„Ich muss als Jude nicht für Israel sein“

Alfred Grosser, geboren 1925 in Frankfurt am Main, emigrierte als Kind mit seiner jüdischen Familie 1933 aus Nazi-Deutschland, seit 1937 besitzt er die französische Staatsbürgerschaft. Als Politikwissenschaftler, Publizist und politischer Kolumnist französischer Zeitungen sowie als Autor zahlreicher Bücher setzte er sich seit den 60er-Jahren für die Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen ein. Zuletzt erschien von ihm: „Wie anders ist Frankreich?“

Grosser erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1975 den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ sowie 2004 den Preis des Abraham-Geiger-Kollegs der Rabbinerausbildung in Potsdam. In der Zeitschrift Internationale Politik erschien kürzlich von ihm der Beitrag „Warum ich Israel kritisiere“, der viel Aufmerksamkeit erregte. In der taz von gestern kritisierte ihn Micha Brumlik.

INTERVIEW STEFAN REINECKE
und DANIEL BAX

taz: Herr Grosser, Sie haben sich jüngst mit scharfer Kritik an Israel zu Wort gemeldet. Warum?

Alfred Grosser: Ich trage meine Kritik an der israelischen Besatzungspolitik schon lange vor. Neu ist, dass ich dafür in Frankreich und Deutschland heftig des Antisemitismus angeklagt werde. Man sagt mir: Sie sind Jude, und als Jude müssen Sie für Israel sein. Das finde ich grundsätzlich falsch.

Micha Brumlik (taz vom 3. April) meint, als französischer Staatsbürger hätten Sie leicht reden. Wenn Sie in Israel leben würden, dann würden Sie die Dinge anders sehen.

Gerade weil ich überzeugter französischer Staatsbürger bin, war ich schon während des Algerienkrieges gegen die Folter und die Zerstörung von Dörfern im Namen Frankreichs. Ein französischer Minister sagte damals: „Wenn die Attentate aufhören, stoppen wir auch die Repression.“ Das Gleiche hört man heute von israelischen Politikern. Ich war damals auf der Seite des Erzbischofs von Algier, der sagt: Jeder Unschuldige, der getötet wird, jedes Dorf, das zerstört wird, bringt neue Terroristen hervor. Ich verstehe nicht, wie man diesen Zusammenhang heute übersehen kann. Allerdings habe ich nie für ein „Rückkehrrecht“ der Palästinenser plädiert, wie Brumlik behauptet. Sonst würde ich auch nicht seit einem Vierteljahrhundert gegen jeden solchen Anspruch der deutschen Vertriebenenverbände kämpfen.

Sieht sich Israel denn nicht einer besonderen Bedrohung ausgesetzt?

Meiner Meinung nach: nein. Israel existiert. Aber einen lebensfähigen palästinensischen Staat wird es nicht geben, so lange Israel sich nicht aus den Palästinensergebieten zurückzieht und dort mehr zulässt als ein paar Homelands ohne jede territoriale Kontinuität. Dazu müssen die Siedlungen aufgelöst und eine Zweitstaatenlösung angestrebt werden. Israel muss verstehen, dass es nicht allein mit militärischer Stärke regieren kann.

Da ist aber auch noch der Iran, der Atomwaffen anstrebt und dessen Präsident sich einer antisemitischen Rhetorik bedient. Das wird von manchen als existenzielle Bedrohung Israels empfunden …

Ja, und wie beantwortet man diese Bedrohung? Nur mit militärischer Stärke? Es wäre klug, wenn Israel Palästina befrieden würde: auch, um dieses Feindbild zu beseitigen. Anstelle dessen baut Israel die Mauer, die das Leben in den besetzten Gebieten unmöglich macht.

Können Sie die Angst der Israelis vor der Hamas und dem Iran nicht nachvollziehen?

Doch, das kann ich. Aber trotzdem kann man nicht einerseits freie Wahlen in Palästina zulassen – und wenn einem der Sieger nicht passt, erkennt man das Resultat nicht an. Vor allem aber: Wäre das Wahlergebnis nicht anders ausgefallen, wenn Israel die Menschen in Gaza nicht eingesperrt und ausgehungert hätte?

Die „independent jewish voices“ in England, die „Berliner Erklärung“ jüdischer Intellektueller in Deutschland: Unter Juden in Europa nimmt die Kritik an Israel zu, der Ton wird schärfer. Warum gerade jetzt? Die Intifada ist doch vorbei …

… aber das Elend der Palästinenser ist noch immer da, und es wächst im Schatten der Mauer noch. Europa hat nicht protestiert, als Israel in Gaza systematisch die Infrastruktur zerstört hat, die dort mit EU-Geld aufgebaut worden war. Oder als Israel die Elektrizitätswerke im Libanon zerstört hat. Das ist eine Politik der Verachtung. Ich bin als kleiner Jude in Frankfurt verachtet worden – und ich kann die Politik der Verachtung vonseiten Israels nicht akzeptieren.

Der arabische Antisemitismus würde nicht verschwindenauch wenn Israel Palästina morgen als gleichberechtigten Nachbarstaat anerkennen würde.

Das ist richtig. Es gibt einen islamischen Antisemitismus. Und es gibt arabische Karikaturen, die in dem Naziblatt Der Stürmer hätten erscheinen können. Aber wie reagiert man darauf am besten? Das beste Mittel, um zu verhindern, dass sich dieser Virus noch weiter ausbreitet, ist eine andere, verständigere Palästina-Politik durch Israel …

Jetzt spielen Sie den Ball wieder ins israelische Feld …

Nein, nein. Aber Repression ist das falsche Mittel. Es befördert genau das, was man fürchtet: Je mehr Unterdrückung, Kränkungen und Enteignungen sie erleiden, desto mehr wachsen Hass, Verzweiflung und die Bereitschaft zu Selbstmordattentaten. Das ist doch elementar!

In Frankreich gab es vor zwei Jahren antijüdische Übergriffe, auch auf Kindergärten und Synagogen. Scharon hat damals gesagt, in Israel seien Juden sicherer als in Frankreich.

Das war Quatsch. Das hat niemand ernst genommen.

War die Erkenntnis, dass es in Frankreich handfesten Antisemitismus gibt, nicht sehr schmerzhaft?

Nein, den hat es immer gegeben. Ich bin sicher, dass wenn nicht Ségolène Royal, sondern Dominique Strauss-Kahn für die Sozialisten kandidiert hätte, er ein paar hunderttausend Stimmen weniger bekommen hätte – nur aufgrund seines Namens.

Jüdische Intellektuelle wie Alain Finkielkraut und André Glucksmann haben die Krawalle arabischstämmiger Jugendlicher in der Banlieue zu einer Art ethnisch-religiöse Intifada erklärt. Hatten sie Recht?

Finkielkraut und Glucksmann haben sich über die Krawalle empört und sie zu einem religiösen Aufstand erklärt – was nicht stimmte, weil die gläubigen Muslime sich gerade eher nicht daran beteiligt haben. In Frankreich hat man sich allerdings daran gewöhnt, dass Finkielkraut und Glucksmann empört sind. Andere prominente jüdische Franzosen hingegen haben damals einen Text unterschrieben, der soziale Gründe für die Krawalle verantwortlich machte – nämlich die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher. Die Jugendlichen haben mit den Krawallen außerdem gezeigt, dass sie wissen, wie Frankreich funktioniert.

Warum?

Weil man es mit Gesetzlosigkeit in Frankreich leider weit bringt. Wenn Lkw-Fahrer protestieren, dann streiken sie nicht nur und lassen ihre Lkws in der Garage – nein, sie besetzen illegal Straßen. Wenn protestierende Bauern Sachschäden anrichten, werden sie nicht bestraft, denn man will ja den Frieden nicht riskieren. Wer Gewalt anwendet, erringt Aufmerksamkeit: Das haben die Migrantenjugendlichen nachgemacht – und prompt flossen die Gelder wieder.

Der muslimische Intellektuelle Tarik Ramadan hat Finkielkraut & Co. vorgeworfen, partikularistisch zu argumentierennämlich stets von ihrer Warte als Juden aus. Er hat damit eine heftige Debatte provoziert. Was haben Sie davon gehalten?

Tarik Ramadan ist eine etwas undurchsichtige Figur, aber in diesem Punkt hatte er Recht. Genau das kritisiere ich auch. Es gibt in Frankreich nicht nur antisemitische Übergriffe, sondern auch viele antiarabische Übergriffe, die allerdings nicht so im Rampenlicht stehen. Wenn Moscheen angegriffen werden, dann protestieren die offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinde keineswegs immer dagegen. Das ist falsch. Ich glaube, man sollte das Leiden der anderen teilen und nicht nur auf das eigene schauen. Das Gegenteil tut Glucksmann, der vermutlich auch deshalb für den konservativen Präsidentschaftskandidaten Sarkozy votieren will – weil Sarkozy als „besser für die Juden“ gilt.

Warum das ?

Sarkozy war in Israel – und, anders als die sozialistische Kandidatin Ségolène Royal, hat er dort nur Israelis getroffen, keine Palästinenser. Ich lehne es vollkommen ab, nach solchen Kategorien zu wählen. Ich wähle als Franzose, nicht als Jude.

Wählen französische Juden denn als Interessengruppe?

Nein, interessanterweise überhaupt nicht. Alle Wahlforschungen haben ergeben: Es gibt keine größere jüdische Wählerschaft; das „vote juif“ existiert nicht. Zumal die 600.000 jüdischen Franzosen keine Einheit sind: Viele sind Migranten aus Nordafrika, andere schon lange Franzosen. Kurzum: Die jüdischen Franzosen wählen als Lehrer, Bankiers, Bauarbeiter – nicht als Juden. Das partikularistische Denken schafft den Juden als Wähler erst.

Verstehen Sie, warum jemand wie der Exmaoist André Glucksmann nun für den rechten Sarkozy votiert?

Glucksmann ist nicht so interessant – interessant ist die Frage, wer Sarkozy eigentlich ist. Ist er ein Rechter? Manchmal ja, manchmal nein. Sarkozy, Kind eines ungarischen Vaters und einer griechischen Mutter, sagt: „Ich liebe mein Vaterland Frankreich genauso, wie es die italienischen Emigranten tun.“ Und er hat mal zu Le Pen gesagt: „Wenn es nach Ihnen ginge, wäre ich gar kein Franzose. Das wäre ein schwerer Verlust für Frankreich.“ Das ist richtig. Genau das Gleiche sage ich überheblicherweise auch von mir seit Jahrzehnten.

Welchen Kandidaten wollen Sie denn wählen?

Ich denke, dass eine Politik des Ausgleichs nötig ist, ebenso wie die Zusammenarbeit von gemäßigten Rechten und Linken. Dafür steht Bayrou. Millionen Franzosen haben die Nase voll von diesem Rechts-links-Spiel – vor allem, weil Linke und Rechte an der Regierung dann doch genau die gleiche Politik machen. Keiner hat etwa so viel privatisiert wie der Sozialist Laurent Fabius, der heute Inbegriff der Linken sein will. Ich gestehe, dass ich einer dieser Millionen bin.