Nordpol nicht mehr tiefgekühlt

Wissenschaftler sind alarmiert: Schon 2015 und damit fast einhundert Jahre früher als bislang erwartet könnte der Sommer in der Arktis eisfrei sein. Offenbar ist das Klima dort bereits gekippt

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat das von der Europäischen Union jetzt verabschiedete Klimapaket verteidigt. „Die EU hat Wort gehalten“, sagte Steinmeier am Donnerstag im Bundestag. So hätten die Staats- und Regierungschefs ihr Ziel bekräftigt, bis 2020 20 Prozent weniger Treibhausgase zu emittieren und bis dahin auch den Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent zu steigern.

Zur ganzen Wahrheit gehöre aber auch, dass Deutschland ein Industrieland bleiben müsse. Deshalb seien die Ausnahmen für energieintensive Unternehmen so wichtig. Sie halten diese wettbewerbsfähig – und im Lande. „Ein gutes Gewissen macht noch kein gutes Klima“, resümierte Steinmeier. TAZ

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Das Arktis-Eis wird immer dünner. Und es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass das arktische System sich in einem selbstverstärkenden Erwärmungsprozess befindet, der in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr zu bremsen ist. Das Arktis-Klima ist offenbar bereits gekippt.

„Es sieht so aus, als ob es immer so weitergeht, gleich was wir machen“, sagt Rasmus Tonboe vom dänischen Meteorologischen Institut DMI. Jahreszeitbedingt wachse zwar jetzt wieder die Eisdecke in der Nordpolarregion. Aber dieser Prozess gehe wesentlich langsamer als in früheren Jahren vor sich: „Die Temperaturen sinken langsam, weil es im Sommer extrem wenig Meereis gegeben hat und deshalb viel Wärme in das System gepumpt worden ist.“ WissenschaftlerInnen sprechen von der „arktischen Verstärkung“ („arctic amplification“).

Der zunehmende Abschmelzprozess im Sommer führt dazu, dass die Sonnenenergie zunehmend vom eisfreien dunklen Meer „aufgesogen“ und immer weniger von den schrumpfenden weißen Eis- und Schneeflächen reflektiert wird. Eine Entwicklung, die unaufhaltsam zu einer eisfreien Arktis führt. Nach Computersimulationen war mit diesem Prozess bislang frühestens in ein bis zwei Jahrzehnten zu rechnen.

Doch bereits jetzt steigt die Atmosphärentemperatur über der Arktis schneller an als über anderen Teilen der Erde. Nach aktuellen Daten des US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center (NSIDC) lag im Oktober die Temperatur in der Arktis um 3 bis 5 Grad über den Normalwerten, an einigen Stellen sogar um bis zu 7 Grad höher.

Und die Lufttemperaturen lagen auch im November deutlich über dem langjährigen Durchschnitt, meldet das NSIDC: „teils weil das Meer immer noch Wärme an die Atmosphäre abgibt, teils aufgrund eines geänderten Musters der atmosphärischen Zirkulation, aufgrund der warme Luft in dieses Gebiet transportiert wird“.

Im November war die Fläche mit neu gefrorenem Wintereis 680.000 Quadratkilometer kleiner als im Durchschnitt der Jahre 1979 bis 2000. Das zeigen Zahlen, die am Dienstag auf dem Jahrestreffen der American Geophysical Union in San Francisco vorgelegt wurden. Diese Verringerung entspricht fast zweimal der Fläche Deutschlands.

Laut Klimaforscherin Julienne Stroeve vom NSIDC muss der Prozess hin zu einer „arktischen Verstärkung“, den man in den letzten vier, fünf Jahren beobachten konnte, nun als Faktum angesehen werden: „Das, was wir in unseren Klimamodellen prophezeit haben, können wir nun auch tatsächlich sehen.“

Wenn dies alles nun früher geschieht als erwartet, dürften auch die Modelle, auf die beispielsweise das UN-Klimapanel IPCC seine Vorhersagen stützt, nicht mehr stimmen, meint der kanadische Klimaforscher David Barber von der Universität Manitoba: IPCC rechnete mit einer im Sommer eisfreien Arktis für das Jahr 2100. Tatsächlich sei das ganze System aber in einer viel schnelleren und umfassenderen Veränderung und man könnte diese eisfreie Arktis nun bereits für 2015 erwarten: „Und diese Erkenntnis gilt es klar und effektiv den Politikern zu vermitteln.“

Aufgrund von aktuellen Satellitenaufnahmen der NASA und neuen Daten, die Jason Box, Geografieprofessor an der Ohio State University, auf der Konferenz in San Francisco präsentierte, führt diese immer schnellere Erwärmung der Region nun auch zu einem massiven Abschmelzen des grönländischen Inlandeises. In diesem Sommer seien die großen Gletscherzungen um eine Fläche von 184 Quadratkilometern geschrumpft. Dreimal so viel wie im Jahre 2007 – das ebenfalls bereits ein Rekordjahr war.

Laut dem NASA-Forscher Jay Zwally führt das schmelzende Grönlandeis derzeit bereits zu einem jährlichen Anstieg des globalen Meeresspiegels um einen halben Millimeter: „Und diese Entwicklung wird sich fortsetzen.“