Eine grausame Geschichte

In Chile ist nach 35 Jahren ein Mann aufgetaucht, der seit der Pinochet-Diktatur als tot galt: Schock statt Freude

35 Jahre lang galt Germán René Cofré Martinez als verschwunden. Am 24. September 1973, knapp zwei Wochen nach dem Putsch des chilenischen Militärs gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, war das damalige Mitglied der Kommunistischen Partei vor seinem Haus auf einem Militärlastwagen abtransportiert worden. Es war das letzte Mal, dass seine Frau María del Carmen Cisterna ihren Mann sah.

Bis Ende vergangener Woche war Germán René Cofré Martinez damit einer von 1.197 Namen auf der Gedenktafel jener Verhaftet-Verschwundenen, für deren Tod die Angehörigen und die chilenische Gesellschaft die Militärdiktatur verantwortlich machen. Dann tauchte er wieder auf.

Sein Sohn, eines von drei Kindern, das der Verschwundene in Chile zurückgelassen hatte, meldete sich bei der Menschenrechtsbehörde des Innenministeriums und erklärte, dass sein Vater, nunmehr 63-jährig, sich gemeldet habe. Offenbar nach einer Inhaftierung von bislang noch unbekannter Dauer freigelassen, war Cofré die Flucht nach Argentinien gelungen. In Mendoza begann er ein neues Leben, gründete eine zweite Familie.

Seine chilenische Ehefrau war 1997 gestorben, ohne ihren Mann jemals wiedergesehen zu haben. Im Gegenteil: 1991, ein Jahr nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, hatte sie ihn offiziell für tot erklären lassen. Nachdem aufgrund offensichtlich fehlerhafter forensischer Untersuchungen 1995 angebliche sterbliche Überreste ihres Mannes aufgetaucht waren, hatte sogar eine offizielle Beerdigung stattgefunden. Ehefrau und Kinder bezogen staatliche Unterstützung aus dem Sonderfonds für die Opfer der Militärdiktatur.

Kein Wunder, dass sowohl die Vereinigung der Angehörigen Verschwundener als auch die chilenische Öffentlichkeit empört und verstört auf den Fall reagieren. Das Justizministerium hat eine Untersuchung eingeleitet, der zuständige Staatsanwalt hat Cofré am Montag erstmals vernommen. Erst jetzt, bei der Rückkehr nach Chile, so soll dieser gesagt haben, sei ihm überhaupt klar geworden, dass er als Verschwundener geführt wurde. Dafür spricht, dass er tatsächlich in den vergangenen Jahrzehnten mindestens viermal beim chilenischen Konsulat in Mendoza seinen Pass verlängern ließ – unter seinem richtigen Namen.

Für die tatsächlichen Opfer der Militärdiktatur ist der Fall besonders grausam. Die Methode des „Verschwindenlassens“, die vor allem während der Militärdiktaturen in Chile und mehr noch in Argentinien tausendfach angewandt wurde, ließ die Angehörigen bewusst im Unklaren. Die Verleugnung selbst der reinen Existenz der Verschwundenen oder die verleumderische Angabe, sie hätten sich mit Sicherheit der „Subversion“ angeschlossen, ließen in den Angehörigen über Jahre hinweg die Hoffnung am Leben, ihre Söhne, Väter, Töchter oder Mütter dereinst wiederzutreffen. Selbst 20 Jahre später, als eigentlich kein Zweifel mehr am Tod ihrer Verwandten bestand, berichteten Angehörige, wie sie plötzlich glaubten, am Fenster eines Stadtbusses den Vermissten zu erkennen, kilometerlang hinterherliefen, um dann entkräftet und verstört aufzugeben. Die Geschichte dieser tatsächlichen Rückkehr ist für sie kein Tag der Freude. Die Ruhe, die sie suchten, ist dahin.

Und auch politisch ist der Schaden erheblich. Im Gästebuch der dem Andenken der Verschwundenen gewidmeten Website www.memoriaviva.cl tragen sich seit dem Wochenende dutzendweise Pinochet-Anhänger ein, Tenor: Wir haben’s doch immer gewusst, diese Roten sind alles Lügner und Diebe, von wegen Opfer – man hätte sie alle umbringen sollen.

Hier unterschätzen die Pinochetistas ihr Werk. BERND PICKERT