Schulpolitik: Lernen von Spickzetteln

Ein Wiener Schulrat will das Schummeln legalisieren. Ein verzweifelter Versuch, die Institution Schule zu retten.

Komprimiertes Wissen - ein gut gemachter Spickzettel (hier mit den 10 Geboten) ist viel Arbeit. Bild: dpa

Die skurrilste Idee der an Skurrilitäten ohnehin nicht armen Diskussion über die Schulreform kam - naturgemäß, möchte man sagen - aus Österreich. Der Wiener Stadtschulrat wagte vor einiger Zeit den Vorstoß: Schummeln solle erlaubt werden.

Natürlich ging es bei diesem Vorschlag nicht um ein Zuckerl für lernfaule Schüler, sondern um ein pädagogisches Konzept. So waren einige Experten der schulischen Sozialisation bei ihren Zöglingen, namentlich bei den "schlechten", in die Lehre gegangen und haben Folgendes erfahren: Schummeln will gelernt sein. Und: Schummeln ist alles andere als erleichternd. Richtiges, das heißt effizientes Schummeln, ist relativ aufwändig. Ein Experte brachte es auf den Punkt: Ein wertvoller Spickzettel sei viel Arbeit - eine bislang verbotene Arbeit. Kurz nach dem Bericht aus Pisa suchten Pädagogen nach neuen Ansätzen: Die Produktivität des regelwidrigen Verhaltens ist eine üppige Ressource, die bislang nur individuell genutzt wurde. Nun sollte diese Energie dem gesamten Betrieb zugeführt werden. Anders gesagt: Man wollte versuchte, diesen Überschuss einzufangen. Das ist ebenso paradigmatisch wie widersprüchlich.

Denn Schummeln sollte nicht einfach als solches erlaubt werden, es sollte vor allem geregelt werden. Die sogenannten Spickzettel sollten genormte und geprüfte "Lernhilfen" sein (fünf mal fünf Zentimeter groß, einseitig beschriftet und vom Lehrer unterschrieben): Sogar das Schlimmsein sollte geregelt werden. Das ist die wahnhafte Vorstellung, selbst die Übertretung noch erfassen zu können. Gleichzeitig steckt darin aber auch ein - obzwar verqueres - Verständnis für die Formen heutiger Integration.

Denn die Schule ist, wie wir seit Foucault wissen, von Beginn an eine Disziplinarinstitution - zunehmend aber eine paradoxe. Denn sie funktioniert nicht einfach darüber, dass brave Schüler strenge Regeln befolgen. Sie funktioniert vielmehr gleichermaßen durch Anpassung wie durch Regelüberschreitungen. Sie ist nicht einfach eine Institution, die Affirmation erzeugt, sondern vielmehr ein Feld, ein Ordnungsrahmen, der Affirmation und Negation ermöglicht. Sie hat die ihr adäquaten Übertretungen gleichzeitig mit ihren Disziplinierungen hervorgebracht, sie mitproduziert.

Die Schule ist eine Disziplinarinstitution, zu der regelwidriges Verhalten dazugehört. So hat sie einerseits die Massen in konformes Verhalten eingeübt, andererseits wurde die Schule zunehmend auch zum Terrain für romantisierte Übertretungen, die in einer Art Heldenerzählung festgehalten wurden. Schulen haben also zwei Arten des Wissens produziert: Unterwerfung durch Affirmation und Herrschaftswissen als Wissen um den Umgang mit Wissen.

Heute, wo man nicht so sehr eine Masse von Befehlsempfängern braucht, sondern vor allem "Unternehmer ihrer selbst", "autonome" Subjekte, die ihr Leben selbst verantwortlich effizient und unternehmerisch organisieren, heute wird dieser rebellische Affekt besonders wichtig. Die Gesellschaft, die Ökonomie, sie brauchen nicht einfach Affirmation, um zu funktionieren. Sie bedürfen vielmehr solch negierender Energien, die sie, im Unterschied zu früheren Konsensvorstellungen, gleichzeitig aber auch bedrohen können. Insofern müssen sie diese Energien auch wieder integrieren können. Durch eine freiwillige Unterwerfung zweiter Ordnung gewissermaßen, die die Produktivkraft der Übertretung sowohl bändigt als auch nützt. Alle Disziplinarinstitutionen sind gezwungen, ihre Funktionsweise zu ändern. Sie müssen diese Energien aus den Abweichungen einfangen und umlenken: Widerstand wird als Selbstständigkeit, Schummeln als Kompetenzerwerb und Problemlösungsfähigkeit integrierbar und integriert.

Dabei gerät zum einen die Instanz der Autorität ins Strudeln, will sie sich doch gerade, indem sie nicht mehr als solche - als Autorität - auftritt, bestätigen. Zum anderen zerstört sie damit teilweise das Potenzial, das sie gewinnen wollte. Denn ein Großteil der Energie und Fantasie, die dabei freigesetzt werden, dient ja dem Umgehen des Verbots - diese lässt sich nicht regulieren und einfangen. Das "Schlimmsein" muss - und wird - sich ein neues Terrain erschließen. Die Frage ist nur, ob daraus noch ein Subjekt entstehen kann.

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