DIE BRASILIEN-ACHSE VON TOBIAS RAPP
Saõ Paulo in Melodieseligkeit

Es war eine ziemliche Sensation, als das Barbican Center of the Arts in London vergangenen Sommer ankündigte, im Rahmen seiner großen Tropicalia-Ausstellung werde die legendäre brasilianische Psychedelic-Band Os Mutantes spielen. Denn die war dreißig Jahre lang nicht mehr aufgetreten.

Es hätte Tropicalia – jene revolutionäre Künstlerbewegung im Brasilien der Sechziger, die das Verarbeiten äußerer Einflüsse zur Urgeste brasilianischer Kultur erklärte– wahrscheinlich auch ohne Os Mutantes gegeben. Sie hätte sich nur nicht so gut angehört. Die Vordenker der Tropicalistas waren Intellektuelle und Künstler aus dem Norden Brasiliens, die den Samba verändern wollten. Os Mutantes waren Teenager aus Saõ Paulo, die Samba nicht ausstehen konnten und Rockmusik spielten. Rita Lee, Sérgio Dias und sein Bruder Arnaldo Dias Baptista.

Rita Lee war letztes Jahr in London leider nicht dabei. Aber hört man sich Os Mutantes heute an, haben sie noch immer die gleiche Leichtigkeit, mit der sie von einem Stil in den nächsten springen, von Wahwah-Psychedelic zu Pseudo-Opernbombast zu Blues-Rock. Es sind die alten Songs, die sie spielen, in ihrer ganzen Beatles-getränkten Melodie-Seligkeit. Sie klingen noch immer so einzigartig wie schon damals.

Os Mutantes: „Live At The Barbican“, DVD + CD (Luaka Bop/Universal)

Exildepressionen

Die Tropicalia-Bewegung zerbrach, als die brasilianische Militärregierung das kulturrevolutionäre Treiben nicht länger tolerierte und Gilberto Gil und Caetano Veloso, die zwei sichtbarsten Tropicalistas, 1968 ins Exil nach London zwang. Sicher, es hätte schlimmer kommen können – für viele Brasilianer kam es auch schlimmer. Doch sonderlich glücklich schaut Veloso nicht aus in seinem Pelzmantel, den er sich auf dem Cover von „Caetano Veloso (a Little More Blue)“ fröstelnd um den Hals zieht.

1971 kommt es heraus, es ist das erste Album, das er im Exil einspielt. Abgeschnitten von den meisten seiner Mitstreiter (nicht zuletzt Os Mutantes, seiner brasilianischen Backingband), wird es eine wunderschöne (englischsprachige) Folkplatte, ganz ähnlich denen, die Nick Drake oder Tim Buckley zur gleichen Zeit einspielten. Mit traurigen Liebesbriefen nach Hause („Maria Bethânia“, einem Song für seine Schwester, ebenfalls Tropicalia-Sängerin) und einem deprimierten Stück über London („London, London“).

Es ist eine Platte des Übergangs. Nach langer Zeit, in der sie nur schwer zu bekommen war, ist sie nun wiederveröffentlicht worden. Ein durchgedrehtes Album kam noch – „Araçá Azul“. Dann begab sich Veloso ins Zentrum des brasilianischen Pop.

Caetano Veloso: „Caetano Veloso (a Little More Blue)“ (Lilith/Cargo Records)

Äpfel auf mittlerer Distanz zum Stamm

Tatsächlich möchte man Caetano Veloso nicht zum Vater haben. In der amerikanischen Vanity Fair vom vergangenen Monat, einer Brasilien-Sonderausgabe, kann man ihn sehen, wie er mit Gitarre in einem schneeweißen Prada-Anzug zwischen einem Dutzend Models sitzt und in die Kamera lacht. Mit 65 Jahren immer noch ein bildschöner Mann. Und nicht nur das: Veloso ist heute der größte Star des brasilianischen Pop, außerdem Schriftsteller, Filmemacher und Intellektueller. Man stelle sich eine Mischung aus Bob Dylan und Alexander Kluge vor. In sexy. Was macht man als dessen Sohn? Kann man nicht Anwalt werden? Muss es Musik sein?

Scheint so. Kassin+2 ist ein Projekt, das Moreno Veloso mit zwei befreundeten Künstlern betreibt: Alexandre Kassin und Domenico Lancellot. Es ist ein Trio mit wechselndem Namen, unter Domenico+2 und Moreno+2 sind bereits Platten erschienen, „Futurismo“ schließt die Trilogie ab. Wer seinen Namen hergibt, bestimmt die Richtung.

Das ist in diesem Falle Kassin, ein Experimental-Elektroniker, der auf „Futurismo“ allerdings vor allem Bossa-Tradition zuneigt. Das hat seine bezaubernden Seiten, wenn etwa der Bossa-Miterfinder João Donato herumorgelt. Futurismus geht allerdings anders.

Kassin+2: „Futurismo“ (Luaka Bop/ Universal)