Der große Muschhuschschu-Bluff

taz-Sommerserie „Unbekannte Orte“ (Teil 3): das Pergamonmuseum. Millionen Touristen waren schon drin. Millionen Berliner noch nie. Einer der standhaften Ignoranten gibt nach. Für die taz besichtigt er deutsche Sammelwut und steigt in die Gruft

Kennen Sie das? Alle Ihre Freunde aus Dortmund, Alpirsbach und Pirna waren schon auf der Reichstagskuppel, im Jüdischen Museum und am Wannseestrand – als Touristen. Und jedes Mal, wenn sie mit Ihnen sprechen, schwärmen die Freunde davon, wie eindrucksvoll das doch war. Und Sie? Trauen sich nicht, zu verraten, dass Sie zwar jeden kleinen Händler im Bergmannkiez und jedes Café am Savignyplatz kennen, aber einige dieser Berlin-Highlights noch nicht mal aus der Ferne – obgleich Sie schon seit 14 Jahren in der Stadt leben. Macht nichts: Das geht vielen Berlinern so, sogar taz-Redakteuren.

Jetzt soll sich das aber ändern. In unserer Sommerserie besuchen tazler jene berühmten Orte, an denen sie noch nie waren. Heute: das Pergamonmuseum.

VON GEREON ASMUTH*

Muschhuschschu. Ein Drache, den die Babylonier ihrem Stadtgott Marduk zugeordnet hatten. Er hat Kopf und Körper einer Schlange, die Vorderbeine eines Löwen, die Hinterbeine eines Vogels und einen Skorpionstachel am Schwanz.

So lautet die Inschrift einer Tafel am Ischtar-Tor, einem der vier weltweit gerühmten Highlights des Pergamonmuseums. Damit ist auch bewiesen, dass man im meistbesuchten Museum der Stadt wirklich etwas lernen kann. Zugleich fragt sich der Beobachter, warum das Haus nicht nach dem zusammengewürfelten Wappentier der Babylonier benannt wurde.

Wahrscheinlich war es Ehrlichkeit. Denn das Fabelwesen setzt sich aus echten Tierteilen zusammen. Die werbeträchtigen Exponate des Museums aber entpuppen sich als Imitate, in die ein paar echt antike Scherben hineingeklebt wurden.

Das beginnt beim Pergamonaltar. Der gibt dem Megamuseum seinen Namen, hat aber nicht mal seinen eigenen verdient. Dieses Etwas, das imposant in die zentrale Halle gequetscht wurde, ist keineswegs der Altar, sondern nur dessen Treppe. Zwei Drittel der Anlage fehlen komplett. Der Rest ist größtenteils Disneyland. Von den 30 Säulen weist gerade eine Handvoll Spurenelemente echter Fundstücke auf. Genausogut könnte man sich ein paar rostige Stahlträger vom Schlossplatz klauen und damit in Las Vegas den Palast der Republik „aufbauen“.

Die Treppe des „Altars“ ist gar restlos antikfrei. Immerhin dürfen sich deswegen die Besucher darauf niederlassen und dem Audioguide via Kopfhörer lauschen. Mit diesem Sitztest lässt sich die Authentizität aller Exponate erforschen. Eilt einer der Wächter „No! No!“-schimpfend herbei, ist es echt. Doch meist kommt keiner.

Warum auch? Beim blau strahlenden Ischtar-Tor sind nur die Tierrefliefs und die unteren Schmuckreihen „aus Bruchstücken und Orginalziegeln“ zusammengesetzt. Der große Rest ist Imitat. Die dazugehörige Prozessionsstraße von Babylon würde nicht einmal in einem B-Movie als Kulisse durchgehen. Eine „assyrische Gruft“ erweist sich als Nachbildung, das Felsrelief von Firaktin als Gipsabguss, ein Teil einer Löwenskulptur als Kopie. Selbst das Wachpersonal scheint sich in das Mut-zur-Lücke-Konzept zu fügen. Ein auffallend großer Teil der Blaubehemdeten trägt Halbglatze – der Rest, so muss man vermuten, Perücke.

Tief im Museum findet sich das um 1600 n. Chr. gefertigte Aleppo-Zimmer beziehungsweise dessen herangeschleppte dicht bemalte Wandvertäfelung. Die Glaswand davor verrät, dass es sich um authentisches Material handeln muss. „Da links“, erklärt eine mit Kunstbüchern bewaffnete Mittvierzigerin, „das sieht man von hier nicht so genau, aber das sind Köpfe, die dem König da auf dem Tablett gereicht werden.“ „Hmpf“, antwortet einer ihrer Begleiter.

Das sagt Berlin.de: „Durch den fensterlos erratischen hohen Mittelbau, aber auch aufgrund der flächigen Seitenflügel wirkt der Komplex enorm massig.“

Das sagt der „Lonely Planet“: „Wer bei seinem Berlinbesuch nur Zeit für ein einziges Museum hat, sollte sich für das Pergamonmuseum entscheiden.“

Öffnungszeiten: Freitag bis Mittwoch 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 22 Uhr.

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Ein Fachpublikum mag im Pergamon hier und da kennerisch mit der Zunge schnalzen. Dem gemeinen Flaneur demonstriert das Haus nur die Sammelwut deutscher Forscher, die bei ihren Buddelreisen durch Vorderasien vor 100 bis 150 Jahren so gut wie alles mitgenommen haben, was nicht niet- und nagelfest war – und somit jeder Authentizität beraubten.

Aus einer der Lagerhallen für Tempelreste, kaputte Grabsteine und zerbrochene Skulpturen führt eine unscheinbare Stiege hinab zur – nachgebildeten – Gruft des Königs Assurnasirpal II. Auf halber Treppe liegt in einer Vitrine ein maiskolbengroßer Tonkegel samt Übersetzung der Inschrift: „Diesen Sarg möge derjenige, der ihn findet, nicht an sich nehmen, sondern an seiner Stelle belassen. Wer das lesen und nicht missachten wird, dem möge die Gutat, die er getan hat, belohnt werden.“

Doch solche Vorschriften haben geringen Stellenwert im Pergamon. Stattdessen setzt man die Einhaltung der Öffnungszeiten durch. Ab 17.50 Uhr werden Besucher aus den Hallen vertieben, um 18.01 Uhr wird hinter dem Letzten die Tür geschlossen.

Berlinern, die dennoch mal vorbeischauen wollen, sei ein Donnerstag empfohlen. Da hat das Museum nicht nur bis 22 Uhr geöffnet, ab 18 Uhr ist gar der Eintritt frei. Am besten wartet man aber noch ein paar Jahre. Ab 2009 soll die von David Chipperfield entworfene neue Eingangshalle gebaut werden. Deren filigrane Architektur könnte einen Besuch tatsächlich lohnen.

*Gereon Asmuth lebt seit 1988 in Berlin