Kluge-Hörbuch: Sie nennen es Hörspiel

Alexander Kluge, Meister des entschleunigten Fernsehens, erzählt wie an der Theke. Alexander Ammer fragt nach. Und Console macht dazu Generalbass-Techno.

Retter der bedrohten Kunstform des Erzählens: Alexander Kluge. Bild: dpa

Dass Alexander Kluge, 75, die Musik des Detroiter Techno-Pioniers Jeff Mills liebt, dass er sich überhaupt mit Techno auskennt, obwohl er schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert aus dem Segment der werberelevanten Zielgruppe rausgefallen ist, das ist ein Wunder. Aber nur für Leute, die sich darüber wundern, dass Bin Laden sich für sein neues Video den Bart färbt.

Für einen Berufsneugierigen ist das Interesse an Techno normal, zumal Kluge genetisch vorgeprägt ist. "Mein Großvater war sehr neugierig." Das ist eine von zahllosen wichtigen und unwichtigen Informationen aus Andreas Ammers Hörspiel "Eigentum am Lebenslauf - Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge". Wer bei dem Wort "Hörspiel" routinemäßig zum nächsten Artikel wegzappt, sollte das lassen, "Eigentum am Lebenslauf" ist nämlich ein Hit.

Sein Leben lang hat der promovierte Jurist Kluge Bücher geschrieben und Filme gedreht, bis heute verteidigt er seine Nischenprogramme im Privatfernsehen, kurz vor Mitternacht. Jedes Mal ein Schreck, diese Stimme bei RTL/Sat.1! Viel zu leise im feindlichen Umfeld, zurückhaltend und doch eindringlich, leicht sächsische Färbung, stellt sie Fragen aus dem Off, zu Themen aus dem Themen-Off von RTL/Sat.1 an Personen aus dem Personality-Off von RTL/Sat.1. Dafür wollen sie ihn loswerden, aber Kluge bleibt.

All seine Aktivitäten haben eines gemein: Es geht ums Erzählen, im Zeitalter sich fortwährend reduzierender Aufmerksamkeitsspannen eine bedrohte Kunstform. Deswegen muss der Erzähler das Erzählen so gestalten, dass man ihm zuhört: länger als einem verschwitzten Fußballer im Interview am Spielfeldrand, länger als einem Politiker in der "Tagesschau". Nur wenn das gelingt, kann sich aus dem Erzählen entwickeln, was Alexander Kluge mit zarter Ironie eine Neue Kritische Theorie nennt: "Diese Neue Kritische Theorie muss erzählen können, darf nicht Reden halten vom Katheder", erklärt er, nicht ganz kathederfrei, und schwärmt von einer "Autonomie der Geselligkeit, das heißt Erzählen wie an der Theke".

Wie an der Theke - sprunghaft, assoziativ, leidenschaftlich, delirant, over the top - zu so einem Erzählen hat der preisgekrönte Hörspielmacher Andreas Ammer den Zwangsneugieriker Alexander Kluge eingeladen. Wie an der Theke spielt die Musik beim Erzählen: mal unterbricht sie das Erzählen, mal verstärkt sie das Erzählte, mal übertönt sie den Erzähler. Aber welche Musik eignet sich als Begleiterin, Verstärkerin? "Das würde wie Techno klingen, wie Generalbass", meint Kluge, "es wäre keine Form, die sich permanent steigert, tausend Plateaus, in Musik umgesetzt, das wäre die Musik, die Sie zur Kommentarform entwickeln können - polyfon."

Im günstigsten Fall wird Kluges Redefluss selbst polyfon, er gerät in Dialoge mit sich selbst, klangtechnisch gestützt. Und es gelingt ihm, "dass alles miteinander sich vernetzt". So vernetzt er - ohne es extra zu erwähnen - die "1000 Plateaus", von denen die französischen Theorie-Allrounder Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem gleichnamigen Masterpiece erzählen (manchmal klugeesk), mit dem einflussreichen Frankfurter Elektronik-Label, dem Achim Szepanski den Namen Mille Plateaux gab, um seinen Techno-Platten ein bisschen Theorie-Glam einzuhauchen.

Andreas Ammer hat den Kluge-Rat erhört. Er hat ihm seinen Generalbass-Techno gegeben. Wieder so eine Vernetzung. In der Barockmusik bildet der Generalbass oder Basso continuo das harmonische Gerüst. 2007 übernimmt Martin Gretschmann den Basso continuo. Als Mitglied von The Notwist, als Acid Pauli und unter dem Namen Console ist er eine Schlüsselfigur der Weilheimer Szene. Für Kluge hat er einen langen und über weite Strecken ruhigen Klangfluss produziert.

Andreas Ammer hat die Musik so arrangiert, dass sie Platz schafft, um dem Erzählten nachzusinnen. Nachsinnen im Sinne von: mit den Sinnen nachhängen, gleichzeitig zuhören und Kluges Worten nachdenken. Die Musik ist beides: Zeitkontinuum - der Herzschlag der Bassdrum - und Timeout. Durch die Musik hört man Kluges Denken. Wenn Ammer seine Stimme verfremdet oder in den Hintergrund mischt, entsteht ein paradoxer Effekt: Man strengt sich an, ihm weiter zu folgen, die eigentlich zu laute, momentan zu aufdringliche Musik dient als Aufmerksamkeitsverstärker. Eine Art Anti-Popradio-Effekt! Im populären Radio werden Verkehrshinweise und Nachrichten mit Musik unterlegt, weil Psychoakustiker herausgefunden haben, dass das gesprochene Wort für Nebenbeihörer ein gefährlicher Ausschaltimpuls ist. Um den flüchtigen Hörer an der Kanalflucht zu hindern, wird das kantige Wort in ein weiches Soundbett gelegt, unzumutbar lange Nachrichten (3 Minuten!!) werden durch akustische Trenner (Bumper) rhythmisiert, also gefühlt beschleunigt. Das klingt schon mal komisch, wenn auf die Meldung von einem Bombenanschlag ein Bumper folgt, der sich anhört wie, nun ja, ein kleiner Bombeneinschlag.

Man kann Ammers Umgang mit Consoles Musik und Kluges Wort getrost hören als Gegenentwurf zum formatierten Popradio mit seinem Dogma von der Durchhörbarkeit. Dabei nutzt er die Mittel der Gegenseite, wenn die Musik zum Rattenfänger wird, zum Zuckerguss um die bittere Kluge-Pille. Dabei ist die gar nicht so bitter, wenn man sie erst mal geschluckt hat. Dann kommt der Geschmack an den Klugesätzen: "Die Lebenszeit, die Lebensläufe, das ist das, was der Mensch als Eigentum hat, das ist das Gefäß, in dem die Gefühle leben, ihr Aquarium."

Und die Musik ist das Aquarium der Gedanken, die Gedanken schwimmen & floaten im Aquarium of Sound. Oder im Ocean of Sound? (Kennt er David Toop? Kodwo Eshun? Sicher.) Und Kluges Stimme, die unverwechselbare, sich ihrer Performativität stets bewusste, wird selber: Sound. "Ich würde immer aufs Ohr vertrauen, ob was vertrauenswürdig ist, sagt mir das Ohr. Das Auge lässt sich täuschen, auch bestechen durch Glitzer."

Na ja, auch das Ohr lässt sich bestechen, frag die Psychoakustiker mit ihren Klangoptimierern. Aber gut, bleiben wir mit den Ohren am Radio. Und hören Kluge erzählen: von der ersten Globalisierung vor 630 Millionen Jahren. Oder waren es 36 Millionen Jahre? So genau ist das nicht zu verstehen, wenn er beschleunigt, sächselt und nuschelt er, die Musik deckt ihn zu. Also bleibt man hängen und fragt sich: Erste Globalisierung? 630 Millionen Jahre? 36 Millionen Jahre? Wovon redet der? Und drückt die Pausentaste, um das zu googeln. So funktioniert das Hörspiel, die etwas andere Art des Nebenbeihörens.

Oder Kluge erzählt von seiner Großmutter, die hundert und ein Jahr alt wird, weil von einem liebenden Mann "emotional ausgestattet". 101? Ob das stimmt, fragt Ammer dazwischen, man weiß ja nie, was man da glauben darf. Doch, doch, in wichtigen Dingen bleibt er bei der Wahrheit, sagt Kluge und erzählt eine dieser Klugegeschichten von einer jungen Hochstaplerin, die in einer Hotel-Sauna in den Bademantel und damit in die Identität einer viel wohlhabenderen jungen Frau schlüpft, mit der Option, ihr altes Leben gegen ein neues einzutauschen. Ob das stimmt? Man weiß ja nie, was man da glauben darf.

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