Fernbeziehungen

Ein Panorama der höchsten Werte einer Generation – gemessen an der Realität

REDAKTION PRAK.MAG

Pragmatische Ethik

Lisa ist 24, seit zweieinhalb Jahren ist sie in der Berliner Medienbranche als Produktionsassistentin oder Set-Aufnahmeleiterin für Werbung und Musikvideos tätig. Sie lebt in Prenzlauer Berg, der Berliner Heimat dieser Branche, und ihr Freundeskreis besteht ausschließlich aus Leuten, die ebenfalls bei Film und Fernsehen arbeiten. Das wichtigste Thema in diesem Freundeskreis ist die Arbeit – und dass man bald die Schnauze voll hat von ihr.

Wer im Medienbereich arbeitet, hat zwangsläufig auch Freunde aus der Branche, erzählt Lisa. Zum einen, weil die übliche 50- bis 60-Stunden-Woche einen so einnimmt, dass man die wenige verbleibende Freizeit nicht noch dazu nutzt, seinen Bekanntenkreis durch irgendwelche zeitaufwendigen Hobbys zu erweitern, um an zusätzlichen Projekten zu feilen. Abends und am Wochenende wird konsumiert und gefeiert, quasi exzessiv entspannt. Und dann rekrutiert sich Lisas Freundeskreis aus Medienleuten, weil die Branche nur funktioniert, wenn alle wie eine große Familie sind und am gleichen Strang ziehen. Anders ist die erhebliche Unterbezahlung auch kaum zu rechtfertigen. Es geht immer um das gemeinsame „Baby“ der jeweiligen Firma. Da lohnt es sich, die Leute privat zu kennen und im selben Club zu feiern wie der Arbeitgeber – und so entstehen eben die Freundeskreise. Die Eigenschaften, die man haben muss, um beliebt zu sein, sind zwangsläufig dieselben, die man im Job haben sollte, meint Lisa: Organisationstalent, Entschlussfreudigkeit, man muss kommunikativ sein, auf dem Laufenden über das, was so passiert, in der Welt, aber vor allem in der Branche. Man sollte wissen, was man will, Zukunftsperspektiven haben, Ehrgeiz, Durchhaltevermögen.

Und, sagt Lisa immer wieder, man muss das, was man tut, immer nur vorübergehend tun wollen. Auch mal über was anderes reden können, auf dem Boden geblieben sein. Man darf sich trotz der familiären Strukturen nicht mit dem Job identifizieren. Wer das tut, sieht nämlich nicht mehr, was so ein Beruf in Wirklichkeit mit einem macht. Dass man keinen Blick mehr für den Rest der Welt hat. Geistig auf der Strecke bleibt, weil die freie Zeit auch zum Lesen zu kostbar ist und langwierige Diskussionen verlorene Zeit sind. Beziehungen führen ist auch schwer, sagt Lisa. Probleme vertagt man oft auf „nach dem Projekt“, aber dann läuft meistens schon das nächste.

Also einerseits alles geben für das Firmenbaby, nie Nein sagen, alle gern haben. Andererseits die ganze Sache distanziert betrachten, nicht so werden wollen wie die Medienzombies, auf keinen Fall in der Branche hängen bleiben. Schon paradox, sinniert Lisa. Hinzu kommt noch, dass es ja die ganze Zeit hauptsächlich um die Karriere und das Dabeibleiben geht.

Anerkennung von seinen Freunden bekommt man, wenn man gut und gefragt ist, und das äußert sich irgendwann auch mal im Finanziellen. Statussymbole sind wichtig, Klamotten, ausgehen können, sich und den anderen etwas gönnen, wenn man schon mal Zeit hat. Wer finanziell nicht mithalten kann, fällt da auf die Dauer raus – nicht, weil er unbeliebt ist, sondern weil er sich die Freizeitgestaltung nicht leisten kann. Auf keinen Fall würde jemand als uncool gelten, der ungewöhnlich wenig Geld verdient. Aber wenn einer wirkt, als würde er nur rumkrebsen, aber trotzdem Kohle macht, dann unterstellt man ihm doch irgendwelche Fähigkeiten und bringt ihm größeren Respekt entgegen als dem Krebser ohne Kohle.

Respekt und Anerkennung gibt es meist nur aus der eigenen Branche. Sonst lobt keiner den gelungenen Werbespot für eine fette Autofirma. Lisas Vater ist stolz auf sie, aber nur, weil sie so viel arbeitet. Und selber kann sie auch nicht richtig dahinterstehen, zu viel ethischen Anspruch sollte man nicht haben. Komisch ist, dass gleichzeitig so viel drüber gesprochen wird.

Wenn es eine Art Wert gibt, den man teilt, dann ist es dieses Bewusstsein über die moralische Unzulänglichkeit des eigenen Lebensstils, sagt Lisa. Du musst Distanz halten, innere Unabhängigkeit wahren.

Konfliktfreier Individualismus

Pia sagt, sie kennt eigentlich niemanden, der nicht studiert. Wegen dieser Homogenität findet sie ihren Freundeskreis auch ein bisschen weltfremd. Sie selbst ist 25, schließt gerade ihr Psychologiestudium ab, die anderen studieren durchweg Geisteswissenschaften oder was Künstlerisches. Pias Freundeskreis ist relativ groß, wenn man die ganze Clique zusammen betrachtet, hat aber eine spinnennetzartige Struktur, wie sie es nennt. Als sie alle aus irgendwelchen Provinzen nach Berlin kamen, brauchte jeder dringend Freunde, um die Großstadt gemeinsam erobern zu können und sich seinen Platz in der Berliner Vielfalt zu ergattern. Mittlerweile haben sich innerhalb der Gruppe einzelne Freundschaften gefestigt, die zu zweit oder zu dritt gepflegt werden, die Clique kommt seltener zusammen, mit weniger Notwendigkeit als früher.

Um in Pias Freundeskreis Einlass zu finden, muss man selbstverliebt, eloquent, witzig und laut sein. Offenheit ist wichtig, ohne eine gewisse Extrovertiertheit geht man unter, und es braucht souveräne Intellektualität, die man mit Understatement statt mit angestrengter Theoriepropaganda vermitteln kann. Das Wichtigste ist, dass man ein Typ ist; Originale sind gefragt. Früher ging es auch um gemeinsame Projekte, da hatten sie mal ein Künstlernetzwerk gegründet. Das hat dann aber eher einen Selbstzweck erfüllt, die Leute veranstalteten Partys und blieben am Ende wieder unter sich. Heute geht man zwar zusammen ins Theater, auf Partys, ins Konzert oder ins Kino, aber solche Projekte gibt es nicht mehr.

Sachen, für die man arbeitet, zeigt man seinen engsten Freunden, und mit ihnen werden die Dinge auch diskutiert. Ansonsten wird mit Inhalten eher gespielt. Die Rollen innerhalb des Freundeskreises sind längst geklärt und, wie einige Themen, die früher heiß diskutiert wurden, auch schon ein bisschen ausgelutscht, findet Pia. Das Diskutieren wird eher um seiner selbst willen betrieben, ist so was wie ein Sport. Man muss gut argumentieren und Positionen vertreten, flexibel denken und sich überzeugen lassen können. Um die Wertung der Positionen oder deren Verortung in politische Lager und dergleichen geht es weniger. Hervortun kann man sich mit Fachwissen, aber die Mitbetrachtung möglichst vieler Perspektiven ist wichtiger. Klar identifizieren sich die Leute auch mit bestimmten Dingen. Aus Diskussionen können sehr emotionale Streite werden. Aber in der Individualität des Einzelnen und dem Freaksein besteht ja die Definitionsgrundlage der Clique, so dass diese Konflikte ganz gut abgefedert werden – Freundschaften zerbrechen nicht an Meinungsverschiedenheiten.

Das Emotionale ist ihr viel wichtiger, sagt Pia, die emotionale Lebensauffassung. Es geht ihr darum, ihr Gefühlsleben teilen zu können, und nicht ihre Ansichten über Politik, die sie auch eher nur am Rande interessiert. Nur im spezifischen Sinne von Macht, sagt sie. Pia geht davon aus, dass ihre Freunde für ähnliche Machtverhältnisse einstehen wie sie selbst. So was zeigt sich einfach im Alltag, zum Beispiel ist das Leben in Kreuzberg eine Aussage darüber, dass man für die pluralistische und multikulturelle Gesellschaft ist. Das Selbstverständnis ihrer Clique kann vielleicht besser in der Abgrenzung beschrieben werden, meint Pia abschließend: Sie sind nicht spießig, nicht intolerant, nicht Durchschnitt. Nicht spießig zu sein heißt, sein Ding zu machen. „Und wenn das dann auch ein spießiger Job ist. Es kommt mehr darauf an, dass wir machen, was wir wollen.“

Gespräche: LOTTE EVERTS

Relatives Verständnis

Mehrdad sitzt in einem Kaffee in Neukölln und trinkt Bionade. Er ist 29 Jahre alt und im Iran geboren. Vor drei Jahren ist er nach Deutschland gekommen. Er spricht fast fließend Deutsch, das hat er bei einen Kurs in Jena gelernt. Jetzt studiert er in Berlin Iranistik und Philosophie. Zuvor hat er im Iran Physik studiert und als Lehrer gearbeitet. Als er neun Jahre alt war war, ist sein Bruder nach Deutschland gegangen.

Seit meiner Kindheit habe ich eine Vorstellung von Deutschland, es war für mich immer eine andere Welt“, sagt er. Im Iran sei alles ideologisch geprägt und eingeschränkt. An Deutschland habe ihn immer die Kultur fasziniert, Museen, Theater, Kunst. „Deshalb war es für mich sehr wichtig, Deutsch zu lernen, ich habe mir viel Mühe gegeben in den ersten acht Monaten in Jena“, erklärt Mehrdad ein bisschen stolz. Obwohl er kaum Sprachprobleme hat, habe er trotzdem das Gefühl, hier nicht wirklich am Leben teilnehmen zu können, an Gesprächen zum Beispiel. Wenn sich Deutsche in seinem Alter unterhielten, dann würden sie über ganz andere Sachen sprechen als Gleichaltrige im Iran. „Deutsche sind natürlich ganz anders aufgewachsen, mit anderen Gedanken, mit anderen Vorstellungen“ meint Mehrdad. Wenn sie etwas von sich erzählen, seien sie oft sehr rational. „Ich finde, dass Gespräche unter Freunden oft seriös und fast wissenschaftlich sind. Wenn ich in Deutschland etwas darüber erzähle, wie es meiner Generation im Iran geht, werde ich dagegen oft emotional“, erklärt er. Die Jugend im Iran vermisse Individualität und Modernität, das sei ein sehr schwieriges Thema. Das gesamte Leben sei politisch, alles habe damit zu tun. Die Jugend sei deshalb oft gleichgültig. Man sucht nach Hilfsmitteln, um sich zu befreien oder einen Ausgleich zu haben, Literatur zum Beispiel. Dichtung und Internet. Viele junge Menschen schrieben in Bloggs, Persisch sei eine der größten Sprachen im Netz. In Deutschland vermisst Mehrdad manchmal diese Emotionalität oder diese Nichtrationalität, schwankt irgendwie hin und her. „Meine deutschen Freunde sind neugierig und versuchen, mich zu verstehen“, sagt er, „aber wie sie uns verstehen, ist ganz anders, als wir Iraner uns selbst verstehen.“

Gespräch: SIMONE MIESNER

Bedingte Loyalität

Jonas hat erst mal nicht den Eindruck, dass zu seinem Freundeskreis irgendwie bestimmte Leute gehören. Ganz normal, manche arbeiten, viele auch nicht. Zufällig sind viele gelernte Köche dabei, aber das war es auch an Gemeinsamkeiten. Jonas selbst ist 26, hat sein Abitur abgebrochen, danach zwei Lehren angefangen, die beide nicht sein Fall waren. Jetzt jobbt er, wenn es was gibt, oder eben nicht. Er hat viele Freunde, alles Berliner, die meisten hat er an der Gesamtschule kennengelernt. So das ganz große Thema gibt es bei ihnen nicht, man verbringt Zeit miteinander, redet übers Wochenende, Partys, Kiffen. Sport auch mal, Basketball, bei einigen geht es viel ums Malen, also Graffiti. Pokern, das ist eigentlich die Hauptsache, da sind sie gerade im Fieber.

Jonas will lieber keine klaren Kriterien bestimmen, nach denen sich sein Freundeskreis konstituiert, er mag es nicht, Leute einzusortieren. Die meisten Einschätzungen, die er äußert, relativiert er wieder: Das ist so oder auch nicht – keine Ahnung. Jonas mag keine Vorurteile und guckt sich jeden erst mal an. Wenn er selbst irgendwo neu ist, hält er sich zurück. Bleibt cool, wartet ab, hängt sich nicht gleich in jedes Thema.

Seine Freunde respektieren ihn, weil er vermitteln kann, wenn es Ärger gibt. Er steht hinter ihnen, man kann mit ihm reden, wenn einer mal was hat. Und weil er ehrlich ist, kein Hintenrum, das kann er nämlich nicht haben. Von seinen Freunden erwartet er auch Ehrlichkeit, und er findet es gut, wenn man sich unter Kontrolle hat. Oft sind die anderen nicht so. Es kommt schon vor, dass einer „hart“ ist, also besoffen, und dann auf die eigene Hardness nicht klarkommt. Wahrscheinlich kifft er noch dazu, und irgendwann lässt er was raushängen, pöbelt Leute an, Kontrollverlust eben. Jonas ist so was peinlich und unverständlich, denn im Normalzustand sind das alles liebe Menschen.

Aber Freunde bleiben sie in jedem Fall, am nächsten Tag wird kurz drüber geredet, und gut ist. Es kommt einfach mehr darauf an, dass man gut zusammen abhängen kann, auch mal Scheiße bauen, eben Pferde stehlen kann.

„Eintrittsbedingungen“ gibt es auf jeden Fall keine. Vielleicht haben manche im Freundeskreis schon Vorurteile, Zecken sind nicht so ihr Style. Wenn ihnen das Aussehen von jemandem nicht passt, dann halten sie sich erst mal fern. Aber wenn man sich kennenlernt, ist das Aussehen scheißegal. Für Jonas sowieso, der kennt ein paar Zecken, mit denen redet er auch mal.

Politische Einstellungen spielen definitiv keine Rolle. Wegen der eigenen Meinung unter Kumpels nicht auf einen Nenner kommen, das gibt’s bei ihnen nicht. Jonas ist selbst nicht richtig rechts und auch nicht links, wen interessiert schon, was man wählt? Eine gute soziale Ader haben, umgänglich sein, diese Dinge spielen eine Rolle. Was Jonas nicht leiden kann, sind Arroganz und eben Vorurteile – aber deswegen würde er niemandem übel nehmen, welche zu haben. Er kann nur für sich sprechen, er kennt viele Leute, da unterscheiden sich auch die Urteile – keine Ahnung.

Gemeinsame Projekte gibt es eigentlich nicht, aber Träumereien ohne Ende. Sie wollten mal einen Fußballverein gründen, aber es ist beim Spielen geblieben. Sie wollten mal einen Laden aufmachen wegen der ganzen Köche. Aber da redet man darüber, und am nächsten Tag ist alles beim Alten.

Zum Schluss erzählt Jonas vom letzten Streit, als einer mit der Ex von einem Kumpel rumgemacht hat. Ein Dritter kam damit nicht klar, weil sie eben die Ex eines gemeinsamen Freundes war. Das hat er auch gesagt, und der andere hat sich gegen die Beleidigungen gewehrt. Dann gab es Stress. Ist aber schon wieder alles in Butter. Nur, was mit der Freundin eines Kumpels haben ist Scheiße, irgendwie unehrenhaft. Aber ihre Freundschaft hält so was aus, sagt Jonas. Gespräch: LOTTE EVERTS

Nüchterne Familiarität

„Ich kokettiere damit, dass ich Iraker bin“, sagt Sinan, „manchmal ist das hilfreich. Vor allem beim Flirten.“ Sinan ist 28 und arbeitet als Cutterassistent und Schauspieler in Berlin. Um seine Geschichte zu erzählen, muss er weit ausholen. Eigentlich ist er nämlich gar kein Iraker, und die einzige Erinnerung an das Land, in dem er geboren wurde, ist die an eine Rakete am Mossuler Nachthimmel. Das war in den frühen Achtzigerjahren, und im Irak war Krieg. „Die Rakete sah aus wie eine Wunderkerze, als Kind versteht man die Zusammenhänge ja nicht“, sagt Sinan. Die Frau, die er seine Mutter nennt, verliebte sich vor seiner Geburt in einen irakischen Mann, der zum Studieren nach Deutschland gekommen war. Gemeinsam gingen sie in den Irak und lebten in einem Haus direkt neben dem Bruder des Mannes. Die beiden wollten Kinder, bekamen aber keine, während die Schwägerin nebenan keine Kinder mehr wollte, aber ein viertes bekam: Sinan. Drei Jahre lang wuchs er bei seinem Onkel und dessen Frau auf, bis die beiden sich trennten und seine Adoptivmutter mit ihm zurück nach Deutschland ging.

Sinan, der drei Geschwister und unüberschaubar viele Cousins und Cousinen in Mossul hat, lebte also als Einzelkind in einem Dorf bei Darmstadt. „Meine Familie war meine Mutter, mehr gab es nicht“, sagt er. Seine Mutter hat ihm früh erzählt, dass er adoptiert ist. „Familie war für mich nie wirklich wichtig, ich bin jemand, der auch gerne allein ist.“ Er hat einen besten Freund, mit dem er reden kann. Und es gibt einen großen Freundeskreis, der „eine familiäre Struktur hat“.

Jahrelang hörte Sinan nichts von seiner unbekannten Großfamilie. Das erste Signal aus der Welt, die unter anderen Umständen seine geworden wäre, war ein Briefumschlag, den er kurz vor dem Jahreswechsel 2000 bekam – von seinem leiblichen Bruder. Sinan war neunzehn und hatte Angst. „Ich wollte den Umschlag nicht aufmachen. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber sobald ich ihn geöffnet hätte, hätte ich mich der Verantwortung stellen müssen.“ Dazu die Angst vor einer fremden Kultur und Religion. „Mir war das zu viel.“ Der Briefumschlag landete in einer Schublade, Sinan wollte auf die richtige Stimmung warten. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen.

Er zog von Darmstadt nach Berlin, der Arbeit wegen. Die unbekannten Verwandten zogen von Mossul nach Dubai, des Krieges wegen. Sinan begann als Schauspieler zu arbeiten, während sein älterer Bruder von Dubai aus Notstromaggregate in den Irak verkaufte. Im März 2007 findet Sinan den vergessenen Umschlag und öffnet ihn. Und dann war da drin einfach nur eine Klappkarte: „Happy New Year 2000“. Keine Lebensgeschichte, keine Erwartungen und Fragen: „Sieben Jahre habe ich gewartet und Angst gehabt, und dann war es einfach nur ein ‚Frohes Neues‘!“ Und weil die Karte so unerwartet bescheiden war und weil sie so lange unbeantwortet geblieben ist, beschließt Sinan, sich zu melden. Das Geschwistertreffen findet im Juni in München statt, der Bruder kommt aus Dubai dorthin. „Wir haben ein bisschen was geklärt und Familiengeschichte ausgetauscht. Aber zum Glück wurde ziemlich schnell eine normale Unterhaltung daraus. Einfach zwei Menschen, die sich kennenlernen.“ Sinan bleibt nüchtern, wenn es um seine Familie geht, eigentlich hat die ganze Geschichte nichts verändert.

Zurzeit arbeitet Sinan daran, Regisseur zu werden. Er recherchiert für einen Verhörfilm, „weil das Drehkosten spart: immer der gleiche Drehort, immer die gleichen Darsteller“. In dem Film geht es um die Radikalisierung einer neuen linken, globalisierungskritischen Bewegung. Der Film soll „Die Kinder von Genua“ heißen und ist Sinans großes Projekt. „Ich war nie besonders politisch“, sagt Sinan, „aber seit ich diesen Film drehe, hat sich das geändert.“ Er war mit einem Freund zusammen bei den G-8-Blockaden in Heiligendamm und beeindruckt von der Wut der Menschen. „Dort ist mir die Idee zu dem Film gekommen. Und zurzeit lese ich viel über die RAF, das Thema fasziniert mich. Aber keine Angst, ich rufe nicht zur Revolution auf“, grinst er.

Dann verrät er noch, was er sich von der Zukunft erhofft. Das klingt zutiefst bürgerlich und auch sehr ehrlich: „Ein Haus, zwei Kinder und einen Hund.“ Schon komisch, dass er sich wünscht, was er selber nie hatte und doch auch nicht zu brauchen glaubt. Von seiner Mossuler Verwandtschaft erwartet er nicht, die Familienlücke in seinem Leben zu schließen. „Aber ich fürchte fast, es wird passieren. So wie man sich arabische Familienstrukturen eben vorstellt.“ Im Oktober fliegt er nach Dubai, um den Rest seiner Familie kennenzulernen. „Meine Mutter. Und meinen Vater.“ Sinan wird bei der Vorstellung etwas unruhig. „Das wird dann vielleicht doch noch ziemlich krass.“

Gespräch: ANKE LÜBBERT

Über Sinan und seine Familie wird derzeit ein Film gemacht: „Mein Vater. Mein Onkel“ (Regie: Christoph Heller). Gedreht wird in Deutschland und Dubai ANKE LÜBBERT, Jahrgang 1979, kreuzt als Kapitänin des Bildungsschiffs „Lovis“ auf der Ostsee