Alles außer Elefanten

Produzenten suchen immer häufiger „reale“ Drehorte. Julio Arrieta zeigt sie ihnen. In den Armutsvierteln von Buenos Aires

AUS BUENOS AIRES ANNE HUFFSCHMID

Wellblech, so weit das Auge reicht. Kabel und Wäscheleinen durchkreuzen den dunstigen Mittagshimmel, die Luft ist schwer. Umgestürzte Einkaufswagen, alte Stühle, Rohre und Stapel von Backsteinen sind über der rostenden Dächerlandschaft verteilt. Unten schlängeln sich schlammige Gassen durch das Häuserdickicht, ein paar Kinder stehen an Hauseingängen und schauen ungerührt dem Treiben auf dem Dach zu.

Julio Arrieta weiß um die Blicke der Besucher, und er weiß sie zu lenken. „Hier kriegst du die Mülldeponie mit drauf“, sagt er und zeigt auf einen grünen Hügel am Horizont. Und da hinten, auf der anderen Seite, sei das alte Gefängnis. Er stellt sich in Pose, die Hände in die Hüften gestemmt, das knallrote T-Shirt („hundert Prozent Stier“) spannt über dem kugelrunden Bauch. Nein, das brüchige Blech halte allerhand aus. Mit zwanzig Filmleuten habe man hier oben schon gestanden.

Arrieta weiß auch um das Staunen. Ein Filmteam hier, in den Eingeweiden der Stadt, in den No-go-Areas der Metropole, die ihren Kollaps von vor wenigen Jahren längst verdrängt zu haben scheint? Oh ja, und keine schnelle Sozialreportage, sondern richtiges Kino. Einen Sciencefiction-Thriller haben sie hier gedreht, nach einer fixen Idee von Arrieta und dank der Obsession eines jungen spanischen Regisseurs, Sebastian Antico. „Wo steht, dass die Außerirdischen nicht auch in der Villa landen können?“, sagt der Mittfünfziger mit dem grauen Haarzopf. Es ist kein Scherz, eher ein Glaubensbekenntnis.

Villa – das klingt fein und steht doch für eines der vielen Armutsviertel in Buenos Aires. Seit einem Vierteljahrhundert wohnt Arrieta mit seiner Frau Maria Esther in der Villa, alle ihre zwölf Kinder sind hier zur Welt gekommen. Er hat Müll gesammelt, in der Fabrik gearbeitet, Zeug verkauft („alles außer Elefanten“) und Mitte der Achtziger dann die Schauspielerei entdeckt. Ganz zufällig, ein paar umherschweifende Studenten brauchten einen Clown.

Einträglicher als die brotlose Theaterpassion sind Film und Fernsehen. Immer mehr Produzenten suchen „reale“ Drehplätze, in über dreißig Produktionen haben Arrieta und seine Nachbarn aus der Villa 21 schon mitgewirkt. Haben Licht und Catering, Schminke und Kostüme organisiert, Kabel getragen und für „die Sicherheit“ beim Dreh in der wilden Villa gesorgt. Besonders stolz ist Arrieta auf sein Casting, „tausend Gesichter“ habe er im Angebot, groß und klein, hell und dunkel.

Es sei doch praktischer, wenn gleich die Armen die Armen spielen, denen müsse man das Elend nicht erst anschminken. „Und wo findest du einen wie mich, mit langem Haar und Zahnlücke, der auch noch einen zusammenhängenden Satz sagen kann?“ Das Viertel Barracas liegt nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Treffpunkt war eine Straßenkreuzung. An einer Ecke bietet einer Backwaren in einer Plastikkiste an. An einer anderen stehen drei Polizisten herum, ohne erkennbare Aufgabe oder Beschäftigung.

Die Hitze weicht allmählich milderen Temperaturen. Barracas ist ein schmuddeliger, weitläufiger Kiez. Obstkisten quellen aus kleinen Läden auf die Straße, daneben gibt es eine vergitterte Wäscherei, hier wie überall das obligatorische locutorio, das Telefonlädchen, und ein kiosco, wo es Zigaretten, Schokolade und Handykarten, aber niemals Zeitungen zu kaufen gibt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hinter einem rostigen, im Nieselregen verwaisten Freiluftgrill, beginnt ganz offensichtlich etwas anderes. Eine andere Art von Häusern, wie aneinandergewachsen, roher Backstein, grauer Zement, Plastikplanen und Kabelwirrwarr. Schon nach wenigen Schritten in eine der engen Gassen in der labyrinthischen Häuseransammlung ist die Orientierung verloren.

Im Innern der Arrieta-Residenz setzt sich das Labyrinth fort, auch akustisch. Die Türen stehen offen, von allen Seiten wabert Stimmengewirr ins Wohnzimmer. Der Regen prasselt aufs Dach, irgendwo bellen Hunde, der Fernseher läuft. Was auch immer man für Bilder vom Innenleben eines Armenviertels im Kopf gehabt haben mag, hier sieht es anders aus. Ein blitzneuer Gefrierschrank steht auf den frisch verlegten Fliesen, riesige Herdplatten beherrschen die Küchenecke, in der Ecke welkt ein Pflänzchen im Blecheimer. Über allem kreist ein rotlackierter Ventilator. Maria Esther, eine kräftige Paraguayerin mit klarem Blick, sitzt am Küchentisch und lädt zum Mate ein, dem argentinischen Kollektivkräutertee, der von Hand zu Hand wandert und den alle mit einem Metallhalm aus einem ausgehöhlten Kürbis saugen.

Hinter ihr hängt ein rotes Tuch mit einem schnauzbärtigen Heiligen, mit Halstuch und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Gauchito Gil ist der wohl einzige Outdoorheilige des Kontinents, der besonders in den Villas hochverehrt wird. Im 19. Jahrhundert soll er die Reichen bestohlen und den Armen Gutes getan haben. „Ich glaube nicht an den“, lacht Arrieta, als er den ehrfürchtigen Blick der Besucherin sieht. Er glaube an „überhaupt niemanden, erst recht nicht an Revolutionstouristen“, Rebellen auf Durchreise, ob sie nun Gauchito Gil heißen oder Che Guevara.

An die Wand genagelt ist ein gerahmtes Diplom über die „Anerkennung der künstlerischen Laufbahn“, daneben ein Poster von Arrieta mit nacktem Oberkörper, ziemlich sexy. Ein Fähnchen von Boca Juniors, ein koloriertes Foto von Perón und Evita, ein Schild, auf dem „Nicht rauchen“ steht.

Apropos Evita. Vor einigen Jahren, da haben zwei Männer bei ihm angeklopft, ein Landsmann in Begleitung eines graumelierten Amerikaners. Der suche eine Location für seinen neuen Film. Arrieta zeigte ihm alles, „my house, my woman, my dog“, dann sei man noch ein bisschen durch die Gassen gelaufen.

Der Ami habe zweifelnd geguckt und mit dem Landsmann getuschelt. Der bedauert dann schließlich: „Das soll ein historischer Film werden – ihm sind das hier zu viele Fernsehantennen.“ Arrieta aber lässt sich nicht aus der Fassung bringen. „No problem“, die Antennen abschrauben gehe nicht, aber in zwei, drei Stündchen baue man dem Regisseur eine neue Villa aus zwanzig Häusern zusammen, ohne Antennen.

Der Deal kam nicht zustande. Jahre später erfährt er zufällig, dass der Besuch Alan Parker hieß und gerade sein großes „Evita“-Epos vorbereitete. Und dass sein findiger Landsmann für viele tausend Dollar auf einem Stück Brachland einen künstlichen Slum nachbauen ließ. Arrieta zuckt die Schultern. Aber sauer ist er immer noch über den Ideenklau, nie im Leben würde er sich den Film ansehen. Auch weil Madonna die Evita gibt, „das ist ungefähr so, als ob ich John F. Kennedy spielen würde“.

Zwei junge Frauen warten geduldig auf dem abgeschabten Samtsofa im Wohnzimmer. Sie wollen gerne in der Villa drehen, es geht um einen Film für die Uni, für ein internationales Festival. Arrieta setzt sich die Brille auf die Nase, studiert kurz das mitgebrachte Papier, murmelt, mehr zu sich selbst: „Ja … ja, das lässt sich machen.“ Den Hauptpart kann sein elfjähriger Enkel übernehmen. Ob es einen Sonnenuntergang hier gebe? Arrieta grinst. Aber klar doch, das lässt sich arrangieren. Nein, natürlich gibt es dafür kein Geld, sagt er, als die beiden zufrieden vondannen ziehen, das seien ja immer „ganz arme“ Produktionen. „Aber hast du das schicke Auto der Mädels gesehen?“

Der argentinische Regisseur Federico León hat einen Film über Julio Arrieta gedreht, „Estrellas“ (Sterne), ein Making-of jener irren Sciencefiction-Produktion vor ein paar Jahren. Keine Armutsreportage mit verwackelter Handkamera, sondern ein Spiel zwischen denen drinnen und denen, die von draußen in die Villa kommen. „Die Filmleute waren genauso Eindringlinge wie Marsmenschen“, sagt der ernste junge Mann im Gespräch. Was in diesem Fall auch heißt: ebenso willkommen. Die Villa sei ja „pure Gegenwart“.

Arrieta aber will höher hinaus. León schenkt ihm einen grandiosen Abspann: Julio in schwarzem Sakko am Steuer eines dunklen Wagens, neben ihm Maria Esther mit rotgeschminkten Lippen, man meint, die Ohrringe klimpern zu hören. Beide schauen unbewegten Gesichts in die Kamera, minutenlang, die Fenster sind geöffnet, das Haar weht im Fahrtwind, Bonnie und Clyde auf Argentinisch.

Die Wünsche im wirklichen Leben sind profaner. Schön wäre schon, sagt Julio Arrieta, wenn endlich mal einer käme, der „vernünftig bezahlt“, für Schauspieler, Sicherheit und Wellblechsetting.

ANNE HUFFSCHMID, 42, lebt als freie Autorin und Kulturwissenschaftlerin in Berlin