Sprachaufmotzerin

Alles, was möglich ist, geschieht: Juli Zehs neuer Roman „Schilf“ bringt Krimi, Liebesgeschichte und physikalische Spekulation zusammen

VON WIEBKE POROMBKA

In ein paar Jahren wird es vermutlich eine beliebte Aufgabe unter Germanistikstudenten sein, die Musil-Bezüge im Werk der Schriftstellerin Juli Zeh herauszufinden. Für ihren Roman „Spieltrieb“, der 2004 erschienen ist und als modernes „Törless“-Remake teils begeistert, teils reichlich missmutig aufgenommen wurde, hat die Kritik schon einige Vorarbeit geleistet. Juli Zehs neuer, gerade erschienener Roman „Schilf“ wird die Spurensucher unter den Kritikern kaum weniger auf Touren bringen. Denn hier ist es nicht nur die Internatsnovelle, sondern gleich Musils Mammutwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“, mit dem diese Autorin ins intertextuelle Gespräch tritt.

Hier wie dort verschränken sich naturwissenschaftliche und philosophische Perspektive, und hier wie dort geht es um die eine ganz große Frage: Ist das, was wir für die Wirklichkeit halten, die einzig existierende Realität? „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“, ist Musils als Bonmot berühmt gewordene Überzeugung. „Alles, was möglich ist, geschieht“, heißt das Ganze bei Juli Zeh. Und so ist der Kriminalfall, an dem sie die Abgründigkeiten dieser Frage durchspielt, derart voller doppelter Böden und schwarzer Löcher, dass es fast schon ein Wunder ist, mit welcher Selbstverständlichkeit Kommissar Schilf, der dem Roman den Titel gibt, den Überblick behält.

Ganz im Gegensatz zu Sebastian. Dessen beschauliches Freiburger Leben als Ehemann und Vater wird nämlich vollständig aus der Bahn geworfen, als er unfreiwillig – und, wie sich später herausstellt, auch noch unsinnigerweise – einen Mord begeht. Sebastian ist, wie Musils Protagonist, Physiker und Experte für die Viele-Welten-Theorie, die davon ausgeht, dass es neben der Wirklichkeit noch lauter andere Wirklichkeiten gibt, in denen sich unzählige Variationen unseres Lebens abspielen. Eben: Alles, was möglich ist, geschieht.

Das mag als theoretisches Denkspiel einigen Reiz haben. Für Sebastian wird es aber zum verdammt realen Horror, als passiert, was eigentlich undenkbar ist. Sein Sohn wird entführt und ihm anstelle von Lösegeld etwas sehr viel Perfideres abverlangt: Er soll einen Mann beiseiteschaffen, der in einen örtlichen Medizinerskandal verstrickt und zudem sein potenzieller Nebenbuhler ist.

Vollends zum Albtraum wird das Geschehen für Sebastian aber erst, als er der Erpressung nachgegeben hat und zum Mörder geworden ist, die Entführung sich aber plötzlich als Hirngespinst zu entpuppen scheint: Sein Sohn ruft munter aus dem Ferienlager an und weiß nichts von einem Kidnapping. Mit einem Schlag lösen sich nicht nur der Glaube an die eigene Zurechnungsfähigkeit und die theoretische Physik, sondern Sebastians ganzer Lebenszusammenhang auf. Dem Leser allerdings ist derweil längst klar, dass sein Studienfreund und Physikerkollege Oskar, der wie ein unheilvoller Gast das Familienleben begleitet, etwas mit der Sache zu tun hat.

Um es kurz zu machen: Es ist das überdeutlich angedeutete homoerotische Verhältnis der beiden, das den heimlichen Liebhaber Oskar ein kleines Lehrstück ersinnen lässt, um den Freund von der Unmöglichkeit seines Doppellebens zu überzeugen. Dieses Lehrstück allerdings gerät gründlich außer Kontrolle und gibt Zeh den Anlass, einen Haken nach dem anderen zu schlagen und falsche Fährten en masse zu legen.

Die bis ins Hanebüchene gehende Konstruiertheit des Geschehens mag man hinnehmen, genauso wie mit etwas gutem Willen die Tatsache, dass Zehs Figuren als versammelte Klischee-Parade daherkommen: Oskar ist ein mephistophelischer Verführer im Dandy-Kostüm, Sebastians Frau die attraktive Galeristin mit Sinn für Ästhetik, und Kommissar Schilf, melancholischer Lonely Rider mit untrüglicher Genialität, hat eine ordentliche Dosis von Wolf Haas’ legendärem Ermittler Brenner mitbekommen. Ärgerlich wird es allerdings dann da, wo man merkt, wie wohlig und selbstzufrieden sich die Autorin in ihrem blumigen Metaphernreichtum und ihrer aufgemotzten Konstruktion eingerichtet hat. Über eine adrette Erzählfassade kommt das nicht hinaus.

Allenfalls als eine Versuchsanordnung kann man diesen Roman deshalb lesen. Bliebe zu fragen, was denn nun die Antwort ist auf die eine ganz große Frage nach den Möglichkeiten jenseits der Wirklichkeit. Musil hat seine Antwort mit dem Scheitern seines Romanprojekts eher unfreiwillig gegeben. Es endet in einem Konvolut unüberschaubarer Fragmente. Immerhin: Juli Zeh bringt ihre Versuchsanordnung zu einem Finale, das sich elegant in die Erzählordnung fügt, die (fast) konsequent das Prinzip von sieben siebenteiligen Kapiteln durchhält.

Und Juli Zehs, nun ja, philosophisches Fazit? Über das kann man ja mit ihr einfach auf einem der zahlreichen Podien diskutieren, auf denen man sie derzeit so häufig antrifft wie kaum eine andere junge deutsche Autorin. Die nächste lange Juli-Zeh-Nacht kommt bestimmt.

Juli Zeh: „Schilf“. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2007, 384 Seiten, 19,90 Euro