Sommer 1974

Sinnika ist weg. Sie verschwand an genau derselben Stelle, an der dreiundreißig Jahre zuvor ein Mädchen verschwunden war. Ein Vorabdruck

VON JAN COSTIN WAGNER

Er glaubte, sich zu erinnern, dass er kurz, er wusste nicht, wie lange, aber es konnten ja nur Sekunden gewesen sein, sitzengeblieben war. Er glaubte sogar, sich an ein Flackern in Pärssinens Augen zu erinnern, an einen Moment des Zweifels. Pärssinen hatte für einen Moment an ihm gezweifelt, aber dann war er auch aufgestanden und hatte einen Schmerz im Unterleib gespürt, während er Pärssinen ins Freie gefolgt war.

Die Sonne war warm gewesen und Pärssinens roter Kleinwagen von monate-, vielleicht jahrealtem Matsch verdreckt. Sie waren eingestiegen.

In seiner Erinnerung sah er Pärssinen am Steuer sitzen. Sich selbst auf dem Beifahrersitz sah er nicht. Während der Fahrt hatte Pärssinen wieder angefangen zu reden. Hektisch und eindringlich. Hatte alles noch mal schnell erklärt, auf den Punkt gebracht, und er hatte an den Film gedacht, an eine ganz bestimmte Szene, eine Situation in diesem Film, diesem Film, eine bestimmte Situation, und dann hatte er gespürt, dass es bald, gleich zu Ende sein würde, dass es jetzt erst begann, aber auch gleich zu Ende sein würde. Und Pärssinen hatte gesagt, sie würden diesen Scheiß jetzt durchziehen und hatte gleichzeitig den Blick von der Straße genommen und ihn angestarrt, und für einen Moment, den Moment, den er gebraucht hatte, um auszuweichen, hatten Pärssinens Augen ihn getroffen.

Danach hatte er durch die Scheibe die trockene Straße betrachtet, und die Sonne hatte über ihrem roten Auto gehangen, und er hatte an eine bestimmte Szene aus einem Film gedacht, hatte sie sich ausgemalt, hatte sich vorgestellt, diese Szene wirklich zu erleben, und Pärssinen hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und vor sich hin gemurmelt, wenn er draußen am Straßenrand etwas sah, und dann den Kopf geschüttelt und gesagt: „Nein, geht nicht.“

Dann hatte Pärssinen begonnen, vor sich hin zu fluchen und war ganz aus der Stadt herausgefahren, und er hatte gespürt, dass Pärssinen wusste, was er tat, obwohl Pärssinen versichert hatte, so etwas auch noch nie gemacht zu haben, und dass erst ihre Bekanntschaft, ihre Begegnung, ihr Zusammenfinden, wie er es ganz am Ende einmal genannt hatte, ihm klargemacht hätte, dass es sein müsse, dass es verdammt noch mal sein müsse und dass es keinen Sinn hätte, dagegen anzugehen, sondern dass sie es tun würden, gemeinsam tun würden, und während Pärssinen über die Landstraße gefahren war, hatte er gespürt, dass es jetzt so weit war, dass es jetzt passieren würde, was immer es war, und er hatte die Szene aus einem gerade gesehenen Film in sein Hirn hineingepresst, bis er begriffen hatte, dass nichts eine Rolle spielte und jede Art von Explosion eine Erleichterung sein würde.

Pärssinen war abgebogen und hatte ihm einen Klaps auf die Schulter gegeben und ihm signalisiert, in eine bestimmte Richtung zu schauen, durch das Fenster auf der Fahrerseite. Er hatte gesehen, was Pärssinen ihm zeigen wollte, und Pärssinen hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und gestöhnt. Vor sich hin gesummt oder gestöhnt, er wusste es nicht genau, hatte es schon damals nicht gewusst, auf jeden Fall hatte Pärssinen die Geschwindigkeit gedrosselt, hatte abwechselnd nach vorne und in den Rückspiegel geschaut, hatte schließlich den Wagen gestoppt, die Hand an die Tür gelegt und gesagt: „Bereit?!“

Und er hatte, daran erinnerte er sich genau, entgegnet: „Was meinst du?“ Pärssinen hatte nicht mehr reagiert, sondern nur noch gesagt: „Jetzt!“

Und dann war Pärssinen aus dem Wagen gestiegen, und er hatte ihn laufen sehen, ruhig und zielstrebig, und genau da hatte er begriffen, dass es zu Ende war, dass es vollkommen zu Ende war, und dass es begann, und Pärssinen hatte das Mädchen vom Fahrrad gestoßen, es in das Feld gezerrt, und er hatte die beiden nicht mehr gesehen, nur noch das Fahrrad, das auf dem Weg gelegen hatte, der Lenker in einer falschen, in einer schiefen Position.

Er war aus dem Wagen gestiegen und musste zwanzig, dreißig Meter zu dem Fahrradweg, zu dem auf dem Weg liegenden Fahrrad gelaufen sein, obwohl er sich an die Sekunden, in denen er diese Meter zurückgelegt hatte, nicht erinnern konnte.

Als Erstes hob er das Fahrrad auf.

Rückte den Lenker zurecht. Dann ging er einige Schritte in das Feld und betrachtete Pärssinen, der auf dem Mädchen lag. Er sah Pärssinens entblößten Hintern und die Beine des Mädchens. Pärssinen redete: „Macht doch nichts, mach doch, mach doch, mach, mach, mmm?“ Das Mädchen schwieg, vermutlich, weil Pärssinen ihm den Mund zuhielt. Pärssinen war kräftig, klein, aber kräftig.

Er stand eine Weile und wartete darauf, dass es zu Ende war. Denn es war zu Ende. Es war ja zu Ende.

„Nein. Bitte nein, lass, lass das doch“, sagte er nach einer Weile.

Einige Zeit später richtete sich Pärssinen auf und zog die Hose hoch. „Scheiße“, sagte er. Er schwitzte.

Das Mädchen lag reglos und starrte Pärssinen an.

„Scheiße“, sagte Pärssinen, und während er versuchte, in Pärssinens Gesicht zu erkennen, was Pärssinen damit meinte, dachte er, dass es zu Ende war, und Pärssinen beugte sich über das Mädchen und drückte ihm die Kehle zu.

Das Mädchen reagierte kaum.

Als er einen Schritt in Pärssinens Richtung machte, stand der schon wieder auf und sagte: „Scheiße, wir müssen sie wegschaffen“, und als er nichts erwiderte, präzisierte Pärssinen: „Verschwinden lassen, die muss weg, kapiert! Jetzt hilf mir, du Arsch!!“

Er stand da und betrachtete Pärssinen, der das Mädchen den Fahrradweg entlangschleifte. „Jetzt hilf mir doch, Mann!“, sagte er, und als er sich nicht rührte, weil es nicht ging, legte Pärssinen das Mädchen ab, rannte zum Wagen und fuhr ihn näher an die Stelle heran, an der das Mädchen lag.

Pärssinen stieg aus, ging in die Hocke, schien sich kurz zu konzentrieren, dann hievte er das Mädchen ruckartig in die Höhe und ließ es in den Kofferraum sinken. Er schloss die Klappe, warf das Fahrrad in das Feld und sagte: „Weg hier!“

Er stand da und betrachtete das Fahrrad im Feld.

„Willst du hier bleiben oder was?!“, rief Pärssinen.

Er ging auf den Wagen zu. Er stieg ein.

Pärssinen startete den Wagen. Sie fuhren eine Weile schweigend. Die Sonne schien hell. Nirgends ein anderes Auto. Irgendwann bog Pärssinen auf einen Waldweg ab.

„Ich kenne das hier“, murmelte er. Das Mädchen. Er dachte an die Beine des Mädchens. Sie hatte noch Schuhe angehabt und lag im Kofferraum. „Ich kenne das hier, da hinten kommt ein See“, hatte Pärssinen gesagt und den Wagen auf immer schmaler werdenden Wegen in den Wald gesteuert.

Auf der Heimfahrt hatte Pärssinen geschwiegen und geschwitzt. Er hatte es gerochen, er roch es auch in der Erinnerung. Pärssinen hatte geschwitzt, wie er noch nie einen Menschen hatte schwitzen sehen, sein graues Hemd war durchnässt gewesen und hatte an seinem Körper geklebt. Er selbst hatte nicht geschwitzt. Er hatte gezittert. Ihm war kalt gewesen. Wer immer ein wenig darauf geachtet hätte, hätte diesen merkwürdigen Unterschied zwischen ihnen bemerken müssen, hätte bemerken müssen, dass einer schwitzte und einer fror, obwohl sie im selben Wagen unterwegs waren, aber sie begegneten niemandem, sodass sich auch niemand darüber wundern konnte.

Er hatte neben Pärssinen im Wagen gesessen, hatte begonnen, die Häuser wiederzuerkennen, die vorbeiflogen, die Straßen, auf denen sie fuhren, und er hatte an das Mädchen gedacht. An den Moment, in dem Pärssinen es ins Wasser hatte hinabsinken lassen, und an eine Szene aus Pärssinens Film, die damit nichts zu tun hatte, die er einfach nicht aus dem Kopf herausbekam, obwohl alles längst vorbei war und er auch nichts getan hatte, denn er hatte das Mädchen nicht berührt, hatte es nicht einmal berührt, dessen war er sich sicher, hatte sich geweigert, für Pärssinen auch nur einen Finger zu rühren.

Pärssinen war gefahren, und er hatte hinter der Windschutzscheibe einen Sommertag gesehen.

Als sie schließlich angekommen waren, als Pärssinen den Wagen auf dem Parkplatz neben dem von Bäumen umrankten Betonklotz abgestellt hatte, war er ausgestiegen, hatte den schwitzenden Pärssinen sitzen lassen, war nach oben in seine Wohnung gegangen und hatte gleich begonnen, alles, was herumlag, alles, was er in Schränken und Schubladen fand, in seine Reisetasche zu werfen.

Er hatte auf die Uhr gesehen, hatte sich zwanzig Minuten gegeben, hatte alles, was nicht in die Reisetasche passte, in Mülltüten geworfen, den Kühlschrank geleert, die Vorräte in den Müll geworfen, alles in den Müll, in mehrere Mülltüten, die er neben seiner Reisetasche abgestellt hatte, hatte das Bettzeug vom Bett entfernt und in eine weitere Mülltüte gestopft, und dann war er nach unten gegangen, hatte dreimal gehen müssen, nach unten in die Sonne und wieder nach oben in die Wohnung, die im Schatten gelegen hatte, er hatte im Schatten und in der Sonne gefroren und wie in weiter Ferne Pärssinen gesehen, der die Reifen seines Wagens mit einem Schlauch abspritzte. Er hatte Pärssinen in der flirrenden Sonne bei seiner Arbeit zugesehen und währenddessen die Mülltüten, eine nach der anderen, mit kontrollierten Bewegungen in den Container fallen lassen.

Inzwischen waren auch Menschen da gewesen, hatten ihn gestreift, waren gekommen und gegangen, hatten irgendwo herumgestanden, ohne Näheres von ihm zu wollen, die alte besoffene Frau, die direkt neben ihm wohnte, hatte Einkäufe getragen und Selbstgespräche geführt, und Susanna, das Mädchen, das im Haus gegenüber wohnte und an das er häufig gedacht hatte, von dem er manchmal geträumt hatte, war mit zwei Freundinnen an ihm vorbeigelaufen, und die drei hatten ihn so fröhlich begrüßt, wie man das an einem Sommertag tun durfte.

Die Mädchen hatten gekichert und erzählt, dass sie vom See kommen von einem anderen See, und Pärssinen hatte nicht weit entfernt den Kofferraum gewienert und geschrubbt, ohne den Kopf zu heben.

Er war hinter den Mädchen zurück ins Haus gegangen, die Mädchen hatten Badeanzüge getragen und nasse Haare gehabt und waren barfuß gelaufen, obwohl auf dem Asphalt häufig Scherben von Bierflaschen lagen, darüber hatte er nachgedacht, während er Schritt für Schritt nach oben gegangen war, und dann hatte er die Wohnungstür hinter sich geschlossen, das Telefonbuch genommen und die Firma angerufen, die die Möbel und das Bett aus der Wohnung holen und entsorgen sollte.

Es war nicht einfach gewesen, dem Mann klarzumachen, dass es sich nicht um einen Umzug handelte, sondern um das Entsorgen nicht mehr zu verwendender Möbel, aber irgendwann hatte der Mann alles begriffen.

Er hatte anschließend eine Weile aus dem Fenster auf die Bäume und in den Himmel gestarrt und durch die Scheibe leise den Staubsauger gehört, mit dem Pärssinen seinen Wagen reinigte.

Dann war er noch einmal die kleine Wohnung abgelaufen, hatte mit dem, was noch immer herumlag, eine allerletzte Mülltüte gefüllt, mehrfach war er durch die Wohnung gelaufen, hatte sich vergewissert, dass sie wirklich leer war, und dann war er in den weißen Flur getreten, hatte die Tür zugezogen, hatte gehört, wie sie eingerastet war, hatte den Schlüssel stecken lassen für die Männer von der Umzugsfirma und war nach unten in die Sonne gegangen.

Er hatte die Mülltüte in den Container geworfen. Pärssinen hatte im Wagen auf der Rückbank gekauert und Flecken entfernt, die es nicht gab, nicht geben konnte, denn das Mädchen hatte nur im Kofferraum gelegen. Aber Pärssinen war nicht zu bremsen gewesen, und er war an den Wagen herangetreten und hatte gesagt: „Ich gehe jetzt.“

Pärssinen hatte sich aufgerichtet und ihn angestarrt. „Sie hat geblutet. Der Kofferraum ist voller Blutflecken.“

„Ich gehe jetzt“, hatte er wiederholt und gesehen, wie sich in Pärssinens Gesicht die Überraschung ausgebreitet hatte, die er selbst empfand, die Überraschung über vollkommene Ruhe, die ihn umgab. Seine Reisetasche hing leicht über seiner Schulter, die Sonne wärmte, und was Pärssinen sagte, hörte er kaum.

„Ich gehe jetzt. Wir sehen uns nicht wieder“, hatte er gesagt und kurz Pärssinens halb geöffneten Mund betrachtet, dann hatte er sich abgewendet und war zur Bushaltestelle gegangen. Nach wenigen Minuten war der Bus gekommen, er hatte eine Fahrkarte gekauft und sich in die letzte Bank gesetzt.

Das graue Haus, das nichts mit ihm zu tun hatte, war schnell aus seinem Blickfeld verschwunden, der rote Kleinwagen war ihm, als der Bus auf die Landstraße einbog und noch einmal den Blick auf den Parkplatz freigab, wie ein Spielzeugauto erschienen. Pärssinen hatte er nie wieder gesehen.

JAN COSTIN WAGNER, Jahrgang 1972, lebt bei Frankfurt und in Finnland. Sein dritter Roman, „Das Schweigen“ (284 S., 19,90 Euro), aus dem der Text dieser Seite stammt, erscheint dieser Tage im Eichborn Verlag