ethnischer Deutscher oder, sprechen wir es doch aus, ein Blonder oder ein Christ mit dem faktischen Einverständnis der deutschen Behörden unschuldig in Folterhaft bleibt, ist abwegig. Im Falle eines Bremers mit türkischem Pass ist sie es nicht mehr.

Der Staat und zuoberst jener Repräsentant, der heute endlich im Untersuchungsausschuss des Bundestages auftreten wird, hat rassistisch gehandelt. Das geschieht und wäre allein noch kein Grund, das Funktionieren des Rechtsstaates in Frage zu stellen. Nur kommt es darauf an, welche Konsequenzen das hat für die, die im Namen Deutschlands dazu beigetragen haben, dass einem Menschen fünf Jahre lang seine elementaren Rechte vorenthalten worden sind. Es kommt auf Tage wie diesen an.

Es sind vor allem zwei Argumente, mit denen sich die damals verantwortlichen Politiker und Beamten verteidigen: Kurnaz sei ein Sicherheitsrisiko gewesen. Und er sei kein Deutscher. Das erste Argument stimmt: bis zum Jahr 2002. Der Anfangsverdacht gegen Kurnaz war berechtigt. Selbst sein Anwalt bestreitet das nicht. Aber nicht einmal unter Folter konnte irgendein Indiz ermittelt werden, dass Kurnaz über Verbindungen zu militanten Islamisten verfügt hätte. Das heißt, seit dem Jahr 2002 war Murat Kurnaz kein Sicherheitsrisiko mehr. Seine Inhaftierung erst in Afghanistan, dann in Guantanamo Bay war nicht nur unrechtmäßig, sondern spätestens seit dem Jahr 2002 auch unbegründet.

Und selbst wenn Kurnaz der Extremist wäre, für den die deutschen Behörden ihn anfänglich gehalten haben: Macht nicht genau das den Rechtsstaat aus, dass er auch die rechtsstaatlich behandelt, die ihn bekämpfen? Stattdessen wurde Kurnaz von deutschen Beamten zunächst denunziert, später mehrfach verhört und nach eigenen Aussagen, die von fast allen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses als glaubwürdig eingestuft worden sind, geschlagen und beleidigt. Das ist ein Vorgang, der für sich schon so ungeheuerlich ist, dass er genügen sollte, um alle damals Beteiligten ein für alle Mal aus den Ämtern zu jagen. Schülerstreiche sind im Vergleich dazu alle Affären der letzten Jahre, die zu Rücktritten von Politikern geführt haben.

Das zweite Argument, das Sozialdemokraten zur Verteidigung ihres Außenministers vorbringen, ist Kurnaz’ türkische Staatsbürgerschaft. Womöglich haben sie juristisch recht, dass Deutschland nicht verpflichtet war, Kurnaz wieder einreisen zu lassen, obwohl er in Bremen geboren wurde (ob es auch noch korrekt war, bei den amerikanischen Kollegen um seinen Pass zu bitten, um die Aufenthaltsgenehmigung herauszureißen, steht auf einem anderen Blatt, das Frank-Walter Steinmeier sicher gern aus den Akten herausreißen würde). Aber selbst wenn Kurnaz ein Chinese wäre mit Wohnsitz in Kenia, wäre von den deutschen Behörden zu erwarten gewesen – wenn sie denn die Möglichkeit haben und sogar die Angebote, wie konkret formuliert auch immer, vorliegen –, dass sie sich um ein Ende der rechtswidrigen Inhaftierung bemühen. Stattdessen haben sie bis hin zur Beugung des geltenden Ausländerrechtes alles dafür getan, seine Rückkehr nach Deutschland zu verhindern. Dass Kurnaz damit weiter in der Rechtlosigkeit des amerikanischen Gefangenenlagers blieb, war ihnen klar. Es ist keine Aussage vermerkt, dass dies einem der damals Verantwortlichen auch nur unangenehm gewesen wäre.

Überhaupt das Argument des deutschen Passes – als ob er Murat Kurnaz als mutmaßlichen islamischen Extremisten genützt hatte. Khaled El Masri ist Deutscher. Der Beistand, den Deutschland ihm geleistet hat, bestand offenbar aus Schlägen ins Gesicht. Auch Mohammad Zammar ist Deutscher, und dennoch ist nicht bekannt, dass sich die deutschen Behörden besonders intensiv bemüht hätten, ihn vor syrischer Folter zu bewahren. Im Gegenteil: Dokumente von CIA und FBI bestätigen den Verdacht, dass die entscheidenden Informationen, die zu seiner Entführung durch amerikanische Agenten führten, aus Deutschland stammten. Auch Zammar wurde von deutschen Beamten unter Bedingungen, die aller Rechtsstaatlichkeit spotten, verhört. Der inzwischen vierundsiebzigjährige Abdel-Halim Khafagy wiederum ist Ägypter, lebte aber schon 27 Jahre unbehelligt in Bayern, hat mehrere deutsche Kinder und ist anders als Zammar eines der Beispiele, die Politiker gern als gelungene Integration bezeichnen. Am 27. September 2001 wurde er in ein geheimes Gefängnis im bosnischen Tuzla verschleppt und nach Aussagen von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes schwer misshandelt. Ein BND-Mitarbeiter nahm in Tuzla von den amerikanischen Kollegen Unterlagen entgegen, die teilweise mit dem Blut von Khafagy befleckt waren. Die Hilfegesuche seines Anwalts hingegen lehnten die deutschen Behörde ein ums andere Mal ab.

Ach, noch ein Argument fällt auf, das die Sozialdemokraten zu ihrer Verteidigung heranziehen: Gerade jenen aus der Union, die heute den Außenminister anklagen, sei damals keine Maßnahme weit genug gegangen in der Bekämpfung des Terrorismus. Das mag zwar sein. Ein Jahr nach dem 11. September wäre die Bundesregierung sicherlich von der christdemokratischen Opposition attackiert worden, hätte sie den „Bremer Taliban“ nach Deutschland einreisen lassen. Aber immerhin: Es ist mit Angela Merkel eine Christdemokratin gewesen, die innerhalb kürzester Zeit erwirkt hat, was zuvor fünf Jahre lang angeblich absolut unmöglich und unverantwortlich war, nämlich die Rückkehr von Murat Kurnaz.

Wenn Heuchelei im Spiel ist, dann eher bei manchen Medien, die seinerzeit mit ihren reißerischen Berichten über den Bremer Taliban im speziellen und Warnungen vor dem Islam im Allgemeinen jene Stimmung mit erzeugt haben, wegen der die Behörden Angst hatten vor der Einreise von Murat Kurnaz. Aber so sind nun einmal Medien: Sie schüren das Ressentiment oder spiegeln es wider. Das gehört zum Geschäft, schließlich ist Aufklärung auch am Kiosk selten ein Kaufmagnet. Ebenso normal sind die Vorbehalte gegen Muslime, zumal angesichts der realen Gefahr islamistischer Anschläge. Ressentiment gehört zu Gesellschaften. Was fremd ist, ist für die meisten eine Bedrohung und wird nur von einer Minderheit als Bereicherung empfunden. Niemandem kann vorgeschrieben werden, Muslime zu mögen. Man darf sie für schrecklich halten. Man darf schreiben, dass sie schrecklich sind oder ihren Propheten beleidigen. Auch das macht die Freiheit aus und gehört zu den Privilegien, aus denen die Muslime selbst als Minderheit Nutzen ziehen. Aber – und das ist der entscheidende Unterschied zwischen gesellschaftlicher Meinung und staatlichem Handeln – der Staat darf sich mit dem Ressentiment nicht gemein machen. Er muss an dem Gleichheitsprinzip auch dann und erst recht dann festhalten, wenn die gesellschaftliche Stimmung eine andere ist.

Dass Muslime in Deutschland der Rasterfahndung unterliegen oder bei der Einreise nach Deutschland aus der Reihe gewunken werden, das ist nicht schön, das kann man auch für falsch halten – aber es ist durch Gesetze gedeckt und zumindest nachvollziehbar. Schließlich geht die Gefahr von Terroranschlägen eher von jungen muslimischen Männern aus als von älteren jüdischen Damen. Zur Verhinderung von Anschlägen gehen auch Demokratien bis an die Grenzen dessen, was rechtsstaatlich vertretbar ist. Wo die Grenze liegt, darüber befinden im Zweifel Gerichte. Die Fälle Kurnaz, El Masri, Zammar und Khafagy hingegen liegen jenseits von allem, was auch nur entfernt mit dem Geiste und Buchstaben des Grundgesetzes zu vereinbaren wäre. Deshalb sind sie ungleich beunruhigender als etwa das Gezänk um die Moscheen, wo immer sie erbaut werden sollen. Letzteres vergeht oder vergeht nicht. Es ist ein Problem für die Muslime. Hier aber hat der Staat sich an oberster Stelle an der Verletzung elementarer Menschenrechte beteiligt. Das ist ein Problem für Deutschland. Würde das Schule machen, wäre die vielbeschworene Werteordnung stärker erschüttert, als es ein Terrorist je vermöchte.

Auch für die Integration von Migranten in Deutschland wären die Folgen verheerend. Wie, bitteschön, sollte denn künftig ein junger Deutscher türkischer oder arabischer Abstammung davon überzeugt werden, dass er kein Bürger zweiter Klasse ist? Und um in diesem Zusammenhang noch einmal auf das Stichwort Heuchelei zu kommen: Völlig zu Recht wird die Frankfurter Richterin, die im Gerichtsaal den Koran herangezogen hat, kritisiert. Aber jene, die sich am lautesten über diesen Skandal und den Verrat an westlichen Werten erregen, sind am leisesten, nein, schweigen konsequent zu Rechtsopfern wie Murat Kurnaz.

Vielleicht unterscheidet sich die rechtliche Bewertung in den Fällen, in denen das Opfer eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Der internationale Haftbefehl gegen die Entführer Khaled El Masris ist ein starkes Indiz dafür, dass die deutsche Justiz noch weitgehend immun ist gegen den Virus, den der sogenannte Krieg gegen den Terror freigesetzt hat: die liberale Ordnung zu verteidigen, indem man sie aufgibt. Aber eine Regierung, schon gar eine, die sich außenpolitisch den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und innenpolitisch die Integration von Migranten auf die Fahne geschrieben hat, unterliegt auch einer politischen und moralischen Bewertung. Diese fiele schon weitaus milder aus, wenn den damals Beteiligten irgend ein Zeichen des Bedauerns von den Lippen abzulesen sein würde. Wieso sind die Herren Steinmeier und Schily nicht einmal nach Bremen gefahren, um Murat Kurnaz und seine Mutter zu besuchen? Sie hätten ihnen die dramatischen Umstände jener Monate nach dem 11. September erklären können. Sie hätten sagen können, dass sie sich im Nachhinein falsch, aber unter den damaligen Umständen vielleicht doch nicht ganz ohne Grund so verhalten haben, wie sie es getan haben. Frank-Walter Steinmeier ist niemand, der auf Beobachter und Freunde den Eindruck von Hartherzigkeit macht. Hätte er sich erklärt, von Angesicht zu Angesicht – Rabiye und Murat Kurnaz hätten sich dem Gespräch und dem versöhnlichen Foto für die Presse kaum verweigert. So groß sind ihre Erwartungen doch nicht. Aus ihren Äußerungen ist bislang mehr Ratlosigkeit und Schmerz zu entnehmen als Wut und Anklage.

Ein Wort des Mitleids hätte ihr Leid nicht wiedergutgemacht und doch den gesamten Fall in ein anderes Licht gerückt. Aber nichts. Der ehemalige Innenminister Otto Schily trieb die Unverfrorenheit auf die Spitze, als er in einem Interview erklärte: Wenn überhaupt jemand, solle Kurnaz sich gefälligst entschuldigen. Auch alle übrigen Beteiligten versichern, sich absolut korrekt verhalten zu haben und sich unter vergleichbaren Umständen jederzeit wieder so zu verhalten. Schlimmer noch: Sie verfolgen eine vierte Argumentationslinie zu ihrer Verteidigung, die widerlichste: die fortgesetzte und systematische Kriminalisierung von Murat Kurnaz. So einer, der muss doch Dreck am Stecken haben. Dass die Strategie der Verantwortlichen und der Bild-Zeitung, aus dem Opfer einen Täter zu machen, bei Teilen der Bevölkerung aufgeht, dürfte auch mit seinem Aussehen zu tun haben. Womit wir wieder beim Bart sind.

Man braucht keine Fantasie, um sich auszumalen, wie sein wackerer Anwalt, seine verschreckte Mutter, vielleicht sogar besorgte Talkshow-Redakteure ihm vorsichtig oder energisch zugeredet haben, doch bitte zum Friseur zu gehen, bevor er an die Öffentlichkeit tritt. Murat Kurnaz hat sich geweigert. Vielleicht liegt dieser Weigerung gar keine Starrsinnigkeit zugrunde. Vielleicht handelt er viel rationaler, als es den Anschein hat. Wenn alles vorbei ist, wenn Murat Kurnaz keinen Untersuchungsausschuss mehr beschäftigt und durch alle Talkshow getingelt ist – vielleicht rasiert er sich dann den Bart ab, um wieder unbehelligt auf die Straße gehen zu können. Die wilden Haare wären dann nur eine Tarnung gewesen, und bald sähe Murat Kurnaz wieder aus wie, nun ja, nicht wie der Durchschnittsdeutsche, aber mit glattrasierten Wangen und modischer Frisur wie einer von uns. Nur werden wir ihn dann nicht mehr erkennen.