Kommentar: Humane Pflege nicht in Sicht

An die MIssstände in der Pflegeversicherung wird sich kaum herangetraut. Das Bedürfnis der Alten nach emotionaler Zuwendung und sozialer Anerkennung bleibt ausgespart.

Die Wirklichkeit ist der Politik weit voraus. Pflege ist ein Thema, das die Gesellschaft schon seit Jahren bewegt. In Deutschland hat jeder Fünfte einen Pflegefall in der Familie; viereinhalb Millionen Menschen werden dauerhaft gepflegt. Das sind doppelt so viele, wie offiziell als Pflegefälle erfasst sind. Die Teileinigung zwischen SPD und Union über Elemente einer Pflegereform erkennt folglich nur verspätet soziale Tatsachen an: dass Menschen mit Demenz zum Pflegefall werden etwa und folglich von der entsprechenden Versicherung erfasst werden sollten.

Schön, dass die Politik solche Missstände nun korrigiert. Schlecht, dass sie die wirklichen Probleme nicht einmal thematisiert. Jenseits von Schaukämpfen um die richtige Finanzierung bleiben die großen Fragen: Wie soll menschenwürdige Pflege in Zukunft aussehen? Und wer soll sie leisten?

Für eine humane Pflege muss die Pflegebedürftigkeit zum einen anders beschrieben werden. Derzeit orientiert sich der Medizinische Dienst der Krankenkassen, wenn er potenzielle Leistungsempfänger besucht, an gerade mal 21 Kriterien - ob die Oma noch allein auf die Toilette gehen kann oder ob sich der Opa noch selbstständig rasiert. Entsprechend diesen körperlichen Merkmalen ist die Pflege ausschließlich auf physische Hilfe ausgerichtet: Satt und sauber sei der Mensch.

Anderen menschlichen Bedürfnissen, wie nach sozialer Anerkennung, nach Gesprächen und Berührung, trägt die Pflegeversicherung jetzt und auch künftig nicht Rechnung. Dafür sind die Angehörigen zuständig. Konkret sind das die Frauen, denn zu 80 Prozent ist Pflege weiblich. Sie sollen im Job ganz flexibel und ihren Familien eine verlässliche Stütze sein. Das geht nicht. Auch eine Auszeit von sechs Monaten mit Rückkehrrecht auf den Arbeitsplatz führt nicht aus dem Dilemma. Die durchschnittliche Pflegezeit beträgt zehn Jahre.

Wer sich solchen Problemen ernsthaft widmet, ist sehr schnell bei anderen Fragen: nach der sozialen Verantwortung von Unternehmen, nach einem Grundeinkommen und einem erweiterten Erwerbsbegriff. Fragen, die gesellschaftlichen und sozialen Sprengstoff beinhalten. Sie sind offenbar zu groß für die große Koalition.

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Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.

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