Geschichte der linken Bewegung: Der Weg zur Republik

Vorgalopp auf 1968: In Berlin debattierten Zeithistoriker über die westdeutsche Linke. War sie Wegbereiter der Demokratisierung oder Teil des Problems?

Anlässlich von 40 Jahren 1968 stehen Abrechnungen bevor: Studentenführer Rudi Dutschke und Frau Gretchen Bild: dpa

"Der Bundesrepublik", schrieb Hannah Arendt 1965 an Karl Jaspers, "ist der Untergang auf die Stirn geschrieben." Westdeutschland schien Arendt moralisch bankrott, unfähig, die NS-Täter vor Gericht zu stellen, eine Wiederholung der Weimarer Republik. So ähnlich wie Arendt sahen dies viele westdeutsche Intellektuelle, von der Gruppe 47 bis zu den 68ern. Die Demokratie war ein Geschenk der Alliierten, das die politische Elite bestenfalls verwaltete. Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 war das Offene verschwunden, die Teilung war zementiert, eine eigene Begründung der Republik versäumt worden. "Restauration" war das Schlüsselwort, mit der viele Intellektuelle ihre Verachtung für die Republik zum Ausdruck brachten, in der sie sich heimatlos fühlten.

Der Streit, welche Rolle Linke, Intellektuelle und Protestbewegungen in der Bundesrepublik spielten, war ein roter Faden der zeithistorischen Tagung "Streit um den Staat" in der Humboldt-Universität, veranstaltet von Dominik Geppert und Jens Hacke. Waren diese Bewegungen, von der Anti-Atomtod-Bewegung der 50er über die Anti-Notstandsgesetz-Bewegung der 60er bis zur Friedensbewegung der 80er, nur apokalyptisch gestimmte Schwarzmaler, die politisch immer falsch lagen? Oder haben gerade fundamentale Kritiker der Bundesrepublik verschafft, was ihr offensichtlich fehlte: demokratisches Engagement, Selbstanerkennung und letztlich Sinn?

Die Motive für Widerstand waren vielfältiger, als sie im Rückblick erscheinen. Die, vor allem von Protestanten getragene, Anti-Atomtod-Bewegung speiste sich auch aus Vorbehalten gegen die katholische Adenauer-Republik. Frank Bösch wies darauf hin, dass der Adenauer-Staat mit seiner rigiden (und weitgehend vergessenen) Zensurpraxis Intellektuelle in die Opposition trieb und so die Fronten zwischen Macht und Geist betonierte. Theater, die Brecht spielten, riskierten ihre Existenz. Filme, die staatspolitisch nicht ins Konzept passten, wurden kurzerhand verboten.

Für die Anti-Atomtod-Bewegung spielte der westdeutsche Staat, so Holger Nehring, keine große Rolle. Das war konsequent, weil er im Falle des Atomkrieges in seiner Funktion, den Bürger zu schützen, katastrophal versagt hätte. Das entscheidende war das Gewissen des Individuums. Das kann man typisch deutsch, politik- und institutionenfern, auch typisch protestantisch nennen. Aber verwunderlich war es nicht, dass viele diesem von Exnazis durchsetzten Teilstaat, der sich selbst als Provisorium verstand, nichts zutrauten. Das Schwungrad, das die Fundamentalopposition in Fahrt brachte, war immer wieder die NS-Zeit. Gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr und den atomaren Holocaust müsse man tun, was man zur NS-Zeit versäumt habe, so lautete ein Credo der Anti-Atomtod- Bewegung. Das moralische Tremolo, der strapaziöse Dauerton der Überdramatisierung kennzeichnete viele Bewegungen. So gesehen war die Geschichte der Bundesrepublik die einer Katastrophe, die immer ausblieb. Der Atomkrieg fand nicht statt, die Notstandsgesetze verstaubten in den Schubladen, die Pershing-Raketen endeten als teurer Schrott.

Waren die Bewegungen also immer auf dem falschen Dampfer? Waren sie bestenfalls vorpolitisch, schlimmstenfalls fellow traveler des Totalitarismus und antiliberale Fundamentalisten? In diese Richtung argumentierte der Bonner Historiker Joachim Scholtyseck, der zu dem Ergebnis kam, dass die Intellektuellen 1961 beim Mauerbau schlicht weltfremden Ideen nachhingen, während die Regierung tat, was zu tun war. Mit solchen Urteilen macht sich der Historiker allerdings zum braven Nachzeichner, der im Rückblick die Weisheit der Regierenden preist - was auch ein eher vordemokratisches Selbstverständnis verrät. In Vergessenheit gerät auch, dass der hochgelobte antitotalitäre Konsens der 50er-Jahre, den nicht alle Linksintellektuellen vollen Herzens ratifizieren wollten, durchaus Schattenseiten hatte. Denn dieser Konsens schloss bedenkenlos ein, dass Kommunisten, die schon unter Hitler im Gefängnis gesessen hatten, sich auch in der Demokratie dort wiederfanden, während gut dotierte NS-Richter unbehelligt Recht sprachen.

Eine überaus streitbare Deutung der Kampagne gegen die Notstandsgesetze steuerte der Hamburger Historiker Wolfgang Kraushaar bei. Kraushaar ließ zwar unterschiedliche Akteure zu Wort kommen, etwa Liberale wie den späteren Innenminister Maihofer und Gewerkschafter, die fürchteten, dass mit den Notstandsgesetzen der jungen Demokratie bei der erstbesten Gelegenheit das Licht ausgeblasen würde. Kraushaars Pointe freilich war ein Angriff auf zwei Theoretiker des SDS, Hans Jürgen Krahl und Johannes Agnoli. Beide sahen die Bundesrepublik, wegen der Notstandsgesetze, auf dem Weg zum Faschismus. Ihre Staats- und Parlamentarismuskritik sei, so Kraushaar, antidemokratisch, und beide hätten, kein Wunder, selbst eine rechte Vergangenheit. Agnoli hatte daraus nie ein Hehl gemacht, der junge Krahl war Mitglied einer Burschenschaft und der Jungen Union gewesen.

Kraushaars Referat gab einen Vorgeschmack auf die Abrechnungen, die nächstes Jahr, anlässlich von 40 Jahren 1968, ins Haus stehen: Die Studentenbewegung sei totalitär und hysterisch gestimmt gewesen. Wer dies illustrieren will, dem steht in der Tat ein reichhaltiger Schatz an Zitaten zur Verfügung. Ob sie den Kern treffen, ist jedoch fraglich. Denn Kraushaars Blick auf die Irrtümer der Bewegung verfehlt die gesellschaftlichen Lockerungen, die durch "1968" in Gang kamen und wirkungsvoller waren als die neomarxistische Staatskritik. Und: So naheliegend es ist, die Nase über den Alarmismus der Notstandsgesetzgegner zu rümpfen - klüger wäre es, zu prüfen, ob ohne diese von Hunderttausenden unterstützte Kampagne, die immerhin auf die Rettung des Grundgesetzes zielte, der Verfassungspatriotismus je so populär geworden wäre wie heute. Der Verfassungspatriotismus war wohl die einzig taugliche Selbstbeschreibung, die die Bonner Republik hervorgebracht hat. Nation und Staat waren als sinnstiftende Erzählung für diesen halbsouveränen Teilstaat, der Rechtsnachfolger des Nazistaates war, nur bedingt verwendbar.

Was den mit Zitaten ausgerüsteten Abrechnungen mit "68" und den fundamentaloppositionellen Bewegungen fehlt, ist Sinn für die Dialektik der Entwicklung. Die Selbstanerkennung der Bundesrepublik verlief auf dem Wege ihrer radikalen Infragestellung. Ist es ein Wunder, dass dieser Weg krumm war?

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