Pirat der Karpaten

Die Entdeckung des wilden Ostens, neue Folge: Der Frankfurter DJ Shantel hat wie kaum ein anderer den Balkan-Sound populär gemacht. Aber noch ist er nicht zufrieden. Mit seiner Band „Bucovina Club Orkestar“ und dem neuen Album „Disko Partizani“ will er endgültig raus aus der Nische und rein in den Pop-Mainstream

Er hat ein ehrgeiziges Ziel: ein Genre mit regionalem Stallgeruch im Mainstream der Popkultur zu verankern

VON DANIEL BAX

Er kann nicht singen, und die E-Gitarre baumelt auffällig nutzlos um seinen Hals. Die meiste Zeit steht er bei seinem Konzert leicht verlegen auf der Bühne herum. Irgendwann öffnet er mit den Worten „Duty Free Istanbul!“ eine Flasche Wodka und verteilt sie an die Zuschauer in den ersten Reihen. Ansonsten überlässt er es seiner Band, für Stimmung zu sorgen; sein Einsatz beschränkt sich auf Zwischenrufe der Sorte „Hallo Berlino!“. Ehrlich gesagt: Einen „King of Balkan Pop“ hatte man sich doch etwas flamboyanter vorgestellt.

Nein, das mit der neuen Rolle als Rampensau, das muss er noch üben. Die meiste Zeit seines Lebens war Stefan Hantel, der sich kurz Shantel nennt, bislang schließlich als DJ unterwegs – in sicherem Abstand zur Partycrowd hinter Plattentellern und Mischpult verbarrikadiert. Erst seit er vor ein paar Jahren die traditionellen Klänge des Balkans für sich entdeckt hat, kommt er nach und nach aus der Deckung. Mittlerweile ist es so weit, dass er sich mit einer neunköpfigen Begleitband in den Tourbus zwängt und auf Konzertreise geht.

Beim morgendlichen Treff in dem kleinen Berliner Hotel, in dem er die Nacht verbracht hat, wirkt er noch etwas zerknittert, die blonden Haare sind zerzaust. Trotzdem zeigt er sich mit seinem Rollenwechsel zufrieden: „Neulich haben wir in Rio zwischen Daft Punk und den Beastie Boys gespielt. Das ist natürlich eine große Genugtuung, wenn man sich da durchsetzen kann.“ Ganz so schwer fällt ihm das nicht: Der Name Shantel ist längst Synonym für schmissigen Folklore-Pop nach Balkan-Art – ein Genre, das er zwar nicht erfunden, zu dessen Popularisierung er aber ganz erheblich beigetragen hat.

Um zu verstehen, wie Stefan Hantel alias Shantel überhaupt dazu gekommen ist, sich der Musik des Balkans zu widmen, muss man ein wenig in seiner Familiengeschichte zurückgehen. Seine Großeltern mütterlicherseits stammten ursprünglich aus jener Region namens Bukovina, die heute zwischen Rumänien und der Ukraine aufgeteilt ist. Über Umwege hatte es sie nach dem Zweiten Weltkrieg über Umwege nach Deutschland verschlagen. Zu Hause bei ihnen in Frankfurt wurde Rumänisch gesprochen, wenn der kleine Stefan mal etwas nicht hören sollte, aber die Geschichten der Großmutter über ihre einstige Heimat faszinierten ihn. Viel später, Ende der Neunzigerjahre, reiste er auf ihren Spuren bis nach Czernovic, „aber da war nichts mehr übrig vom vergangenen Glanz dieses kulturellen Schmelztiegels“, so Shantel.

In seinen „Bucovina Club“ lässt er seine Fantasien über diesen Ort wieder aufleben. „Meine Großeltern haben immer großen Wert darauf gelegt, das Beste zu bieten, wenn Gäste kamen: Sei es mit dem Essen, das man kredenzt, oder dass den Gästen sogar das Schlafzimmer überlassen wurde, wenn sie über Nacht blieben.“ Etwas von dieser Großzügigkeit findet er auch in der Musik, die er propagiert: Sie vermag es, diverse Generationen und Szenen zu verbinden. Und so muss man wohl auch seine Rolle auf der Bühne verstehen: als die eines Gastgebers, der zur Seite tritt und es seiner Band und einer großartigen Musik überlässt, das Publikum von sich zu überzeugen.

„King of Balkan Pop“ prangt jetzt etwas großspurig auf dem Cover seines neuen Albums „Disko Partizani“ – dem ersten seit sieben Jahren, das ausschließlich aus Eigenkompositionen besteht. In einem früheren Leben machte Shantel schon einmal als Produzent von gediegenen Downbeat- und Dub-Tracks von sich reden. Dann folgte vor ein paar Jahren der Richtungswechsel gen Osten: In Frankfurt begründete er seinen „Bucovina Club“ – eine Partyreihe, zu der er poppige Balkan-Hits und den Turbo-Blaskapellen-Sound von Zigeunerbands wie der Fanfare Ciocarlia aus Rumänien auflegte. Zwei Anthologien veröffentlichte er unter dem „Bucovina Club“-Logo und erschloss damit dieser Musik ein ganz neues Publikum. Außerdem fertigte er Balkan-Remixe und komponierte Balkan-Tracks am Computer. Diese musikalische Promenadenmischung machte er zu seinem Markenzeichen. „Branding“ nennt man diese Methode im Werber-Sprech.

Durchgesetzt hat sich Shantel damit längst auf ganzer Linie. Seine Remixe tauchten etwa im Soundtrack des „Borat“-Films auf, zuletzt schrieb er die Musik zu „Auf der anderen Seite“, dem neuen Film von Fatih Akin. Auf seinem Label „Essay Recordings“ präsentiert er Künstler wie die israelische Surfrock-Combo Boom Pam, die Amsterdam Klezmer Band und den österreichischen Elektro-Liedermacherpop von Binder & Krieglstein; darüber hinaus heimste er im vergangenen Jahr den „World Music Award“ der BBC ein.

Doch all das betrachtet Shantel lediglich als eine Vorstufe seines ehrgeizigen Ziels: Er will ein ganzes Genre, das bislang seinen regionalen Stallgeruch offensiv zur Schau trug, mitten im Mainstream der Popkultur verankern: Nennen wir es „Balkan-Pop“. Mit der Rolle des erfolgreichen Balkan-Impresarios mag sich Shantel deshalb nicht mehr zufrieden geben können. Er möchte jetzt einen Schritt weiter gehen: den Schritt zum Popstar.

Deshalb drängt er sich nun mit seiner Party-Band, dem „Bucovina Club Orkestar“, ins Rampenlicht. „Das ist natürlich ein Risiko“, gibt Shantel zu, „aber manche Experimente haben mich einfach nicht befriedigt: dass man da etwa so einen Maschinenfuhrpark auf der Bühne hat, und die Band spielt dann quasi zum vorgegebenen Beat. Es muss schon so eine organische, frische Mischung sein, die man nur mit einer richtigen Band hinbekommt.“ Mit der serbischen Sängerin Vesna Petkovic, dem heimlichen Star seiner Show, und Musikern aus dem Dunstkreis des Sandy Lopicic Orkestars aus dem österreichischen Graz hat er jetzt eine Truppe um sich geschart, die seine Ideen und die Erwartungen des Publikums perfekt zu erfüllen vermag.

Natürlich ist er nicht der Erste, der sich an der musikalischen Kreuzung von Balkan-Folklore und Popkultur versucht: Die vielen Fusionen aus Roma-Traditionals und DJ-Elektronica, aber auch aus osteuropäischen Weisen und Punkrock oder gar Rap – sie bilden schon lange Genre für sich. Auf Samplern wie „Electric Gipsyland“, „Balkan Beats“ oder „Russendisko“ kann man die hybriden Underground-Blüten solcher Crossover bewundern. Mit seinem Album „Disko Partizani“ will Shantel nun aber endgültig raus aus der Insider-Nische. Dazu hat er nicht nur die balkanischen Akkordeon-Melodien und die pumpenden Bläsersätze seiner Band mit warmen Bässen und Hiphop-Beats tiefer gelegt.

Manchen Balkan-Liebhabern mag das etwas glatt gebügelt und auf Massentauglichkeit getrimmt erscheinen. Und man kann sich streiten über die Qualität von Zeilen wie „Yabadabaduh, yabadabadey, I wanna be your Disco Boy“ – universal verständlich sind sie allemal. Der englische Sprechgesang, den Shantel beisteuert, soll dem Hörer von „Disko Partizani“ aber ohnehin nur den Zugang erleichtern zu dem Kessel Buntes, der ihn erwartet: zu türkischen Melodien, griechischen Schlagern, ungeraden Balkan-Rhythmen und byzantinischer Gesangsornamentik mit ihren Viertelton-Skalen. Für den durchschnittlichen Pop-Konsumenten ist das nach wie vor ungewohnte Kost.

So versucht Shantel, sich an die Spitze jener Balkan-Welle zu setzen, die munter vor sich hin durch die Lande schwappt. Roma-Ensembles wie das Boban Markovic Orkestar oder die Taraf de Haidouks sind schon seit langem gern gesehene Gäste auf deutschen Bühnen. Und dass Eugene Hütz, Sänger der New Yorker Balkan-Punk-Kapelle Gogol Bordello, jüngst sogar Madonna bei deren „Live Earth“-Gig in London begleitete, darf getrost als Signal gewertet werden, dass der Osteuropa-Boom den Pop-Kosmos erreicht hat. Doch für Shantel ist all das bestenfalls ein Anfang. „Ich sehe das immer noch nicht als wirkliche Welle an“, wiegelt er ab: „Im Radio oder in den Massenmedien ist sie bislang ja noch gar nicht richtig angekommen.“ Er aber findet, dass den traditionellen Rhythmen und Melodien Osteuropas eine ähnliche Anerkennung gebührt, wie sie anderen Stilen – Soul, Reggae oder Latin-Music – zuteil wird. Die weisen schließlich auch regionale Wurzeln auf und zählen doch zum Kanon der Popkultur. Ein wenig ist das für Shantel auch Ausdruck eines kontinentaleuropäischen Selbstbewusstseins, ein Seitenhieb gegen die angloamerikanischen Dominanz in der Popwelt. Dass er als DJ und mit dem Bucovina Club Orkestar mittlerweile regelmäßig in Metropolen wie Istanbul, Wien oder Athen gastiert, scheint ihm da Recht zu geben.

Shantel sieht sich wohl als so etwas wie ein Pirat der Karpaten, und mit „Disko Partizani“ will er endlich den Pop-Mainstream entern. Dazu bricht er bewusst mit jeder Weltmusik-Ästhetik, die Ursprünglichkeit oder Authentizität suggeriert. „Ich wollte weg von diesem Klischee der lustigen Balkan-Bauernhochzeiten à la Emir Kusturica“, erklärt Shantel. „Mir ging es darum, dieser Musik einen gewissen Glamour zurückzugeben.“ Dazu musste er nicht unbedingt das Rad neu erfinden: viele Stücke auf „Disco Partizani“ beruhen auf traditionellen Vorlagen. „Tatsache ist, dass es die meisten Melodien, die wir in diesem Genre als Hits begreifen, wirklich schon seit 200 oder 300 Jahren gibt. Sie wurden bloß immer wieder neu arrangiert oder ergänzt“, räumt Shantel ein. Manche Verbindung stammt noch aus der Zeit, als der ganze Balkan unter türkisch-osmanischer Herrschaft stand, noch heute sind die Wege verschlungen: „Es gibt immer wieder Fälle, wo jemand sagt: ‚Siki Siki Baba, das ist doch mein Lied, das habe ich 1953 geschrieben!‘ Und zwei andere aus Serbien sagen: ‚Nein, das ist aus einer ganz anderen Zeit.‘ Das Streiten darüber ist schon fast eine sportliche Disziplin.“

Davon lässt Stefan Hantel sich nicht irritieren – genauso wenig wie von Puristen, die meinen, diese Musik könne oder dürfe nur von Zigeunern gespielt werden. „Bei meinen Begegnungen mit Musikern wie Boban Markovic hat es solche Diskussion nie gegeben. Das sind meist eher selbst ernannte Gralshüter, die so etwas zum Dogma erheben“, verteidigt er sich. Dann wird er grundsätzlich: „Musik ist zum Glück eine Angelegenheit, wo eine Idee immer weiter getragen wird. Mozart hat sich bei ungarischen Zigeunern bedient, Beethoven hat wiederum bei Mozart geklaut. Es ist ein ständiges Tauschgeschäft.“

Shantel: „Disko Partizani“ (Essay Recordings)