Neue Musik: In Schweiß gekocht

Einmal im Jahr trifft sich die Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik in Warschau zum Erarbeiten eines Konzertprogramms. Ein Reisebericht.

Der Komponist Krzysztof Penderecki - Vertreter der in den 60ern gehypten polnisch-expressiven Schule. Bild: ap

Von Mitternacht bis fünf Uhr früh sitzt der Bus an der Grenze fest. Die Reise von Warschau ins ukrainische Lviv kostet eine ganze Nacht. Erst gegen sieben Uhr sind die Musiker im Hotel. Mit der Musik hat das zunächst nichts zu tun. Aber es erklärt, warum die Bassklarinettistin so verschlafen dreinschaut, während sie die Töne aus der Tiefe ihres Instruments emporstemmt, warum der Tubist ein Gähnen unterdrückt, als er die Takte einer langen Pause zählt. Es trägt auch nichts zum Werkverständnis bei, wenn man weiß, dass der Transporter mit den Schlaginstrumenten und dem Kontrabass an der Grenze konfisziert wurde. Er wird erst spät am nächsten Tag freigegeben und fährt deshalb leider eine Stunde nach Konzertbeginn vor der Philharmonie vor. Auf der Bühne stehen da längst Leihinstrumente der örtlichen Musikhochschule, mit Sperrholzmaserung und babyblauem Anstrich. Immerhin, in der nicht übel runtergerockten Philharmonie Lvivs, wo durchgewetzte Teppichböden das Knarren der Dielen dämpfen, wo im Oberrang die Erstsemester über die dissonante Musik kichern, machen sie sich ganz gut: die leicht verlebten Gesichter, die muffigen Instrumente.

"So müsste man John Cage eigentlich immer spielen", lacht die Kontrabassistin nach dem Konzert. Wenn man völlig übermüdet auf dem Podium stehe, dann komme man nicht auf die Idee, den Tönen zu viel Nachdruck zu verleihen. Und genau das habe Cage ja gewollt. Tatsächlich hat das Ensemble Cages "Fourteen" an diesem Abend mit großer Gelassenheit vorgetragen. Noch zwei Tage vorher, als das Konzertprogramm in Warschau Premiere hatte, wirkte dieses Stück starr und ein wenig überdehnt. Jetzt aber haben die Musiker aus den wenigen Tönen und den langen Phasen der Stille ein Manifest der musikalischen Freiheit herausgeschält. Auch lange Busfahrten und unkooperative Grenzbeamte können also die musikalische Reife fördern.

Das Ensemble, von dem die Rede ist, heißt Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik. Streng genommen ist es gar kein Ensemble, sondern ein Workshop, der 26 jungen Musikern aus Deutschland, Polen und heuer erstmals aus der Ukraine die Gelegenheit bietet, sich in die Mysterien der Avantgarde einzuarbeiten. Zum fünften Mal hatte der Deutsche Musikrat Nochstudenten und Schonabsolventen nach Warschau eingeladen, um dort ein Konzertprogramm zu erarbeiten.

Die Gründe für eine solche Werkstatt liegen auf der Hand. Erstens hat die Kunst noch immer richten müssen, was die Politik vergeigt. Schon 1960, als Krzysztof Penderecki bei den Musiktagen in Donaueschingen gefeiert wurde, wich der Kalte Krieg vorübergehend einem warmen, musikalischen Frieden, der 1966 mit der Uraufführung seiner epochalen "Lukas-Passion" in Münster besiegelt wurde. In Polen war es das Festival Warschauer Herbst, das Jahr für Jahr qua Staatsräson untersagte Werke aufs Programm brachte und Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen schon 1958 spielte, als man selbst in Deutschland noch kaum von ihm gehört hatte. Die Ensemblewerkstatt, die ebenfalls im Rahmen des Warschauer Herbsts stattfindet, verwandelt diese Tradition in eine Institution. Jetzt plaudern deutsche und polnische Musiker ungezwungen vor dem Kaffeeautomaten, in der Raucherecke wird diskutiert: über diesen und jenen Lehrer, dieses und jenes Stück, diesen oder jenen Fußballverein. Man muss das nicht romantisieren. Die transkulturelle Erfahrung gehört zum Alltag eines jeden Musikers: der Studienaustausch, das Auswahlorchester, die Konzertreise. Zu den "deutschen" Ensemblemitgliedern gehören in Warschau natürlich auch Musiker aus Slowenien und Südafrika. Die Werkstatt ist ein Stück musikalische Normalität, die aber eben stets aufs Neue geschaffen werden will.

Zweitens nun hat die zeitgenössische Musik in Polen, dem Warschauer Herbst zum Trotz, einen schweren Stand. Ja, sie existiert außerhalb des großen Festivals eigentlich nicht. Wo in Deutschland mit dem Ensemble Modern, dem ensemble recherche oder der musikFabrik, wie in anderen westeuropäischen Ländern auch, eine Kultur zeitgenössischen Musizierens herangewachsen ist, existiert in Polen nicht ein einziges festes Ensemble für Neue Musik. Auch der Hype der polnisch-expressiven Schule, der in den Sechzigerjahren Komponisten wie Penderecki, Witold Lutoslawski oder Henryk Gorecki berühmt machte, hat keine bleibenden Spuren hinterlassen. Zwar gibt es auch in Polen eine Kuschelavantgarde, die den Konzertbetrieb mit farbenfrohen Stücken belebt. Aber eine gestandene Avantgarde, die den Namen verdient, fehlt.

Was also soll daraus werden, wenn ahnungslose Stümper auf Neue Musik losgelassen werden, wird sich der gütlich befangene Beobachter fragen. Und trifft dann auf junge Instrumentalisten, die sich nicht nur für die neueste Musik interessieren, die nicht nur in der Lage sind, sie zu spielen, sondern die selbst die schwierigsten Passagen mühelos meistern. "Das kann man in Deutschland suchen", kommentiert Werkstattdirigent Rüdiger Bohn das musikalische Niveau. Und der sonst durchaus eloquente Komponist Frank Zabel, der die Probenarbeit in Warschau begleitet, konstatiert, auf die Mühelosigkeit angesprochen, mit der die Vierteltöne in seinem Stück auf Anhieb bewältigt werden, die eigene Sprachlosigkeit: "Da war ich platt."

"Ich habe einfach Glück gehabt", blickt Dagna Sadkowska auf ihre musikalische Vita zurück. Ihr Professor gehörte zu den wenigen Verfechtern der Neuen Musik, die in Warschau unterrichten. Er hat ihr nicht nur die Techniken und den ästhetischen Hintergrund zeitgenössischer Werke nahe bringen können, sondern hat das unbequeme Repertoire auch vor Kollegen und Gremien verteidigt. Die Regel, bestätigen fast alle polnischen Musiker, lautet anders. Lehrer bläuen ihren Studenten ein, dass, wer Neue Musik spielt, bald die Geige nicht mehr wird halten, bald auf der Flöte keinen sauberen Ton mehr wird blasen können. Die Prüfungskomitees lehnen Musik, die nach 1945 entstanden ist, regelmäßig ab. Die meisten Studenten geben dem nach und verzichten auf die Erfahrung mit der Gegenwart, andere, und das sind nicht wenige, brechen ihr Studium schließlich frustriert ab.

Michal Górczynski hat sich durchgebissen. Er kam als Klarinettist mit dem Freejazz Evan Parkers im Ohr an die Akademie, merkte aber rasch, dass dieser Sound dort nicht zu haben ist. "Meine Lehrer sind alle hervorragende Musiker", rückt er das Bild zurecht, "aber um 1900 hört es bei ihnen eben auf." Jetzt spielt er zwar das Mozart-Konzert auswendig, musste sich allerdings selbst beibringen, wie man einen perkussiven Slap oder gar einen Mehrklang erzeugt. Auf seinem Nachttisch liegen Bücher mit Titeln wie "New Techniques for the Bass Clarinet".

Nun ist das Polen der Gegenwart nicht die BRD der Fünfzigerjahre. Hier werden die Studenten nicht, wie einst in Deutschland, der Denaturierung bezichtigt. Und die Neue Musik ist auch kein esoterischer Geheimbund mehr. "Notentexte sind ja kein kryptisches Orakel", gibt Mikolaj Palosz zu verstehen: "Da gibt es eine Einführung des Komponisten, Erklärungen für Sonderzeichen im Notenbild, und wenn man Glück hat, findet man sogar eine Aufnahme, an der man sich orientieren kann." So hat er sich zumindest durchgeschlagen. Sein Lehrer habe ihn immer, während er ahnungslos die Achseln zuckte, liebenswürdig zu seiner Courage beglückwünscht. Bis zu einem gewissen Grade sei das auch selbstverständlich, ergänzt der junge Cellist versöhnlich, dass man seinen Lehrern einen Schritt voraus ist. Ein Generationenproblem, das jeder Musiker durchlebt. Letztlich habe es die Avantgarde überall schwer, wehrt sich auch Dagna Sadkowska gegen falsches Mitleid. Wer sich mit Neuer Musik beschäftige, lebe eben "am Rande der Gesellschaft". Aber schließlich suche man ja auch genau diese Nische und nicht Entertainment und großes Publikum.

Die Ensemblewerkstatt ist also kein Kulturexport, sondern ein Liebesdienst an Musikern, denen eine Gelegenheit, sich "richtig in die Stücke hineinzufühlen", sonst abgeht. So setzt Florian Juncker mir auseinander, warum jemand, der sich längst als Neue-Musik-Posaunist einen Namen gemacht hat, auf diesen Workshop einlässt. Und Gelegenheiten gibt es in der Tat reichlich. "Noch zu hoch", korrigiert Bohn zum wiederholten Mal ein Unisono der Bläser, einen Viertelton über dem Cis. Als Zuhörer stellt man sich längst die Frage, ob denn dieser eine Ton so wichtig ist, dass man ihm eine halbe Stunde opfert. Dirigent und Musiker hingegen genießen diesen Moment. Nicht nur für den jungen Posaunisten, sondern für fast alle Teilnehmer ist er der Grund, warum sie überhaupt hier sind. Zeitintensives Proben ist sonst im Berufsalltag rar. Dass sich die Werkstattmitglieder eine geschlagene Woche lang im Keller der Frédéric-Chopin-Akademie verschanzen, wird als Luxus empfunden. "Ich liebe diesen fensterlosen Saal. Im eigenen Schweiß kochen wir da die Musik", schwärmt Bohn.

Im Laufe der Jahre hat das Ensemble hier so etwas wie einen eigenen Sound entwickelt. Die Bläser färben die Terz einen Schatten tiefer, wie ein mattes Leuchten. Der Klang der Streicher ist geradeheraus, nicht flach, aber auch ohne allzu großen Druck. Einem Stück wie Mathias Spahlingers "Verlorenem Weg" steht das gut. Die instabilen Akkorde wirken trübe. Die Streicher tasten gleitend übers Griffbrett. Der Werktitel bekommt einen Sinn. Ganz anders ein neues Stück der jungen ukrainischen Komponistin Lubawa Sydorenko mit verspielten Effekten und dramatischen Gesten. Hier sind andere Qualitäten gefragt: Witz, Wehmut und Verve.

Dreimal trägt das Ensemble im Anschluss an die Probenwoche sein neues Repertoire vor: in Warschau, in Lviv (Lemberg) und in Kraków. Nun ist jeder Musiker Podien, Rampenlicht und Beifall gewohnt. Und dennoch merkt man, dass es etwas Besonderes ist, auf der geweihten Bühne des Polskie Radio zu spielen, die schwebenden Dissonanzen in die brüchige k. u. k. Architektur Lvivs zu setzen, sich vom Applaus des Krakauer Publikums adeln zu lassen. "Die spielen alle um ihr Leben", schwärmt eine Zuhörerin neben mir. Vielleicht auch einfach um die Musik.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.