Auf dem Gipfel

Brigitte Kronauer legt neue literarische Gratwanderungen vor: In dem Roman „Errötende Mörder“ arrangiert die Autorin Liebe und Verpassen, Überhöhung und Ironisierung neu

VON MAJA RETTIG

Zwei Maßnahmen gegen kindliche Langeweile. Erstens: Drei beliebige Sachen intensiv ansehen, und schon wachsen sie sich zu verbundenen Zeichen aus, der Banalität völlig enthoben. Zweitens: Mit Einbruch der Nacht muss man sterben, und alles, was man erlebt, geschieht unwiderruflich zum letzten Mal. „Gelang es, die Idee über einen Nachmittag eisern durchzuhalten, zeigte sich das Indianertum der normalen Welt.“

An diese Kinderspiele erinnern sich Binnenheld eins und zwei des neuen Romans von Brigitte Kronauer, „Errötende Mörder“ (zugleich Titel des zweiten von drei Binnen-Kurzromanen). Sie enthalten Kronauers literarisches Interesse im Allgemeinen – die Wahrnehmung in Alltag und Ausnahmelage – und, im besonderen Falle dieses Buchs, die Wahrnehmung unter dem Eindruck von Tod und Verschwörung. Diesmal verschiebt sie die Wahrnehmung in Richtung Wahnsinn: Wie weit muss die Ausnahme neben dem Normalfall liegen, damit es verrückt wird? Wann wird unterstellte Zeichenhaftigkeit vom Spiel zum Wahn? Was, wenn Todesbewusstheit das Leben nicht köstlicher macht, sondern hinabzieht?

Vier denkbar normale Figuren schickt Kronauer auf diese Gratwanderung. Den Rahmenheld Jobst Böhme, Schreibwarenhändler. Er geht für ein langes Wochenende ins Gebirge, weil er sich nicht real vorkommt: Hohl fühlt er sich, wie aus Pappe. Auch die anderen um ihn herum: „alles Pappkameraden“, bis auf Natalja, seine junge russische Geliebte. Ein dankbarer Computerkunde, Schriftsteller, versteht, so scheint es, Böhmes spezielle Krise und schickt ihn zum Wandern in die Alpen, ein Häuschen ist vorhanden. Einzige Gegenleistung: Er soll ihm drei Kurzromane Korrektur lesen. Eine Aufgabe, die der Kaufmann Böhme pflichtbewusst, aber ohne Begeisterung erledigt.

Dabei werden diese Geschichten immer besser – in rasant aufsteigender Linie: In der ersten bleibt die rund um sich schlagende Gegenwartskritik zu allgemein und fügt sich nicht recht mit dem Verbrechen, das das Ich verbergen will. Für ein manisches Sprechen sind die Betrachtungen dieses Sammlers, der unter der Allgemeinheit der Welt leidet, zu lasch. Auch der Moduswechsel ins Fantastische, bei der nächtlichen Begegnung mit dem Monster seiner Schuld, gerät ziemlich holprig.

Ganz anders „Errötende Mörder“: Da steigt der kernige Sven Strör, in Lederkluft unterwegs, um sein nagelneues Motorrad abzuholen, aus Versehen in einen Ausflugsbus voller Greise. Er ist frisch verliebt und auch sonst anfangs mit allen Insignien der Jugendlichkeit ausgestattet. Doch zusehends zweifelt man an seinem Alter, genau wie er selbst. Die Uralten umgarnen, verspotten und verunsichern ihn, und sie stecken ihn an – mit dem Tod. Strör sitzt in der Falle, die Busfahrt ist gleichzeitig seine Lebensfahrt. Am Ausflugsziel ist dann auch sein eigener Körper morsch und der letzte Weg steht ihm einsam bevor. Meisterhaft, wie hier Zeit- und Realitätsebenen ineinander fließen; bewegend und gar nicht beschönigt, was einstige Chefsekretärinnen, Nachrichtensprecherinnen und Herzchirurgen aus ihrer letzten Lebensphase erzählen.

Doch auch die Alten kriegen ihr Fett weg, ironisiert durch die Erzählinstanz, die wiederum sämtliche Autorinstanzen dieses Romans ironisiert: Götter, in den Wolken wohnend. Von oben her wird ernst gemacht mit erzählerischer Allwissenheit: „Ach Schätzchen, wir sehen dir ohne Anstrengung in deinen Kopf rein.“

Im dritten Binnenroman läuft das Spiel mit den Erzählinstanzen auf das Gegenteil von Allwissenheit hinaus: Die Fiktionalisierung ist hier als Bewältigungsstrategie einer Figur in die Erzählung hineingenommen – was der Kette der Fiktionen ein weiteres Glied hinzufügt: Brigitte Kronauer erfindet einen Autor, der eine Frau erfindet, die sich eine Legendenfigur zu ihren eigenen Erlebnissen erfindet. Das führt zu launigen Umkehrgags wie der Notiz des Schriftstellers: „Weibliche Erzählperspektive, Risiko für mich als Mann, klar!“

Das weibliche Ich, Mutter, Ehefrau, verliebt sich rein den Blicken nach in einen düsteren Motorradfahrer. Sie widersteht ihm drei Mal, will dann nachgeben, was zu Missverständnissen führt, und dann ist es zu spät, der Mann tot. Um nicht den Verstand zu verlieren, erfindet die Fremdenführerin sich eine dumpfe Touristengruppe im Dom, der sie das Drama als Szenen auf einem Chorschrankenrelief präsentiert, als „die Versuchung der heiligen Petunia oder auch Petronia“.

Hier zeigt sich Brigitte Kronauer nun auf einem Gipfel ihrer Kunst, alles ist beisammen und doch neu arrangiert, was diese Autorin ausmacht: Liebe und Verpassen, Überhöhung und zugleich schärfste Ironisierung; die Standbilder und das Zeitgenössische.

Und Pappkamerad Jobst Böhme? Ohne dass er es merkt, haben die drei Geschichten ihn bei seiner eigenen Schwachstelle gepackt: dem Tod. Längst mutmaßt er aber, dass der Schriftsteller nichts Gutes im Schilde führt und zu Hause wahrscheinlich Natalja nachstellt. Doch das lässt ihn verdächtig kalt: Viel mehr reizt ihn inzwischen ein fremder Wanderer, der ihm immer wieder und zusehends aggressiv begegnet?

So geht Jobst Böhme, das Geschöpf der Büchnerpreisträgerin Kronauer, endgültig ins Gebirg, vom Tod mächtig gezogen. Neben der Gefahr des Todes für das Leben wäre damit bewiesen: die Gefährlichkeit der Literatur.

Brigitte Kronauer: „Errötende Mörder“. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 333 Seiten, 21,50 Euro