Fall Sürücü: Die Stille nach dem Schuss trügt

Beratungsstellen für Migrantinnen sind froh, dass der Sürücü-Prozess neu aufgerollt wird. So werde wieder über Gewalt gegen Frauen diskutiert.

Saniye Y.* (31) hat Angst. "Heute beginnen die letzten 24 Tage deines Lebens" hat ihr Mann ihr gedroht - in genau 24 Tagen ist der Scheidungstermin des Ehepaares Y., das schon lange kein Liebespaar mehr ist. Seit Jahren erleidet Saniye körperliche und seelische Misshandlungen durch ihren Mann. Die Polizei hat sie nie geholt - auch diesmal nicht. Sie hat Angst davor, dass die Behörden ihr die drei gemeinsamen Kinder wegnehmen, sie selbst gar in die Türkei zurückschicken könnten. Dass das Recht, dass die Polizei auf ihrer Seite ist - daran glaubt Y. nicht so recht. Seit fast elf Jahren lebt sie in Berlin, Deutsch spricht sie kaum. "Du hast unsere Familie zerstört", sagt ihr Mann, weil sie, um seiner Gewalt zu entkommen, die Scheidung eingereicht hat. Und Saniye schämt sich.

Dass sie Opfer und nicht Täterin ist, dass sie Hilfe und Schutz bekommen kann, könnte ihr jede Berliner Beratungsstelle für Frauen in Notsituationen sagen. Wenn Saniye denn zu einer solchen Beratungsstelle gehen würde. Doch ihre Angst davor, dass sich daraus nur Nachteile für sie ergeben würden, die als "schlechte Mutter" ihre drei Kinder dem Vater entriss, ist zu groß. Selbst von ihrer eigenen Familie, ihren Eltern hört sie nur Verurteilungen: "Wie konnte dir das passieren?"

Fälle wie diesen kennt auch Louise Baghramian, Leiterin des Interkulturellen Frauenhauses, das Schutz und Beratung für von Gewalt betroffene Migrantinnen bietet. Seit der aufsehenerregenden Ermordung der Deutschtürkin Hatun Sürücü durch ihren Bruder im Februar 2005 werde zwar in der Öffentlichkeit mehr über das Thema Gewalt in Migrantenfamilien geredet, meint sie. Auch die Beratungsangebote würden besser genutzt - von Betroffenen ebenso wie von LehrerInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen, die Informationen haben möchten.

Trotzdem gebe es immer noch große Gruppen von Frauen, die von Aufklärungs- und Informationskampagnen nicht erreicht würden. Das seien vor allem jene, die kein Deutsch können, meint Louise Baghramian: "Viele von denen wissen nicht, wie sie Hilfe suchen können. Sie kennen die Schutz- und Beratungseinrichtungen nicht." Deshalb findet sie es "toll", dass nun der Prozess gegen zwei der Brüder der ermordeten Hatun Sürücü wieder aufgerollt wird: "So kommt das Thema noch einmal in die Öffentlichkeit, und die Medien und Behörden beschäftigen sich weiter damit."

Hatun Sürücü? "Nie gehört", sagen Zeynep K.* und Filiz L.*, die gerade ihre Kinder von einer Kreuzberger Kita abholen. Die beiden Türkinnen sind vor einigen Jahren als Ehefrauen nach Berlin gekommen. Zeitung lesen sie nicht. Einen Deutschkurs haben beide zwar besucht, aber mangels Praxis das meiste wieder vergessen. Sie besuche regelmäßig die Frauengruppe einer benachbarten Moschee, sagt K. Dort lerne sie islamische Lebensregeln und den Koran zu lesen. Doch Gewalt, gar Ehrenmorde waren dort kein Thema.

"Hatun Sürücü? War das nicht nicht die, die ermordet worden ist?", mischt sich eine andere junge Frau in das Gespräch. Amina G.*stammt aus Libanon, hat aber bis letztes Jahr in Berlin die Oberschule besucht. Dort hätten sie über den Mordfall diskutiert, sagt die 19-Jährige, die ihre kleine Schwester von der Kita abholt. Eine Meinung zu dem Mordfall will sie lieber nicht äußern. "Sie hat wohl schlecht gelebt", meint sie unsicher. Umbringen hätte man sie aber nicht dürfen.

Die Diplompädagogin Sabine Wagenfeld glaubt nicht daran, dass Migrantinnen heute besser als früher über Schutz- und Beratungsangebote informiert seien. Sie arbeitet beim Verein Zuff, der Zufluchtswohnungen und Beratung für Frauen deutscher und nichtdeutscher Herkunft bietet. "Zu uns kommen solche Frauen, die nach oft langjährigen Ehen beschlossen haben, die Trennung von ihren Männern zu wagen", sagt Wagenfeld.

Deren Zahl habe nicht zugenommen. Verbessert habe sich möglicherweise die Lage jüngerer Frauen, die in Schulen oder in den für Neuzuwanderinnen mittlerweile obligaten Integrationskursen Informationen über ihre Rechte bezüglich häuslicher Gewalt oder Zwangsverheiratungen und entsprechende Schutzangebote bekämen. Um auch die übrigen zu erreichen, plädiert Wagenfeld für eine "breite Informationskampagne in den Migrantencommunities". Denn: "Es gibt ja Hilfsangebote, wenn auch zu wenige und zu schlecht finanzierte. Viele Frauen kennen die aber nicht."

Darüber, dass der Prozess gegen die zwei Brüder Hatun Sürücüs, die im ersten Prozess vom Vorwurf der Mittäterschaft freigesprochen worden waren, nun wieder aufgenommen werden soll, freut auch sie sich: Dies zeige betroffenen Frauen, dass das Problem familiärer Gewalt ernst genommen werde, meint die Pädagogin, und auch das der Beteiligung oder gar Mittäterschaft der Familien. So fassten vielleicht mehr den Mut, sich aus schrecklichen Lebenssituationen zu befreien. * Name geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.