Verfrühte Aufregung

Christian Lollike, Dramatiker und Regisseur aus Dänemark, zeigt sich an deutschen Bühnen zahmer als erwartet

In seiner beiläufigen Art hatte der Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters, Armin Petras, die Erwartungen ziemlich hochgeschraubt, als er Christian Lollike als „eine Art dänischen Schlingensief“ ankündigte. Tatsächlich provoziert der 34-jährige Dramatiker und Regisseur mit seinen Reflexionen über Sterbehilfe, Gruppenvergewaltigungen unter Teenagern oder 9/11, die sich scharf vom verbreiteten PC-Kitsch abheben, die Kleindenker unter seinen Landsleuten gewaltig.

Lollikes Schlingensief-Appeal ist jetzt quasi flächendeckend überprüfbar: In Leipzig erlebte sein Stück „Nathan (ohne Titel)“ seine deutschsprachige Erstaufführung. Beim Deutschen-Herbst-Schwerpunkt „Endstation Stammheim“ am Schauspiel Stuttgart läuft Lollikes Terrorismus-Auseinandersetzung „Das Wunderwerk oder the Re-Mohammed-TV-Show“. Im Berliner Maxim Gorki Theater schließlich warf der Däne sein Regietalent in die Waagschale und brachte die Theateradaption zu Lars von Triers Film „Breaking the Waves“ auf die Studiobühne.

Was indes den Schlingensief-Faktor betrifft, so war er in der Leipziger Neuen Szene weniger bei Lollike selbst als vielmehr bei seinem ambitionierten jungen Erstaufführungsregisseur Alexander Marusch zu beobachten. „Nathan (ohne Titel)“ führt den Protagonisten aus Lessings Drama, der das Ideal vollkommener Toleranz und Akzeptanz zwischen den Religionen predigt, in „acht Variationen“ zu heutigen Krisengebieten und Konfliktherden oder auch einfach nur mal in die Realität eines europäischen Bahnabteils, wo Teenies in Ermangelung anderer Spielideen Rollstühle mitsamt ihren Insassen umwerfen. Dass die Dramaturgie dabei einem ewiggleichen Grundmuster folgt – der Konflikt wird erstens benannt, zweitens bis auf den Grundkern zugespitzt und drittens nicht gelöst –, kann keinen überraschen. Wie anders denn als Idealist mit dringendem Erklärungsbedarf sollte Nathan angesichts der weltpolitischen Lage auch dastehen?

Dass Lollikes Szenen bei alledem klug recherchiert sind, konnte man beim Blick in den Anmerkungskatalog des Stückes ahnen, der Anleihen von John Locke über Immanuel Kant bis zu Hannah Arendt und Robert Musil verrät. Da zeigt sich ein Ehrgeiz, der anscheinend Dramaturgen und Spielplangestaltern sehr imponiert. Regisseur Marusch hat diesem kopflastigen Stoff nun das erdenklichste Kontrastmittel verabreicht, indem er es abendfüllend in eine korrupte TV-Welt à la „We love to entertain you“ einbettete. So wird aus „Nathan (ohne Titel)“ eine krachlederne Politrevue, die vom Rotkäppchen über den pappnasigen Zirkusclown bis zum naturalistischen Tierdarsteller keine noch so zweifelhafte kulturgeschichtliche Errungenschaft auslässt. Fast sekündlich wird man mit einem neuen szenischen Knallbonbon beworfen und ist sich bald sicher, dass die Regie Lollikes philosophischen Crashkurs nicht zur Kenntlichkeit entstellt, sondern mit hemmungsloser Ideenfülle einfach zuschüttet. So erreicht Marusch trotz der guten Arbeit der Schauspieler das Gegenteil dessen, was er vermutlich wollte: Irgendwann möchte man den schmierigen Kai-Pflaume-Verschnitt, der einen bittet, „dran zu bleiben“, tatsächlich nur noch durch Wegzappen strafen; und zwar schon vor der Werbepause.

Dieser Wegzappdrang wiederholt sich bei der deutschsprachigen Erstaufführung von „Breaking the Waves“ im Berliner Gorki-Studio. Denn Christian Lollikes Regiearbeit wirft im Grunde nur eine einzige Frage auf: Warum bringt man einen Filmstoff auf die Bühne, wenn einem außer einer gerafften Nacherzählung mit gründlicher Entschärfung der Unverdaulichkeitskanten nichts dazu einfällt? Es ist übrigens Lollikes zweite Theaterarbeit zu Lars von Trier; der Filmregisseur selbst hatte ihn mit der Bühnenversion von „Dogville“ beauftragt.

Über den Film „Breaking the Waves“ kann man sich streiten; kann sich auch bis zur Enervierungsgrenze provoziert fühlen von diesem Bild einer Heiligen, die sich – um ihrem Mann das Leben zu retten – zur Hure macht, opfert und posthum durch den Gang der Geschehnisse Recht bekommt.

Bei Lollike dagegen ist alles klein und klar: So, wie der Gatte (Nicolas Rosat) sich als Grinsebolzen mit Lederjacke und Elvis-Interpretation einführt, kann man Bess’ Opfer nur als besonders schweren Fall von amouröser Verblendung verbuchen. Zumal Hanna Eichel, die wie ein aus der Zeit gefallener Backfisch herumkichert, -hüpft und mit den Augen rollt, das Ihrige zu dieser Interpretation tut. Als Regisseur hat Christian Lollike mit diesem Abend eher die Gegenposition zu Schlingensief besetzt und provokationsträchtigen Stoff zu wohlfeilen, gut verdaulichen Häppchen entschärft.

CHRISTINE WAHL