Hypnotisiert in die Höhe

taz-Sommerserie „Unbekannte Orte“ (Teil 1): die Reichstagskuppel. Millionen Touristen waren schon oben. Millionen Berliner noch nie. Einer der bisher standhaften Ignoranten gibt nach. Für die taz überwindet er die Höhenangst und schaut auf die Stadt

Kennen Sie das? Alle Ihre Freunde aus Dortmund, Alpirsbach und Pirna waren schon auf der Siegessäule, im Pergamonmuseum und am Wannseestrand – als Touristen. Und jedes Mal, wenn sie mit Ihnen sprechen, schwärmen die Freunde davon, wie eindrucksvoll das doch war. Und Sie? Trauen sich nicht zu verraten, dass Sie zwar jeden kleinen Händler im Bergmannkiez und jedes Café am Savignyplatz kennen, aber einige dieser Berlin-Highlights noch nicht mal aus der Ferne – obgleich Sie schon seit 14 Jahren in der Stadt leben. Macht nichts: Das geht vielen Berlinern so, sogar taz-Redakteuren.

Jetzt soll sich das aber ändern. In unserer Sommerserie besuchen tazler jene berühmten Orte, an denen sie noch nie waren. Heute: die von Sir Norman Foster gebaute Reichstagskuppel.

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Jetzt heißt es die Zähne zusammenbeißen. Die Rampe ist nicht stark geneigt, aber schon nach einer, spätestens anderthalb Windungen erreicht sie eine Höhe, die mir das Adrenalin in die Adern treiben wird. Egal. Die Entscheidung ist gefallen: Ich steige in die Reichstagskuppel.

Natürlich war ich schon im Reichstag. Mehr als einmal, um genau zu sein. Ich habe sogar schon Gruppen hineingeführt – um mich an der Kuppel mit einer Notlüge zu empfehlen: „Geht schon mal vor, ich muss telefonieren.“ Warum? Ich leide unter Höhenangst. Ausgeprägter Höhenangst. Das heißt: Nicht die schiere Tiefe versetzt mich in Panik. Auf der Aussichtsplattform des Fernsehturms, umgeben von armdickem Panzerglas, fühle ich mich pudelwohl. Mir schwindelt vor Tiefen, die unzureichend gesichert sind – gegen den hypothetischen Drang, hinunterzuspringen. Schmale Brücken, hohe Treppenhäuser sind mir ein Gräuel – solange mir das Geländer nicht mindestens bis unters Kinn reicht.

In Berlin gibt es, so gesehen, etliche Unorte für Menschen wie mich, von denen viele jüngeren oder jüngsten Datums sind: die oberen Bahnsteige des Hauptbahnhofs. Der neue Kaufhof am Alexanderplatz. Und Norman Fosters Reichstagskuppel. Ihr spezielles Ärgernis besteht für mich darin, dass die beiden ineinander verschlungenen Rampen, die spiralförmig zur Spitze und zurück führen, innen an einer konkaven Wand verlaufen. Der Blick hinunter kann sich noch nicht einmal an der Vertikalen festkrallen.

Nein, es geht einfach nicht. Mein Körper hat auf Alarm geschaltet, der Fluchtreflex ist aktiviert. Mir ist nicht gut.

Dabei hat mein Ausflug so nett angefangen. Ich habe mich unter die Touristen gemischt, habe mir, ihnen gleich, die Jacke um die Hüfte geschlungen und mich in die Schlange eingereiht. Der junge Mann vom Bundestags-Besucherservice, den ich nach der Wartezeit gefragt habe – eindreiviertel Stunden, sagte er, aber es ist nur eine daraus geworden –, hat mich kurz darauf konspirativ aus der Reihe gebeten und mir das unmoralische Angebot gemacht, mich am frühen Abend ohne Schlangestehen hineinzulassen. Ich müsse da nur an einem interessanten Vortrag im Plenarsaal … Nein, danke: Ich will da hoch.

Und überhaupt: Das Schlangestehen war gar nicht schlimm. Wartende, die es bis zur Freitreppe schaffen, setzen sich auf die Stufen, den Rücken zum Gebäude, das Gesicht zur Sonne. Es geht in Schüben voran. Bewegt sich die Reihe ausnahmsweise nur wenige Meter, rutschen alle, die schon sitzen, rückwärts die Treppe rauf – ein niedliches Bild.

Das unfreiwillige Nichtstun macht angenehm schläfrig. Velotaxis auf Kundensuche rollen wie in Zeitlupe vorbei. Über den weiten Platz rennen Kinder. „Warum haben die damals eigentlich Bonn zur Hauptstadt gemacht und nicht Dortmund?“, fragt ein Pubertierender seine Mutter. Dann bin ich dran.

Das sagt berlin.de: „Nachts beleuchtet, ist die transparente Kuppel von Foster zu einem Wahrzeichen des neuen Berlin geworden.“ Das sagt der „Lonely Planet“: „Die schnelle Fahrt mit dem Aufzug nach oben zählt zu den Highlights einer Berlin-Reise – einmal wegen des Panoramablicks über die Stadt, zum anderen wegen der Nahansicht der Kuppel mit dem spiegelverkleideten Trichter im Zentrum.“ Öffnungszeiten: Täglich von 8 bis 24 Uhr, letzter Einlass: 22 Uhr. Tagsüber Wartezeiten von bis zu zwei Stunden. Und damit Sie weiter eine gute Ausrede haben: ab Montag ist die Kuppel wegen Reinigungsarbeiten für eine Woche geschlossen.

Im Reichstag herrschen natürlich strenge Sicherheitskontrollen. Mit hundert anderen Besuchern wird man in eine gläserne Schleuse gepfercht. Ist die voll, schließt sich hinten die Tür und man tröpfelt vorne zu den Röntgengeräten heraus. Der Job der Sicherheitsdame, die einen empfängt, ist schrecklich monoton, vielleicht hat sie sich deshalb eine Art Jahrmarktsingsang angewöhnt: „Bü’schöön, nehmse die große Box, alles aus den Taschen rein. Danke, der nächste, bü’schöön …“ Die Liftkabine fasst 45 Personen, aber so voll wird es erst bei der Rückfahrt sein. Nach wenigen Sekunden steht man auf der geräumigen Dachterrasse, direkt vor dem Eingang zur Kuppel. Rauf jetzt!

Ich habe mich nicht geirrt: Die Angst ist da. Ich atme tief, laufe zügig am rechten Geländer entlang, senke den Kopf und kneife das linke Auge zu, um den Abgrund nicht zu sehen. Das funktioniert. Irgendwann bin ich oben. Und was ist der Lohn der Angst? Eine ziemlich mäßige Aussicht. Zu viele Metallstreben behindern den Blick, und die Scheiben sind auch nicht richtig sauber. Freundlicherweise hat Sir Foster eine flache, ringförmige Bank in die Kuppelspitze montiert, auf der man ein paar Minuten liegen und den Wolken zuschauen kann. Die ziehen über ein kreisrundes Loch hinweg. Ob es da reinregnet? Keine Ahnung. Der Abstieg steht mir noch bevor und verhindert, dass ich mich völlig entspanne. Auch wenn’s runter immer leichter geht.

Zwei Dinge entschädigen schließlich für alles: Die spiralig-gegenläufige Bewegung der Kuppeltouristen, die sich in den Facetten der Mittelachse spiegelt, entfaltet nach wenigen Minuten eine angenehme, leicht hypnotische Wirkung. Und dann der Blick von der Terrasse, gerade heute: Über dem Dunkelgrün des Tiergartens erhebt sich ein dramatisch schöner Himmel. Auf der City West lastet schwer eine dunkle Regenwolke, hinten liegt Spandau in schwefelgelbem Licht. Im Süden steht der Potsdamer Platz wie eine Mauer, im Osten schippern Spreekähne zum Fernsehturm. Besonders schön ist jedoch der Blick über den Prenzlauer Berg: Irgendwie sieht es aus, als ließe sich dort die Erdkrümmung erahnen. Und das helle Weiß, in dem die Wolken strahlen, verheißt in der Ferne das Meer.