„Man ahnt doch die Probleme“

Gunter Gebauer, geboren 1944, ist seit 1978 Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. Vergangenes Jahr hat er sich in seinem Buch „Poetik des Fußballs“ dem Sport mit ethnologischen Mitteln genähert FOTO: AP

Alles Zeitfragen. Auch der Relaunch von Marx. Sicher aber ist sich Professor Gunter Gebauer, dass selbst der „Terminator“ die Philosophie nicht ersetzen kann

INTERVIEW LOTTE EVERTS

taz.mag: Herr Gebauer, Sie sind jetzt seit fast dreißig Jahren Professor für Philosophie. Hat sich die Herangehensweise der Studierenden an die Philosophie in dieser Zeit verändert?

Gunter Gebauer: Man kann in diesen drei Jahrzehnten drei verschiedene Generationen beobachten. Da hat sich eine Menge verändert. Zunächst gab es die Post-68er-Generation im Gefolge dessen, was die jungen Leute 68, zu denen ich auch gezählt habe, bewegt hat und unter Umständen noch immer bewegt. Das waren Leute, die so etwas wie eine politisierte, an der Gesellschaft interessierte Philosophie betrieben haben. Es ist schwer zu sagen, wann das aufgehört, folkloristische Züge bekommen und an Ernsthaftigkeit verloren hat. Man kann sagen, dass die Philosophie Mitte der Siebziger bis Anfang der Achtziger so etwas wie eine Flaute durchlaufen hat, als die großen Themen ausdiskutiert waren und kein neues Thema in Sicht war.

Gegen Anfang bis Mitte der Achtziger trat dann die zweite Generation, die der Postmoderne, in dieses Vakuum ein, die eine sehr spielerische Art des Philosophierens vorführte und mit starker kritischer Verve zunächst alle möglichen Traditionen in Frage stellte. Auch die damals gerade erst vergangene der politisierten Generation. Die Auseinandersetzung mit postmodernen oder poststrukturalistischen Theorien hat danach nicht vollkommen aufgehört. Aber die postmoderne Attitüde verschwand in der dritten Generation vor sechs, sieben Jahren. Seit dieser Zeit finde ich nun eine dritte Generation, die ich als eine von jungen Studierenden beschreiben würde, die sehr ernsthaft daran interessiert sind, etwas aus der Tradition zu lernen. Vorherrschend finde ich bei den Studienanfängern der letzten Jahre, dass sie sehr ernsthaft sind, mit wenig Selbstüberschätzung kommen und versuchen, selbstkritisch an die Dinge heranzugehen und einen Grund, einen Boden zu finden, auf dem sie stehen können.

Warum wenden sich junge Leute mit gesellschaftspolitischen Fragen noch an die Philosophie?

Die Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit diesen Themen wird immer verspielter und irrelevanter. Das, was in den Medien verhandelt wird, sind häufig extreme Belanglosigkeiten, die junge Leute, die sich mit wirklichen Problemen befassen wollen, abstoßen. Mir scheint es, als sei das oft ein Motiv, sich mit seinen Fragen an die Philosophie zu wenden. Wenn sie öffentlich und populär noch vorkommen, dann treten sie zum Beispiel in Filmen auf, da gibt es durchaus ernsthafte Themen. Die werden verpackt in Spielfilmhandlungen, oft mit Hollywoodcharakter, werden mit irgendwelchen Helden dargestellt und gehen in dieser Form in die Populärkultur ein. Klassische Beispiele sind „Terminator II“, „Matrix“ oder „Memento“. Diese Filme behandeln ja im weitesten Sinne die Frage der Erinnerung, die nach dem Realitätsgehalt des Lebens, der Vorprägung, der Zukunft …

nach der Linearität von Zeit …

… nach der Kausalität des eigenen Handelns, solche Dinge. Manchmal werden diese Themen auf ganz ingeniöse Weise behandelt, aber natürlich nicht in der Strenge und auf die Art, wie die Philosophie das macht. Man ahnt die Probleme, und deswegen kommen diese Filme auch bei jungen Zuschauern so gut an. Aber in den Debatten der Öffentlichkeit kommen sie nicht vor. Sofern es überhaupt noch große Debatten gibt. Wir haben im Augenblick eine große Vernichtungsapparatur von Ernsthaftigkeit, die von der Politik und vielen Medien betrieben wird. Sobald es irgendwie ernst wird, wird versucht, das in Detailproblemen oder eben in Form von Populärkultur zum Verschwinden zu bringen.

Welche Parallelen gibt es in der Philosophie zu diesen Entwicklungen des gesellschaftlichen Zeitgeistes?

Um beim Beispiel der Postmoderne zu bleiben, nehmen wir einmal entsprechend allgemein akzeptierte Positionen, also Derrida, Foucault, auch Deleuze, Baudrillard oder Lyotard. Das sind ja in den meisten Fällen ältere Leute gewesen, die in den Dreißigerjahren geboren wurden und durchaus selbst eine politische Phase gehabt haben. In Weiterentwicklung dieser Positionen haben sie sich schließlich depolitisiert, innerphilosophische Positionen bezogen und eine sehr ausgeklügelte, feine, sich ins Ästhetische hineinbewegende Philosophie entwickelt.

Es gibt nur wenige, die das nicht mitgemacht haben, zum Beispiel Bourdieu. Bei ihm findet man bis in die letzten Lebensjahre die Befassung mit konkreten Themen der Gegenwart, zum Beispiel der Globalisierung. Dazu muss man sagen, dass die Verundeutlichung der Gegnerschaften ab den Siebzigerjahren auch dazu beigetragen hat, dass große Alternativen schwieriger zu positionieren waren. In den Sechzigerjahren war die Gegnerschaft viel eindeutiger und die Politisierung quasi das Gebot der Stunde. Es war sehr sexy, große Gesellschaftsentwürfe zu machen, gewaltige Dinge, wie die Zukunft auszusehen hatte. Als dann gesehen wurde, dass nichts davon auch nur annähernd in die Wirklichkeit umzusetzen war und die ganzen Gebäude zusammenkrachten, ohne tiefe oder sichtbare politische Spuren zu hinterlassen, da war das sozusagen durch. Und dann hat sich die Gesellschaft mit ihren Konsumformen so weit entwickelt, dass diese allgemein akzeptiert worden sind, es keinen Widerstand mehr dagegen gibt. Das Bedürfnis nach Alternativen gab und gibt es weiterhin, und das spürt man auch bei einigen der genannten Autoren. Aber es ist keiner der Philosophen fähig, der Gegenwart einen politischen Entwurf zu geben.

Die französische Philosophie ist nach wie vor ein Trend, auf den Studienanfänger stoßen. Stichworte wie Ideologiekritik, Subversivität, Denkwege, um Bestehendes aus den festgefahrenen Bahnen zu bewegen, suggerieren Alternativen. Nur soll das stetige Werden und das Ausweichen vor Festlegungen auf ästhetischem Wege verwirklicht werden.

Damit nennen Sie den vielleicht wichtigsten Punkt. Die Hauptkritik der französischen Philosophie ging dahin, dass man versucht hat, über ästhetische Modelle einen Gegenentwurf, eine andere, natürlich bessere Welt zu finden. Eine Welt mit einer höheren Sensibilität für wichtige Themen, mit Kunstwerken, die in der Lage sein sollten, Utopiecharakter zu vermitteln. Den sollten sie nicht nur zeigen, sondern auch den Elan der Utopie auf die Wirklichkeit übertragen. Diese Grundüberlegung finden Sie dort überall. Aber diese Hoffnung darauf, dass die Gesellschaft über die ästhetische Produktion in eine neue Richtung gebracht würde, auf eine neue Art von Sinnlichkeit und auf Zukunftsentwürfe, die man aus der Kunst erhalten sollte, ist eindeutig nicht aufgegangen. Die hat eine totale Bauchlandung erlitten, das ist weder durch Filme noch durch Theaterstücke oder Performances noch durch die besten und aufregendsten Bilder und Musikproduktionen geschehen. Die Welt, so wie sie war und ist, kann nur politisch verändert werden.

Der Einzige, der versucht hat, Aktionen wirklich handfest zu unternehmen, war Bourdieu. Der ist nun aber auch nicht einer von denen gewesen, die eine schicke, attraktive Theorie in die Welt gesetzt haben. Er ist nicht smart. Derrida scheint smarter, weil er weniger verständlich und total ästhetisch ist in seinen Entwürfen. Er hat zwar mit einer stark kritischen Komponente in seinem Gebrauch von Ästhetik angefangen, das ist ja der Grundgedanke von dem Ganzen, aber die ist bald mit dem Zeitgeist außerhalb der Philosophie verschmolzen, der Ästhetik verwendet, um Waren zu verkaufen.

Inwiefern?

Seit den Sechzigerjahren ist die Ästhetik nach und nach von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen zwecks sozialer Distinktion für die Inszenierung ihrer Lebensstile verwandt und symbolisch aufgeladen worden. Sie ist ein Medium geworden, in dem Ökonomie stattfindet. Das war ursprünglich so nicht vorgesehen.

Weswegen es schwer geworden ist, ästhetische Theorien, Gegenstände, Aktionen vorzulegen, die nicht vom Markt populärer Konsumprodukte aufgesogen werden?

Ja, es ist ja gerade so, dass das Widerständige, das An- und Abstoßende, das Revoltierende in der Ästhetik zum wonnigen Thrill derjenigen wurde, gegen die er gerichtet war. All das ist vom Markt aufgenommen und kultiviert worden. Damit wurde Ästhetik zahnlos und harmlos gemacht. Das sieht man in allen ästhetischen Produktionen, die sich gegen etwas richten. Nehmen Sie zum Beispiel die Volksbühne in Berlin, die politisch engagierte Inszenierungen macht. Dort treffe ich Leute, die aus meiner Sicht zu den ganz konservativen Bürgern gehören, deren Lebenshaltung in den Inszenierungen kritisch betrachtet wird.

Auch die Ironie hat dabei ihre Brennschärfe verloren. Ohne Ironie, Selbstironie und Zynismus kann man zum Beispiel in der Werbung oder im Kino nicht mehr bestehen.

Ja, Ironie dient nur noch dazu, die Widersprüche der Welt auszuhalten. Und damit spielt sie das Spiel mit. Ich glaube überhaupt nicht an die zersetzende Kraft der Ironie.

Kommen wir noch einmal auf die dritte Generation der Philosophiestudierenden zurück.

Die hat nun eine neue Haltung gefunden, nämlich sehr sachlich an die Sachen heranzugehen. Ob es dabei zu großen gesellschaftlichen Entwürfen kommt, steht auf einem anderen Blatt. Aber dass man zu Grundsätzen kommt, dazu, bestimmte Dinge zu wollen und andere nicht, dass man sich klar positioniert, den Eindruck habe ich zweifellos. Interessant an dieser Generation ist auch, dass sich einige der ganz jungen Studierenden brennend für Marx interessieren.

Wie erklären Sie sich das?

Es war Zeit notwendig, um dahin zurückzukommen, sich ernsthafte politische Positionen zu erarbeiten. Dabei geht es heute nicht sehr vollmundig und obertheoretisch zu, sondern sachlich, mit kleinteiligeren, aber klaren Positionen und Auffassungen. Das finde ich wichtig. Mir scheint das eine positive Auswirkung dessen zu sein, dass Konflikte kaum noch kollektiv, das heißt: gemeinsam empfunden werden, sodass es keine Notwendigkeit gibt, schnell handlungsfähig zu werden, ohne groß in die Details zu gehen. Und es ist eine Folge eines sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitsempfindens, das ich bei den Studierenden beobachte. Hinzu kommen aber auch einfache Sachzwänge, die zur Rationalisierung des eigenen Studiums führen können. Die Zeitsituation hat sich sehr geändert und wird von den StudienanfängerInnen der letzten Jahre gespürt. Sie übersetzen diese Situation in eine neue Ernsthaftigkeit des Studierens mit Blick auf das, was nach dem Studium kommt. Die Leute überlegen, was sie mit ihrem Studium anfangen könnten, in welche Berufe sie möchten. Es wird gründlich geplant, vor allem aus Notwendigkeit.

LOTTE EVERTS, Jahrgang 1982, studiert Brotloses in Berlin. Von ihrer Generation erwartet sie deswegen, durchgefüttert und bei Laune gehalten zu werden