Dichtung ist Wahrheit

Entwickle dich, Erinnerung, entwickle dich: Gerhard Roth erzählt von seiner Jugend im Tal des Schweigens und wie er zur Sprache fand – der autobiografische Band „Das Alphabet der Zeit“

VON HERIBERT HOVEN

Sprich Erinnerung, sprich“, so beschwor Nabokov einst die Petersburger Paradiese seiner Kindheit. In Gerhard Roths Erinnerungen an die Jahre 1945 bis 1963 vernehmen wir indes nicht die elegischen Stimmen ferner Zeiten; ist doch der 1942 Geborene im „Tal des Schweigens“ aufgewachsen, welches für Roth ebenso ein geografischer wie historischer Ort ist: die Provinzstadt Graz und die österreichische Verdrängungsgesellschaft. „Ich habe keine Erinnerung an Wörter, nur an Bilder.“ So muss er seine Rückblicke als Bilder im Kopf imaginieren, und was er sieht, sind Abgründe, aus denen nur kleine Fluchten gelingen.

Das „Alphabet der Zeit“ liest sich zunächst wie eine Jedermanns-Nachkriegskindheit. Die allerersten „Filmstreifen des Erinnerungsarchivs“ aus den letzten Kriegstagen zeigen den Angriff eines Tieffliegers, der wie ein Racheengel vom Himmel herabstößt. Bereits nach wenigen Zeilen wird die NSDAP-Mitgliedschaft der Eltern erwähnt, gleichsam die Ursünde für alles Übel. Kurz darauf rückt das berüchtigte Schlafzimmerbild des Schutzengels, der zwei Kinder über einen Bach geleitet – „das einzige Bild in der Wohnung“ – ins Blickfeld, und man ahnt, dass dieser Kindheit gerade kein himmlischer Schutz beschieden sein wird.

Das „verborgene Muster hinter der Wirklichkeit zu erkennen“, diese doppelte Sichtweise ist ein Grundzug von Roths Memoiren. Das Unsichtbare sichtbar zu machen, hat Roth beim Blick durch das Mikroskop des Vaters gelernt, der als Arzt praktizierte. Mit großer Offenheit berichtet Roth von den beengenden Wohnverhältnissen, von einer Nähe, die oft in Gewalttätigkeit umschlägt.

Das Kind erfährt, dass seine magische Märchenwelt auch „stinkend, Ekel erregend und roh“ ist. Die Mitbewohner der Stadtrandsiedlung, die der Autor in einer Zeichnung exakt skizziert, sind allesamt Freaks. Ihr Leben spielt an Unorten, zwischen Rangierbahnhof, Bombentrichter und Müllhalde, und ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, kein froher Neuanfang, nirgendwo Geborgenheit: „Ich war, wie ich mich später beim Lesen erinnerte, Gulliver im Reich der Riesen.“

Das Nebeneinander von dem, was Kinderaugen wahrnehmen, und dem Bewusstseinsgrad des reifen Berichterstatters, das sind die Koordinaten, welche die Topografie der Erinnerung bestimmen, besonders eindringlich in jener Episode, in der das Kind mit dem Vater auf Hamsterfahrt durch das winterstarre Land geht. Was als Abenteuer beginnt, endet in einer wilden Flucht vor den Besatzungssoldaten. Der Junge erlebt, wie der Vater sich anbiedert – wegen der „schlechten Zeiten“ –, was dem Kind „abstoßend“ vorkommt.

Der zweite Teil der Erinnerungen steht einerseits in der Tradition der Adoleszenzliteratur und zeigt zugleich die Anfänge des Dichtertums. Er ist im Wesentlichen „die Geschichte eines einsamen Jugendlichen“. Mit der Schule beginnt die „Not der Noten“. Wie so viele erfährt der junge Roth die Schulzeit als eine Zeit der Demütigungen. Identität erfährt er darin, die Gesetze der Erwachsenen bewusst zu übertreten und sich eine eigene Welt zu schaffen. Zunächst sind es die Fantasiereisen mit der aus Transsilvanien stammenden Großmutter, die ihren Enkel als zukünftigen Künstler bewundert, später das Kino, die Sexualität und das Tagebuch. Aus dem „Tal des Schweigens“ führt der Weg der Selbstfindung hinaus über Lügengeschichten, die einen eigenen Wahrheitsgehalt annehmen („Expeditionen im Kopf“) bis zur aufwühlenden Selbstpreisgabe. So lautet denn der erste literarische Text, den Roth dem Tagebuch anvertraut „Aufzeichnungen eines überflüssigen Menschen“. Dass die Eltern das Tagebuch lesen, deutet der Schreiber als Vertrauensbruch, der eine letzte Distanzierung einleitet. Im Anpassungsdrang sieht der Sohn den „Schlüssel zu ihrem Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus“ und kommt zu dem Schluss: „Bis zu ihrem Tod begriffen meine Eltern nicht, dass es die anderen nicht gibt.“

Nach einem turbulenten Abitur gelingt Roth dann die Flucht in „das andere Leben“, die Literaturszene von Graz. Die Autobiografie endet mit Porträts derjenigen, die er dort kennenlernt: Heimito von Doderer, H. C. Artmann, Wolfgang Bauer, Gerhard Rühm. Das sind gelungene Feuilletons, die Bilder der Erinnerung jedoch, die sich in Roths „Gedächtnis langsam und scheinbar mühelos wie ein Polaroidbild“ entwickeln, sind große Dichtung.

Das „Alphabet der Zeit“ ist der sechste Teil des auf sieben Teile angelegten Zyklus mit Namen „Orkus“, der sich an Homers „Odyssee“ anlehnt. Während Odysseus die destruktiven Kräfte besiegt, kämpfen Roths Helden darum, das Chaos der Lebenswirklichkeit zu ordnen. Die Erinnerungen gleichen daher einem Zettelkasten von ungeheurer Materialfülle, dem Überschriften, Nummerierungen, Skizzen und Bilder eine eher thematische als chronologische Gliederung geben. Die Wahrheit des Ganzen liegt in der Dichtung. Im bewussten Kontrast zu Goethe geht es Roth nicht um „Gesetze, sondern darum, die Einmaligkeit des einzelnen Lebens begreifbar zu machen“. Das Unvermögen, eine kohärente Beziehung zur Erfahrung herzustellen, kleidet Roth in die Orkus-Allegorie. Gegen die Entwertung aller Dinge, gegen Vergessen und Verschweigen hält es Roth indes mit dem Kindheitschronisten Walter Benjamin, der feststellte: „Die Erinnerung stiftet die Kette der Tradition, welche das Geschehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet.“

Gerhard Roth: „Das Alphabet der Zeit“. Fischer, Frankfurt a. M. 2007, 850 Seiten, 28,50 Euro