Meistens war ich eine Frau

Günter Wallraff arbeitet undercover in einem Callcenter? Toll, aber unser Autor machte sich auch die Hände schmutzig und ging zwei Monate anschaffen. Mit dem Handy per SMS

VON 7CENT

Ich muss unerkannt bleiben. Deshalb keine Namen! Nicht dass es mir peinlich wäre, womit ich eine Zeit lang Geld verdient habe. Aber ich muss befürchten, dass ich nach Veröffentlichung des Textes eventuell mit Betonfüßen in der Nordsee lande. Immerhin habe ich schriftlich Verschwiegenheit schwören müssen.

Wie das so ist, hat man als Selbstständiger auch mal eine kleine Durststrecke. Die einen verkaufen in so einem Fall ihr Sofa oder vermieten ihr Schlafzimmer. Ich hingegen wollte einen kleinen, vorübergehenden Job. So las ich eine der klein gedruckten Anzeigen, die „gute Nebenverdienstmöglichkeiten“ und „bequem von zu Hause“ versprachen. Irgendwas mit „SMS beantworten“ und „Erotik“. Gut, dachte ich: Erotik hab ich und sogar auch zu Hause. Kenn ich mich mit aus.

Nach einem Bewerbungstelefonat wurde ich zu einem Einführungsgespräch in die Onlinezentrale eingeladen, weiße Büroräume in einer ehemaligen 3-Zimmer-Wohnung. Eine engelsgleiche 25-jährige, schüchterne Frau stand in ihrem geblümten Kleidchen vor uns drei Kandidaten. „Hier geht es um Sex per SMS. Analsex und Natursekt gehören auch dazu“, sagte sie, ohne rot zu werden. „Wir zahlen pro geschriebene SMS 7 Cent, am Wochenende 9. Möchte jetzt vielleicht jemand gehen?“ Ich blieb. 7 Cent sind besser als 0.

Einige Tage später wurde mir per E-Mail das Regelwerk für den Job zugeschickt. Denn für das Verschicken erotischer SMS gibt es Vorschriften, las ich. Das Regelwerk strotzte vor Rechtschreibfehlern. Ich lernte, dass es verboten ist, Sex mit Tieren zu haben und mit Kindern sowieso. Es gab da zwar noch ein paar andere für mich neuwertige, verbotene Sexpraktiken, aber die möchte ich nicht weiter ausführen. Bei Bedarf an dieser Stelle einfach den „Fantasie-Button“ drücken. *Lol*

Nur für das bessere Verständnis: Es ging lediglich um die Simulation und Stimulation mittels elektronischer Zeichen. Hier sollten keine Livedates vereinbart werden. Bevor es aber überhaupt zum Sex kommen kann, teilte man mir mit, müsse ich zwingend vorher das Alter des Users abfragen. Spätestens nach der zweiten SMS müsse klar sein, wie alt der oder die Sexwillige ist. Unter 18 is nich! Jeder Verstoß gegen die Altersabfrage könnte für die Anbieter teuer werden. Hier ist also sexuelle Sorgfalt gefragt. *Stöhn*

Die wollen doch eh nur schnell zum Schuss kommen, dachte ich. Was sollen die SMS-Leute da erst komplizierte Szenarien eintippen. Ich sollte später im aktiven Dienste der Erotik eines Besseren belehrt werden. Ich wurde übrigens auch schriftlich angehalten, die User „freundlich und animierend“ zu begrüßen. Es konnte schließlich mal vorkommen, dass ein bereits bekannter SMS-Sex-Kunde etwas länger nicht mehr schrieb. Dann bekam er ordinäre Bilder per MMS und den freundlich animierenden Text: „Hi, Du geiler Ri*******anz, meine F***e ist schon ganz nass. Mach mich fertig!“ Aber immer schön mit dem Hinweis, dass das Schreiben 1,99, 1,69 oder 1,49 Euro kostet.

Nachdem ich alle Regeln verinnerlicht hatte, bekam ich die nötige Software per E-Mail zugeschickt. Nun gab es den ersten Termin zur Bearbeitung von SMS. Natürlich saß ich nicht an meinem Handy und tippte mir einen Krampf in den Daumen. Nein. Ich machte das alles vom Computer aus und arbeitete mit Hilfe dieser speziellen Software und meiner DSL-Flatrate. Ich beantwortete die Ausschweifungen von Männern in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Schichten waren sehr variabel, denn es wurde 24 Stunden immer wieder ohne Unterbrechung geschrieben. Das hieß aber auch, dass ich oft die Orgien meiner Kollegen übernehmen und verstehen musste. Den ganzen Käse, den die vorher geschrieben hatten, musste ich im Schnelldurchlauf durchhecheln, um den Kunden richtig verarzten zu können. *Stöhn*

Die Computermaske muss man sich in etwa so vorstellen: Irgendwo oben am Rand steht, wer sich gerade gemeldet hat, unten sieht man, wer in der Warteschleife hängt, und in der Mitte des Bildschirms ist protokolliert, was bisher geschrieben wurde. In der Regel waren die Kunden bekannt, weil Wiederholungstäter. Meine Aufgabe war es unter anderem, die jeweilige Vita mit Vornamen, Wohnort, Alter und sexuellen Vorlieben zu aktualisieren. Dafür gab es ein Extrakästchen.

Klingt einfach, war es aber nicht, denn die Kunden erwiesen sich als unkalkulierbar, vor allem wenn sie geil waren. Alle naselang wechselten sie ihre Identität. *Seufz* Dass es doch immer derselbe war, konnte man an der Handynummer erkennen. Mal nannte er sich Dietmar, dann wieder Enrico, war entweder 25 oder 44 Jahre alt. Gelegentlich war sein Geschlechtsteil 60 cm lang, manchmal auch nur 30, dafür aber 15 Zentimeter dick. *Lollol*

Es ist übrigens kein Zufall, dass hier nicht von Kundinnen die Rede ist, denn gefühlte über 80 Prozent der Tipper waren männlichen Geschlechts. Gut: Manchmal wurde aus Dietmar auch Doris, aber dann nur wegen des besonderen Reizes. *Geil find*

Ich hatte 160 Zeichen, die ich pro SMS in ein weiteres Kästchen tippen sollte. Pro SMS bekam ich 7 Cent. Wenn ich in der Stunde über 65 davon geschrieben haben sollte, würde ich eine Provision bekommen. Schon mal versucht, in weniger als einer Minute eine lange SMS zu schreiben? Ich habe es versucht. Das war Stress. Unvorstellbarer Stress. Alle 30 Sekunden ein neuer Kunde mit anderer Vita, anderer Geilheitsstufe.

Zusätzlich musste ich auch noch die in einem anderen Kästchen von meinem Arbeitgeber vorgegebene Identität annehmen. Meistens war ich eine Frau. Ich war dann entweder die 18-jährige Pamela, die es „ganz ordinär braucht“, oder die „schüchterne Hausfrau mit Hang zur Esoterik und großen Brüsten“. Meine Schichten gingen vier bis sechs Stunden. Entweder gleich morgens ab 9 oder auch gern nachts ab 22 Uhr. Ich versuchte, Stoßzeiten (*Frechgrins*) auszumachen. Am meisten war in der klassischen Mittagspause los oder nach Feierabend, so ab 15.30 Uhr.

Viele gingen gleich zur Sache: „Los du schlampe mach dein maul auf.“ Na gut, aber erst mal musste ich den ein bisschen hinhalten, sonst kommt der gleich, und wir verdienen nix, dachte ich. „Oh, hallo mein Geiler. Wie schön, dass du dich mal wieder meldest. Willst du mich richtig rannehmen? Deine Shakira“, schrieb ich. „Laber nich so rum leck meine lanze du geile sau“, kam es zurück. Okay, dachte ich. Dann muss ich ihm eben noch ein bisschen beschreiben, was ich gerade trage. Einen Lack-BH hatte ich zwar noch nie an, aber ich konnte ihn authentisch beschreiben. Der Kerl antwortete nicht mehr.

Es gab auch tatsächlich Leute, die gar keinen Sex wollten. Das waren die Schlimmsten und erstaunlich oft Menschen aus der Schweiz. Besonders schwierig wurde es, wenn sie in Schweizerdeutsch schrieben und erwarteten, dass man noch wusste, warum sie letzte Nacht so schlecht geschlafen hatten. Das musste ich nachlesen, denn diese Info hatte mein Kollege bereits vor 6 Stunden bekommen. Der Kunde aus der Schweiz dachte ja schließlich, dass ich immer noch ich bin. „Und we me gseht, was hütt dr mönschheit droht so gseht me würklech schwarz, nid nume rot.“ In so einer Situation half immer der Hinweis, man habe „das jetzt nicht verstanden“ und ob der Kunde vergessen habe, dass man aus Deutschland komme.

Ich habe mich natürlich gefragt, was das für Menschen sind, die per SMS Sex oder Beziehungen haben wollten. Mit völlig unbekannten Fantasiemenschen. Da hat es nie ein echtes Treffen gegeben. Das war auch laut Arbeitgeber verboten. Und wenn ein Operator aus Neugier doch mal so ein Treffen vereinbart hatte, wurde davor gewarnt. „Das ist noch nie gut gegangen. Also lasst es!“, wies uns unser Arbeitgeber zurecht. Wahrscheinlich hatte er einfach Angst, wir würden den Kunden erzählen, wie schlecht wir bezahlt wurden. Anfangs kam ich auf 3,50 bis 4,30 Euro die Stunde. Das musste sich ändern. Mein Ziel waren mindestens 400 Orgasmen pro Schicht. Einstweilen tröstete ich mich mit den vielen Vorteilen des Jobs: Ich musste das Haus nicht verlassen, ich brauchte nicht aus dem Haus zu gehen, und ich konnte von zu Hause aus arbeiten. Und was man sich sonst noch so schön denkt.

Ab und zu durfte ich auch mal „Gerd, der scharfe Sportlehrer“ sein. Die Frauen, die sich hier meldeten, waren Männer, die so ihre schwule Seite ausleben wollten, aber auch manchmal echte Frauen. Die Frauen suchten häufig einen Partner, dem sie dann erzählten, wie schwer es ist, allein erziehend zu sein. Von Enttäuschung in einer vergangenen Beziehung war oft die Rede. „Bitte enttäusch du mich jetzt nicht auch. Du willst ja mit den sms nur mein geld. Ich melde mich nie wieder. Es ist aus!“ Das wurde dann zirka 20-mal im Verlaufe eines Tages geschrieben, bis man sich wieder versöhnt hatte und man gemeinsam in eine „glückliche Zukunft“ schauen konnte. Am nächsten Tag dann das gleiche Spiel. *Stöhn*

Nebenbei hatte ich mir ein eigenes System überlegt, um mehr Geld zu verdienen. *Frechgrins* Ich legte vor jeder Schicht ein neues Dokument mit Textbausteinen an. Texte wie: „Ich könnte mir gerade alle Sch****e dieser Welt in die F***e stecken, aber deiner wäre mir am liebsten. Her damit, du geile F***sau.“ Diese Texte kopierte ich dann einfach in das 160-Zeichen-Kästchen. Natürlich gab es davon auch Varianten, damit es nicht gleich als Standardtext erkennbar war. So schaffte ich es, wenn ich emsig war, in der Stunde über 100 SMS zu schreiben. Mit Provision für die Reaktivierung eines Stammkunden kam ich so am Wochenende auch mal auf 11 Euro. Das fand ich angemessen.

Es gab auch wirklich abstruse Kunden. Etwa Vladimir, der immer im Negligee von „Fräuleins“ den Tee serviert und die „Füßchen“ mit edlen Cremes massiert bekommen wollte. „Ist es recht so, Madame?“ Oder Georg, der alle zwei Tage dieselbe Session schrieb. Ich musste eine Ringkämpferin nach Vorbild der RTL-Xenia sein und ihn nicht siegen lassen. Georg: „Ich springe dich an. Aaargh. Du prallst gegen die seile. Du quetschst meinen kopf zwischen deinen beinen. Aargh.“ Ich (Xenia): „Ha. Du armes Würstchen. Dich mach ich fertig. Aargh. Du Schwächling. Aaargh.“

Mit Freunden diskutierte ich meinen Job; sie sagten beruhigend: „Das sind doch alles erwachsene Menschen. Die wissen, worauf sie sich einlassen.“ Wohl gefühlt habe ich mich trotzdem nicht. Schon gar nicht, als ich gesagt bekam, dass ich nun auch die klassische Partnervermittlung bearbeiten solle. Manche Fernsehprogramme bieten SMS-Chats an, um den Partner fürs Leben zu finden. Also nix mit „Sofort-Ficki-ficki“. *Rotwerd* Ganz seriös mit Liebe und so. Denkste! Wenn mich einer anschrieb, musste ich die potenzielle Partnerin zum Heiraten simulieren. Ein Treffen musste ich aber wegen „schlechter Erfahrungen“ und „Wir kennen uns doch gar nicht so gut“ abblocken. Die sollten schreiben, schreiben, schreiben und dafür blechen, um irgendwann gesagt zu bekommen: „Och, nö. Ich hab doch kein Interesse.“ Das schrieb man aber immer erst, wenn sich der Interessent nur noch auf ein baldiges Treffen fixierte und bereits mehrere hundert SMS geschrieben hatte. Ziemlich obszön.

Inzwischen hatte ich diesen Job schon zwei Monate lang je 4 bis 6 Stunden die Woche gemacht. Ich stellte fest, dass ich nach jeder Schreiborgie am Computer so aufgekratzt war, dass ich noch drei Stunden danach im Bett wach lag. Diese Stunden konnte ich auch nicht mit Sex oder Erotik überbrücken. Das Interesse daran war mir vergangen – und das, obwohl ich mich fühlte, als hätte ich stundenlang in eine Steckdose gefasst. So angefixt war ich.

Es war an einem Sonntag, als ich nach drei Stunden sagte: „Ich glaube, ich muss damit aufhören. Das macht mich alles ganz kirre.“ Die Entscheidung wurde mir am nächsten Tag abgenommen. Als ich meinen Dienst antreten wollte, war mein Zugang gesperrt. *Staun* Ich wollte aber dann doch noch wissen, wieso ich rausgeflogen war. „Du schreibst mit 10 Fingern und beachtest beim SMS-Schreiben die Groß- und Kleinschreibung. Das irritiert unsere Kunden.“ Aha. *?????*

Inzwischen habe ich wieder genug in meinem eigentlichen Job zu tun. Das könnte sich aber auch wieder ändern. Darauf muss man immer gefasst sein. Vielleicht muss ich dann wieder ran. Bis dahin suche ich an meiner Tastatur den Schalter zur automatischen SMS-Kleinschreibung. *Lol. Lol. Lol.*

7CENT, männlich, 37, ist der Redaktion bekannt. Persönlich bekannt!