Verkehr: Slow going gegen den Fußgängerfrust

Jeder kennt sie, doch sie tauchen in keiner Statistik auf. Die Langsamgeher sind Einzelkämpfer, die im Straßenverkehr nicht mehr und nicht weniger einsetzen als ihren Körper. Ist das neuer Protest? Oder pure Anarchie?

Und jetzt ganz langsam rüber: Fußgänger auf der Straße des 17. Juni Bild: AP

"Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing." So beginnt Heinrich Hoffmanns Lehrgedicht "Hans Guck-in-die-Luft". 150 Jahre später sind es nicht mehr nur die Träumer, die in aller Ruhe über die Straßen schlendern, sondern auch die Überzeugungstäter. Weder von roten Ampeln noch von herannahenden Autos lassen sie sich beirren.

Gibt es nach Slow Food und Slow Cities jetzt also auch Slow going?

"Ich mach das ganz bewusst. Wenn ein Autofahrer heranfährt, latsche ich genauso langsam über die Straße wie sonst auch. Das ist meine Form des zivilen Ungehorsams." Das sagt einer, der sich selbst als "Latscher" bezeichnet, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. Andere sind da etwas zurückhaltender als er, sehen aber nicht ein, warum sie ihre Schritte beschleunigen sollen, wenn ein Autofahrer rechts abbiegt, während sie selbst gerade die Straße bei Grün überqueren.

Stefan Lieb, Sprecher von Fuß e. V.: "Angefangen damit haben die Autogeher. Ich kenn das aber auch aus Berlin, zum Beispiel wenn Jugendliche, nicht nur Betrunkene, auf der Fahrbahn gehen statt auf dem Gehweg. Das hat etwas von "Reclaim the streets", der Gehweg ist schmal und voll geparkt, wir holen uns die Straße zurück. Leider gibt es über das Verkehrsverhalten von Fußgängern keine Untersuchungen. Sie sind nicht nur die schwächsten Verkehrsteilnehmer, sondern auch die am wenigsten erforschten. Der Grund ist einfach: Keine öffentliche Stelle kann sich vorstellen, dass das Zufußgehen eine Verkehrsart ist."

Karin Schmied kennt Berlin aus der Autoperspektive: "Die treiben mich in den Wahnsinn. Das sind ja nicht nur die Omis, sondern junge Mädchen, die über die Straße gehen, mit einer Seelenruhe, als ob nichts wäre. Die setzen doch ihr Leben aufs Spiel. Das ist so eine Anspruchshaltung, die kenne ich aus keiner anderen Stadt. Das ist ein Berliner Phänomen."

Gerd Hochmuth, Radler: "Ich habe den Eindruck, Fußgänger orientieren sich nur noch mit den Ohren. Vor allem auf Nebenstraßen rennen sie, ohne zu gucken, zwischen parkenden Pkw hindurch auf die Straße. Einem lärmenden Auto würden sie vielleicht noch ausweichen, aber mir als geräuschlosem Radfahrer laufen sie einfach vor den Lenker. Wenn das so weitergeht, wird bald irgendein Verkehrspolitiker fordern, dass Fahrräder mit einem dauerhaften Warnton ausgerüstet werden müssen."

Peter Meier, überzeugter Latscher: "Wenn ein Autofahrer heranfährt, latsche ich ganz bewusst genauso langsam über die Straße wie sonst auch. Das ist meine Form des zivilen Ungehorsams. Die Autofahrer denken, die Straße gehört ihnen. Da unterscheiden sich

die Neuköllner mit Migrationshintergrund nicht von den

Brandenburgern, die glauben, durch Berlin wie über eine Allee brettern zu können. Mein Protest ist der Versuch, Gelassenheit zu demonstrieren, den

Verkehr wieder zu entschleunigen. Natürlich kann das riskant sein, wenn der Autofahrer sich auf den Machtkampf einlässt. Mein einziges Mittel, das ich

habe, ist mein Körper. Und die Hoffnung, dass der Autofahrer mich nicht überfährt. Von denen, die die Luft aus den Geländewagen lassen, unterscheidet mich nur wenig. Bei-des ist Protest, ein bisschen wie in dem Film "Die fetten Jahre sind vorbei". Aber die Luftrauslasser sind Teil einer Bewegung. Mein Tun ist individuell."

Claudia Hämmerling, Verkehrspolitikerin der Grünen: "Das Verhalten der Fußgänger kann ich sehr gut nachvollziehen. Wenn du ständig gehetzt wirst, die Ampel schon wieder auf Rot zeigt, bevor du die Straße überquert hast, dann schafft das eine besondere Sorte Frust, die ich gut nachvollziehen kann."

Thomas Pop (25): "Ich bremse nicht für Autofahrer. Ich gehe über die Straße, wie ich will. Das ist kein Beitrag gegen die zunehmende Aggression, es ist ein Beitrag zur Aggression. Ich spiele das Spiel mit, ein Machtspiel mit hohem Einsatz. Natürlich ist da Nervenkitzel mit im Spiel. Verkehr ist etwas sehr Subjektives. Als Radfahrer nerven mich die Touristen, die mir auf dem Radweg nicht rechtzeitig aus dem Weg gehen. Als Fußgänger nerven mich nicht nur die Autofahrer, sondern die Radfahrer auf den Gehwegen. Sollen doch den Bus nehmen, wenn sie sich nicht auf die Straße trauen!, rufe ich denen manchmal hinterher. Ich gebe zu: Mein Handeln ist nicht zielgerichtet. Es trägt eher zum Chaos bei. Es ist Ausdruck eines großen Genervtseins."

Carsten Müller, Pressesprecher der Polizei: "Ich kann diesen Trend nicht bestätigen. In anderen Städten mag das ja sein. In Berlin haben wir darüber aber keine Erkenntnisse. Aber wir führen auch keine Statistik. Wer betont langsam über die Straße geht, wird also nicht erfasst. Man kann auch nicht sagen, dass die Aggression generell im Straßenverkehr zunimmt. Das mag an der einen oder anderen Stelle so sein, aber das sind Ausnahmen. Gott sei Dank."

Renate Buffaloe, Verkehrspsychologin: "Das Phänomen gibt es tatsächlich. Dieses so völlig Regelwidrige. Ich mache, was ich will. Das ist Teil einer übergreifenden Entwicklung im Straßenverkehr. Keiner beachtet mehr den anderen, jeder ist ein Einzelkämpfer. Der Autofahrer schimpft über die Radfahrer, und wenn er aufs Rad steigt, schimpft er über die Autofahrer. Es gelingt kein Perspektivwechsel, der Verkehrsraum ist kein Gemeinschaftsraum mehr. Da hilft es auch nicht, wenn ich aus Protest so handle. Was stattdessen helfen kann: dem anderen Verkehrsteilnehmer zulächeln, Kontakt aufnehmen. In Osnabrück gibt es einen Modellversuch. Da sind alle Ampeln und Regeln abgeschafft, stattdessen gibt es nur noch Kreisverkehr. Und siehe da - es funktioniert."

Anders als die Reifenplätter, die aus dicken Geländewagen die Luft lassen, tragen die Langsamlatscher ihren Protest nicht in die Öffentlichkeit. Sie sind, wie die meisten Verkehrsteilnehmer inzwischen, Einzelkämpfer. Gerade erst hat eine Meldung für Wirbel gesorgt. In nur zwei Stunden hat die Berliner Polizei am Theodor-Heuss-Platz 26 "Rotlichtsünder" ertappt - und das innerhalb von nur zwei Stunden, mitten im Berufsverkehr an einem Freitag zwischen 15 und 17 Uhr.

Für die Verkehrspsychologin Renate Buffaloe ist das ein Hinweis darauf, dass sich im Straßenverkehr eine zunehmend Regelwidrigkeit bemerkbar macht. Im Gegensatz zu "Rotlichtsündern" oder Rasern gehen die Langsamlatscher in keine Polizeistatistik ein. Kommt es zum Unfall oder zur Anzeige, lautet der Vorwurf Nötigung oder gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr.

Ansonsten: keine Meldung, kein Thema. Nicht der Rede wert ist das Thema auch beim ADAC, der sich alle Mühe gibt zu betonen, dass auf Berlins Straßen keine Anarchie herrsche, sondern große Disziplin.

Dabei bedürfte es nur eines Blicks nach München, um zu sehen, dass Slow going auch seine Vorläufer hatte. In München lebt der "Autogeher" Michael Hartmann, der in den 90er-Jahren über parkende Autos ging und Happenings auf den Straßen veranstaltete.

Nun weiten die "Carwalker" ihren Protest aus: In einem Aufruf werden die Fußgänger aufgefordert: "Über Kreuzungen in der Diagonalen und vor Ampeln konsequent bei Rot gehen, um das Vorgangsrecht für FußgängerInnen einzufordern."

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