berliner szenen Kings Sohn liest

Ersteigerte Heimsuchung

Der tote alte Mann hat schiefe, fleckige Zähne und eine schwarze Zunge; dort, wo bei anderen Leuten die Augen sitzen, flackern in seinem Gesicht schwarze Pinselstriche. Dieser Geist ist genau so gemein, wie er aussieht, und er wird Judas Croyne per UPS ins Haus geliefert. Der alternde Rockstar hat ihn im Internet ersteigert, denn er sammelt alles, was makaber ist – gebrauchte Galgenschlingen, Kochbücher für Kannibalen und dergleichen.

Man darf vermuten, dass Croynes Wohnzimmer ähnlich dekoriert ist wie das White Trash, wo bekanntlich ausgestopfte Füchse und andere Geisterbahn-Accessoires herumhängen – ein denkbar passendes Ambiente für die Lesung von Joe Hill am Samstagabend. Dem 35-jährigen jungenhaften Autor samt Gymnasiastenbrille und Pilzkopf hätte man indes sein bisweilen blutrünstiges Debüt „Blind“ gar nicht zugetraut – auch wenn er der Sohn von Thrillerkönig Stephen King ist. Brav trug er Passagen vor, eine Hand stets hinter den Rücken gelegt, so wie er einst seine High-School-Referate gehalten haben mag.

Mit dieser Streberhaftigkeit bot er den reizvollsten Kontrast zu den glitzernd gestylten Hamburger Glam-Gothic-Rockern von Big Boy, die das musikalische Begleitprogramm bestritten. Auch neben einigen schwarz gewandeten Gestalten im Publikum muss Hill sich ohne zwei Zentimeter dicken Lidstrich ein wenig verloren gefühlt haben. Und während der Geist Judas Croyne immer ärger behelligte, fragte man sich bei der kurzweiligen Lesung permanent, wo dieser schlaksige Amerikaner eigentlich seine herrlich abgründigen Horrorfantasien hernimmt. Vielleicht aus seinem dichten schwarzen Vollbart, dem Vermächtnis seines Herrn Vaters.BRIGITTE PREISSLER