Radikal antijüdisch

Dreißig Jahre Deutscher Herbst und die RAF: Diese Terroristen fühlten sich auch als Opfer – des deutschen „Judenknax“. Viele Linke haben sich diesen Blick zu eigen gemacht

VON VEIT MEDICK

Bei aller Kritik habe doch die RAF Ziele verfolgt, die über jeden – linken – Zweifel erhaben seien. In diesen Tagen ist dies auch in dem Buch „Das Projekt sind wir“ von Karl-Heinz Dellwo nachzulesen. Dessen Sound mag für die heimliche oder unverhohlene Liebe von Hunderttausenden von Sympathisanten in jenen Jahren genommen werden: Die RAF sei doch ein Teil des antifaschistischen Kampfes gegen das sogenannte Schweigen der Vätergeneration über ihre Verstrickungen während des Nationalsozialismus gewesen, eine nötige Rebellion, bei der, nun ja, einige Menschen über die Klinge gesprungen seien.

Ebendiese Rede von den eigentlich guten Zwecken des linken Terrorismus ist ein Missverständnis. Umgekehrt kommt man der Wahrheit näher, gerade mit Blick auf das Verhältnis der RAF und ihrer KaderInnen zu Israel und zum Mord an den europäischen Juden: In seinem Antizionismus verwischte der Linksterrorismus der Siebziger- und Achtzigerjahre die Grenzen zur Leitideologie der Vätergeneration – dem Antisemitismus.

Um zu begreifen, wie es etwa dazu kam, dass 1976 ein deutsch-palästinensisches Terrorkommando im ugandischen Entebbe die Insassen eines gekidnappten Flugzeugs in Juden und Nichtjuden selektierte, muss man rund zwölf Jahre eher in die Geschichte einsteigen. Ausgerechnet das spätere moralische Gewissen der RAF, Ulrike Meinhof, umriss 1965 in der Zeitschrift Konkret ihre Gedanken über das Ende des Zweiten Weltkriegs, wie man sie heutzutage eher der Neuen Rechten zuordnen würde. Aufbauend auf ein Zitat des inzwischen verurteilten Holocaustleugners David Irving schrieb sie: „In Dresden ist der Anti-Hitler-Krieg zu dem entartet, was man zu bekämpfen vorgab und wohl auch bekämpft hatte: zu Barbarei und Unmenschlichkeit, für die es keine Rechtfertigung gibt.“ Wie kann dieser Satz anders denn als Versuch gelesen werden, den Deutschen (während des und nach dem Nationalsozialismus) mildernde Umstände zuzusprechen?

Dass diese Äußerung kein Ausrutscher war, zeigte Meinhof im Jahre 1972, als sie ähnlich argumentierte: „Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vorging –, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren.“

Unbewiesen ist, ob viele ihrer GenossInnen diese Sichtweise teilten – Dementis aber gab es keine. Unumstritten ist aber, dass Israels Verteidigungsminister Mosche Dajan zum Wiedergänger Heinrich Himmlers erklärt wurde und dass die Palästinenser als die Juden des Nahen Ostens zu nobilitieren seien. Die RAF bildete, auch dies eine Tatsache, eine strategische Front mit der palästinensischen Guerilla gegen die Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik in Israel.

Meinhof, Ensslin, Baader und all die anderen: Man sah sich als Täter wie Opfer zugleich. Täter im Sinne des Kampfes gegen Imperialismus, Amerika und Zionismus – und Opfer, denn man solidarisierte sich mit Guerillagruppen in Südamerika, mit dem vietnamesischen Vietcong und antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika wie Südostasien. Ein simpler Dualismus charakterisierte die Weltsicht des neuen Antiimperialismus, dem sich auch die RAF angehörig fühlte: Hier die aufständischen Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika, dort die amerikanischen Aggressoren.

Mit dem Sechstagekrieg 1967 wurde Israel in dieses Raster integriert. Der Zufluchtsort der Holocaustüberlebenden hatte sich gegen erneute Vernichtungsvisionen – diesmal arabischer Spielart – triumphal zur Wehr gesetzt. Der sich radikalisierenden Linken in Deutschland ging das eindeutig zu weit. In den Jahren zuvor, als der jüdische Staat aufgrund seines zarten Alters noch etwas wackelig auf den Beinen war, etablierte sich zwar das Gefühl moralischer Verantwortung Israel gegenüber. Ein Konsens, der so stabil nicht gewesen sein konnte. Denn in der Sekunde, als Israel seine Muskeln ausgepackt hatte, ohne die Welt um Erlaubnis zu fragen, meinten plötzlich viele Linke, in diesem Land einen Hort imperialistischer Sklavenhalterei erkennen zu können.

Für den einflussreichen Sozialistischen Deutschen Studentenbund jedenfalls war Israel („Brückenkopf des westlichen Imperialismus in Arabien“) nach Ende des Sechstagekriegs nichts als ein Alliierter der verhassten USA. Stattdessen wurde die palästinensische Fatah zum Hoffnungsträger für sozialrevolutionäre Sehnsüchte und damit der Nahe Osten zur Projektionsfläche der eigenen Sehnsüchte.

Dass es sich bei der Israelkritik nicht um bloße Empörungsrhetorik handelte, sondern jüdische Einrichtungen von Teilen des linksterroristischen Spektrums fortan zu erklärten Zielscheiben wurden, demonstrierten die Tupamaros Westberlin (TW). Am 9. November 1969 deponierten Mitglieder dieser TW eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, die während einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht 1938 explodieren sollte. Der Sprengsatz schadete niemandem, sein Zünder war nicht intakt.

In einem Bekennerschreiben heißt es unter dem Titel „Schalom + Napalm“: „Jede Feierstunde in Westberlin und in der BRD unterschlägt, dass die Kristallnacht von 1938 heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt wird. Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“

Um einer moralischen Zwickmühle zu entgehen – denn sterben sollten ja jene, auf die es auch Hitler und seine Gefolgschaft abgesehen hatten –, wurde Israel kurzerhand bezichtigt, sich nationalsozialistischer Methoden im Kampf um Selbstbehauptung zu bedienen. Die Entlastungslogik wirkte einfach: Wenn die Opfer Schuld auf sich laden, sind wir von unserer historischen Sünde befreit und zum erneuten Kampf befugt.

Innerhalb der linken Szene fand die Aktion mit der Bombe geringen Anklang. Dieter Kunzelmann, Leitfigur dieser Truppe von Tupamaros, warf daraufhin seinen Genossen vor, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. In einem mutmaßlich in Westberlin verfassten „Brief aus Amman“ schrieb er seinen Freunden: „Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax.“

Die ideologische Neusortierung von Opfern und Tätern, die Diffamierung des deutschen Schuldbewusstseins und die Vorurteilsperspektive Israel und seiner Bevölkerung gegenüber waren allerdings keineswegs alleinige Produkte verschrobener Stadtguerillas. Offensichtlich kamen Israels Kriege auch für RAF und Revolutionäre Zellen einer historischen Entlastung gleich. Im antiimperialistischen Korsett tilgten auch sie Schuldgefühle, indem die Opfer von damals erneut bekämpft wurden.

In finanzieller und militärischer Hinsicht geradezu überlebenswichtig, so zumindest umschrieb es einmal Peter-Jürgen Boock, waren für deutsche Linksterroristen ortskundige Partner in der Region. Über Jahre hinweg verband einen folglich mit palästinensischen Widerstandsgruppen eine Liaison, deren weltrevolutionäre Visionen selten einen völkisch-nationalen Horizont überschritten und die in der Zerstörung Israels ein hehres Ziel zu verfolgen glaubten: mit Fatah und der Volksfront zur Befreiung Palästinas, der PFLP.

Zahlreiche RAF-Mitglieder, unter ihnen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, erlernten erst in arabischen Ausbildungscamps den bewaffneten Kampf und wurden so Teil von Söldnertruppen, deren Hauptbeschäftigung darin lag, Flugzeuge der israelischen El Al zu kapern, deren Mitarbeiter zu lynchen und so den jüdischen Staat zu erpressen.

Wohl selten aber ist das Ausmaß der antijüdischen Haltung der RAF so unverblümt kommuniziert worden wie in ihrer Analyse des Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München, der mit einem Doppelmord initiiert wurde und mit einer gescheiterten Entführung endete.

Zynisch wird die Terroraktion des palästinensischen Kommandos „Schwarzer September“ glorifiziert als „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“ und den Attentätern eine „Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge“ zugeschrieben. Um die vermeintliche Grausamkeit des von Israel und den USA vertretenen verschwörerischen Globalimperialismus herauszustellen, bot auch hier der Nationalsozialismus den Verfassern eine schier unerschöpfliche Vergleichsquelle. Unmissverständlich sprechen sie von „Israels Nazifaschismus“, Verteidigungsminister Mosche Dajan wird zum „Himmler Israels“. Der von Ulrike Meinhof verfasste Text gipfelt in der These, die israelische Regierung habe ihre Sportler „verheizt wie die Nazis die Juden“.

Diese Pogromrhetorik war weder unter der ohnehin auch damals heiklen Überschrift Antizionismus zu verbuchen, noch als gedankliche Schrulle einer intellektuell verkommenen Szene zu begreifen. Dieses Bekenntnis war jedoch nur das markanteste Beispiel einer vermeintlich antizionistischen Argumentation von deutschen Linksterroristen. Tatsächlich wurde schon die bloße Staatsangehörigkeit Israels zum Schuldfaktor halluziniert – und der Davidstern, Israels Staatssymbol, als feindliches Zeichen interpretiert: Das war mehr als eine antijüdische Versuchung, das war purer Antisemitismus.

Wie weit einzelne RAF-Mitglieder die zynische Opferumdeutung mit Hilfe einer allseits einsetzbaren NS-Schablone verinnerlicht hatten, brachte Ulrike Meinhof zum Ausdruck, als sie 1972 im Prozess gegen Horst Mahler ihre Haftbedingungen mit Konzentrationslagern verglich: „Jetzt reden wir mal von Köln-Ossendorf, das Lager, dessen Wahrzeichen ein Schornstein ist.“ Antwortend auf die Frage nach einer Antisemitismusdefinition verfing sie sich schließlich in einer Teillegitimierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.

Die Juden, so Meinhof, seien ermordet worden, „als das, was man sie ausgab – als Geldjuden. Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch.“ Und weiter: „In diesem Antisemitismus, der ins Volk reinmanipuliert worden ist, war die Sehnsucht nach dem Kommunismus, die dumpfe Sehnsucht nach der Freiheit von Geld und Banken.“

Die Flugzeugentführung von Entebbe 1976 und die Selektion der Passagiere in nationalsozialistischer Manier war letztlich nur praktische Konsequenz dessen, was in der Münchner Analyse Ulrike Meinhofs verewigt wurde. Dass innerhalb des PLFP-Kommandos mit Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann von den Revolutionären Zellen ausgerechnet zwei Deutsche federführend waren und auf der Liste der freizupressenden Terroristen mehrere RAF-Mitglieder zu finden waren, dürfte da kaum überraschen.

Distanzierende Auseinandersetzungen mit entsprechenden Taten und Verlautbarungen finden sich bei der RAF nirgends – weder in den unzähligen Stellungnahmen, die noch folgen sollten, noch in der Erklärung von 1998, mit der sich die Terrortruppe endgültig auflöste. Stattdessen liest man im dortigen Schlussabschnitt den Satz: „Wir werden die GenossInnen der palästinensischen Befreiungsfront PFLP nie vergessen.“

Die RAF ist Geschichte. Nicht zuletzt ihr dürfte es aber zu verdanken sein, dass bei vielen die Verlockung nicht nachgelassen hat, den Nahen Osten durch das beschränkte Prisma der antiimperialistischen Perspektive zu betrachten. Überlebt hat die Obsession, den politischen Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn mit Nazifantasien anzuheizen. Der aus dieser Haltung resultierende Antizionismus beschränkt sich heutzutage jedoch mitnichten auf linksradikale Szenemilieus.

Längst ist er salonfähig geworden und Teil jedweder „objektiven Bewertung“ der nahöstlichen Situation, kurz: Heute ist er in Kreisen wahrnehmbar, die des Terrorismus gänzlich unverdächtig sind. Es scheint sich dort der Glaube durchzusetzen, durch den Geschichtsunterricht gleichzeitig die Ausbildung zum Therapeuten genossen zu haben, und zwar für zwei Patienten: für das ehemalige Opfer, das selbst handgreiflich wird, und für sich selbst, den Täternachkommen, der nach Schuldstilllegung lechzt.

Anders lässt sich schwerlich erklären, dass Udo Steinbach, Direktor des Orient-Instituts, bezweifelt, palästinensische Selbstmordattentate unter Terrorismus fassen zu können. Man müsse „im Blick auf Warschau und im Blick auf den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto auch fragen dürfen, war das dann nicht auch Terror?“ Ähnliche Überlegungen dürfte auch Rupert Neudeck, der Erfinder der Cap Anamur, angestellt haben, bevor er in seinem neusten Buch „nicht mehr schweigen“ wollte und vor der „Freundschaftsfalle Israel“ warnte. Unvergesslich auch der deutsche Bischof, der Anfang des Jahres bei einem Besuch im palästinensischen Ramallah glaubte, in den dortigen Lebensverhältnissen das Warschauer Ghetto vor Augen zu haben.

Unzweifelhaft ist die Situation der Palästinenser katastrophal. Aber in Gaza oder im Westjordanland ein Großraum-KZ sehen zu wollen, zeugt von epochaler Geschichtsklitterung. Und ob diese den offensichtlichen Durst nach Selbstentlastung stillen kann, darf bezweifelt werden. Zudem schreibt man mit verzerrten historischen Assoziierungen und Gleichsetzungen den Palästinensern eine Realität vor, aus der heraus die Vision eines eigenen Staates schier unerreichbar erscheinen muss. Das gilt heute, das galt auch vor dreißig Jahren.

VEIT MEDICK, Jahrgang 1980, Politikwissenschaftler, volontiert bei der taz seit 2007