Künstler, Bauern, Gegner

Im Wendland lebt eine einmalige Mischung von Menschen. Jedes Jahr von Himmelfahrt bis Pfingsten stellt sich die Region aus. Die Bewohner vereint der Protest gegen das dortige Atommüllendlager

„Wer bei der Landpartie ausstellen will, muss in der Region wohnen und gegen das Atomlager in Gorleben sein“

VON ANNETTE JENSEN

Ein hoher Zaun begrenzt das lang gestreckte Asphaltfeld. In den Boden eingelassene Bahnschienen führen auf einen grünen Bunker zu. Eine Kamera beobachtet die Straße: Weit und breit ist kein Auto in Sicht. Jetzt aber müssten ein paar Fußgänger irgendwo auf einem Bildschirm auftauchen, die gerade an einer Streuobstwiese vorbeilaufen und dann vor dem Zaun stehen bleiben. „Da drinnen ist der Castor-Kran. Der ist so gut gesichert, damit ihn keiner wegträgt“, sagt Siegmund Schmaggel. Ein paar Spatzen streiten im Buschwerk. Sonst ist alles friedlich.

In nasskalten Novembernächten kommt es genau an dieser Stelle immer wieder zu Auseinandersetzungen. Dann ist hier alles in gleißend helles Licht getaucht, und vor und hinter dem Zaun stehen dicht an dicht Uniformierte, die die Verladung der Castor-Behälter mit Atommüll auf Laster bewachen, erzählt Schmaggel – und schaut dann auf die Uhr: Etwa zehn Minuten sind sie jetzt unterwegs. Zusammen mit einer Nachbarin probt er einen Dorfspaziergang zum Thema Energieversorgung in Breese in der Marsch. Auf den wollen sie Besucher der „kulturellen Landpartie“ mitnehmen, die hier im Wendland jedes Jahr von Himmelfahrt bis Pfingsten stattfindet und mittlerweile etwa 60.000 Besucher in die Region lockt. In vielen Dörfern gibt es dann sogenannte Wunderpunkte – Kunst und Kultur, bei denen Werkstätten, Ateliers und sogar viele Wohnzimmer den Neugierigen offenstehen.

Schmaggel und acht Mitstreiter aus seinem Dorf sind zum ersten Mal dabei – und ein bisschen aufgeregt, ob überhaupt jemand zu ihnen kommen wird. „Wir sind ja keine Künstler hier, allenfalls Lebenskünstler“, sagt der Mann mit dem grauschwarzen Schopf, der als Bauernsohn aufgewachsen ist und nun sein Geld hinterm Steuer eines Lkw verdient. Nicht nur die Atommüllverladestation wollen sie den Gästen zeigen, sondern auch die Photovoltaikanlage vom Schreiner, das Niedrigenergiehaus und die beiden Biogasanlagen, von der die modernste ausgerechnet einem CDU-Mann gehört, wie Schmaggel lachend betont. Vor seiner Scheune steht ein gelbes Lattenkreuz in Form eines X – das landkreisweite Erkennungszeichen der Menschen, die sich beim Atommüll querstellen. Drinnen gibt es eine Fotoausstellung zum Thema „Idyll und Stacheldraht“, und nachts um elf wird in dem 250-Einwohner-Dorf sogar noch ein Spätfilm laufen.

Die Nachbarn sind schon alle darauf vorbereitet, dass ein paar Tage lang alles zugeparkt sein könnte auf der ansonsten fast autofreien Allee, die schnurgerade zwischen den stattlichen Fachwerkhöfen verläuft. Doch viele Besucher der kulturellen Landpartie sind sowieso mit dem Rad unterwegs. Die von den letzten beiden Eiszeiten geprägte Landschaft südwestlich der Elbe ist flachhügelig; die kompakten, oft winzigen Dörfer mit so skurrilen Namen wie Kröte, Püggen oder Waddeweitz liegen meist nur drei bis vier Kilometer auseinander. Um die gastronomische Versorgung braucht man sich während der „fünften Jahreszeit“ im Wendland keine Sorgen zu machen; überall gibt es in den Gärten und auf den Höfen Kaffee und Kuchen, Quiche und Salat – oft in bester Bioqualität. Im Alltag dagegen sollte jeder Radler eine Stulle einpacken; meist hat er dann die gut befahrbaren Wege durch Felder, Weiden und Mischwälder ganz für sich allein. Selbst in den Dörfern begegnet man dann oft niemandem, den man nach dem Weg fragen könnte. Das Wendland ist einer der am wenigsten besiedelten Landstriche Westdeutschlands – ehemaliges Zonenrandgebiet. Und genau diese Lage hat der Region die Impulse für eine Bevölkerungsmischung beschert, die einmalig ist und ohne die auch die „kulturelle Landpartie“ nicht denkbar wäre.

In den 70er-Jahren fiel die Wahl auf den Salzstock Gorleben, als die Bundesrepublik einen Lagerort für ihren Atommüll suchte. „Da werden sich die Ostzonalen schön ärgern“, soll der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht gesagt haben. Die konservative Bevölkerung im Wendland hielt er wohl für kein Problem. Doch Albrecht hatte sich getäuscht. Schon zwei Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung rollten hundert Trecker durch Lüchow: „Wi willt den Schiet nich hebbn“ stand auf den Plakaten der empörten Bauern. Bald danach kamen Ökoengagierte, Hippies und Linke aus Hamburg und Berlin, errichteten an dem Bohrloch hundert Holzhäuser, veranstalteten ein Plenum nach dem nächsten und riefen die Republik Freies Wendland aus.

„Das hier bin ich“, sagt die Goldschmiedin Brita Kärner und zeigt auf ein Schwarzweißfoto in einem auf schlechtem Papier gedrucktem Dokumentationsband. Auch Gerhard Schröder steht mit Parka bekleidet in der Gegend herum. Brita Kärner kam damals aus Hamburg, war politisch aktiv und wollte aufs Land. „Berückend schön“ sei der Kontakt zu vielen alten Leuten aus den Dörfern gewesen, erinnert sie sich – und zugleich gibt es bis heute stramme CDU-Bürgermeister, die dem bunten Volk aus den Großstädten noch immer misstrauisch begegnen.

18 Jahre ist es her, als Brita Kärner und ein paar Freundinnen auf die Idee mit der kulturellen Landpartie kamen. Die Leute von anders wo sollten das Wendland nicht mehr nur mit Bildern von knüppelnden Polizisten und auf der Straße hockenden Demonstranten verbinden, sondern auch die weite Landschaft und die alten Rundlingsdörfer im Kopf haben. Vor allem aber wollten die Künstlerinnen und Kunsthandwerkerinnen dazu einladen, ihre wendländische Philosophie kennen zu lernen: gut und schön leben zu wollen, ohne dabei bräsig und ignorant zu werden.

In Brita Kärners weitläufigem Garten in Maddau finden auch dieses Jahr wieder Skulpturen befreundeter Künstler Aufnahme – und jeder, der will, kann darin herumspazieren. Auch alle Glasvitrinen in ihrer Wohnzimmerwerkstatt stehen offen. Neben Broschen aus gewagten Metallmischungen liegt dort selbstverständlich auch ein kleines Widerstands-X zum Anstecken. „Die Leute dürfen bei mir alles rausnehmen und anprobieren.“ Trotz vieler Besucher sei noch nie etwas geklaut worden, sagt die Frau mit den Wuschelhaaren, die selbst nicht einen einzigen Ring trägt. Offene Türen und eine gehörige Portion Vertrauensvorschuss gehören im Wendland ebenfalls zum Lebensgefühl. Wer bei der kulturellen Landpartie ausstellen will, muss in der Region wohnen und gegen das Atomlager in Gorleben sein – so die traditionelle Vorgabe.

Das ist auch für den Biobierbrauer Udo Krause selbstverständlich, der erste Berufserfahrung vor 30 Jahren in einer Berliner WG-Küche erwarb und der in jedem November auf der Straße ist, wenn die Castor-Behälter kommen. Doch inzwischen vermisst er bei vielen Mitstreitern schmerzlich die dialektische Perspektive und den analytischen Verstand, den er selbst in zahlreichen Marx-Seminaren geschult hat. Esoterisch sei, was da heutzutage auf den Plena ablaufe, urteilt Krause: Kerzen in der Mitte und das Gebot, nur reden zu dürfen, wenn man den einzigen Ball im Raum gerade in der Hand hält. Deshalb hat sich Krause jetzt auf seinen großen, mit schönen, alten Möbeln eingerichteten Hof in einem Zwei-Häuser-Dorf zurückgezogen, schreibt Bücher über Bier, gibt Seminare und beliefert die kulturelle Landpartie mit dem äußerst schmackhaftem Wendlandbräu. „Ich mach jetzt mein Ding. Ich hab keine Lust mehr, mich politisch reinzuhängen.“

Auch Elke Kuhhagen gehört zu den Landpartie-Frauen der ersten Stunde. Nur der Zuschneidetisch trennt ihren Wohnbereich von der Werkstatt. Hurtig lässt sie gerade die Nähmaschine über die schmalen Stoffstreifen surren, aus denen in ein paar Stunden ein fertiger Rock geworden sein soll. Wenn sie aufblickt, schaut sie durch ein Fenster über eine Schafweide in die untergehende Sonne – zur anderen Seite sieht sie auf den weitläufigen Hof des Herrenhauses in Salderatzen. Dort präsentiert sie während der kulturellen Landpartie im ehemaligen Schweinestall, was sie an langen Arbeitstagen seit Weihnachten produziert hat. Stammkundinnen werden sich in die improvisierte Umkleidekabine drängen und erwarten, dass Elke Kuhhagen sie selbstverständlich alle wiedererkennt. „Die Tage sind unglaublich anstrengend – und unglaublich toll“, sagt die Schneiderin, die froh ist, nicht mehr dauernd auf anonymen Märkten herumstehen und ihre Kleider dort anbieten zu müssen. Immer wieder ist sie kindlich erstaunt, dass es klappt – dass sie von ihrer Arbeit leben kann und sich sogar 18-Jährige in ihren Röcken wohlfühlen.

Fünf Kilometer von hier ist Elke Kuhhagen aufgewachsen. Zweimal hat sie versucht, in eine Stadt zu ziehen – und brennende Sehnsucht trieb sie zurück. Der Widerstand gegen Gorleben ist für sie ein Glücksfall gewesen, sagt die 47-Jährige: Interessante, bunte, chaotische Menschen kamen her, und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr als Außenseiterin. „Ich habe hier alles, was ich mir wünsche“ sagt die Frau mit der frischen Gesichtsfarbe, für die ein langer Marsch auch bei strömendem Regen die größte vorstellbare Erholung bedeutet.

Der Künstler Ernst von Hopfgarten ist dagegen erst vor sechs Jahren nach Prezelle gezogen – und damit fast noch ein Frischling. Gerade hat er mit seinem Berliner Kollegen Burghard Welzel einen fensterlosen Raum in seiner Werkstatt abgeteilt; nebenan zeichnen sich unter einem blauen Müllsack die Konturen einer nackten Frau ab. Demnächst soll sie mit einer Gummimatte gegen den Tisch gepresst und in dem dunklen Raum aufgebahrt werden. Oben drüber werden elektronische Klangobjekte auf und nieder schweben. „Requiem ae“ heißt das Werk.

„Hier im Wendland gibt es gute Bildhauerkollegen und hochrangige Musikveranstaltungen“, begründet Hopfgarten seine Ortswahl. Zugleich ist die Szene im Gegensatz zu Berlin überschaubar, und man werde wahrgenommen. Natürlich erlebe man auch manch „abenteuerliche“ Reaktion von Dorfbewohnern – und genau wie andere „echte“ Künstler hat auch Hopfgarten gewisse Dünkel gegen Aussteller, die Selbstgemachtes präsentieren. „Hier im Dorf gibt es noch eine Frau, die malt. Aber zum Glück nennt sie sich nicht Malerin“, merkt der 57-Jährige an, an dem alles grau ist, von den Sandalen bis zum Bart.

„Bei uns in Kröte gibt es nur echte Kunst zu sehen“, versichert Irmhild Schwarz, deren naiv-liebenswerte Figuren von jeher den Katalog der kulturellen Landpartie zieren. Gerade sortiert sie die Objektteile, die ihr ein österreichischer Kollege geschickt hat und die bei der kulturellen Landpartie präsentiert werden sollen: ramponierte Adidas-Socken, ein Brot, ein paar Bücher. Dieses Jahr soll die Ausstellung in Kröte unter dem Motto „Heimat“ stehen, hat Irmhild Schwarz den 15 von ihr eingeladenen Künstlern mitgeteilt. Das sei für viele Deutsche natürlich ein ganz problematischer Begriff, räsonniert die Grafikerin. Auf die Bewohner der Freien Republik Wendland trifft das sicher nicht zu.

Das 223 Seiten starke Programmheft gibt es in vielen Läden und an den Ausstellungsorten für 3,50 €Ľwww.kulturelle-landpartie.de