Massen ohne Macht

In „Der Schauplatz des Anderen“ konfrontiert Étienne Balibar eingerostete linke Sichtweisen mit der neuen Welt nach 1989. Seine Essays stehen damit in einer Reihe mit Jacques Derridas Überlegungen in „Marx’ Gespenster“ oder Michael Hardts und Antonio Negris „Empire“

VON ULRICH BRIELER

Sammelbände sind oft vor allem eines: Recyclingprodukte. Was in kleinen Zeitschriften unterging, wird gesammelt und unter neuem Titel wiederverwertet. Doch: Étienne Balibars Essaysammlung „Der Schauplatz des Anderen“ ist in der Tat anders. Sie versammelt Essays aus den Jahren 1983 bis 1997 und verbindet sie im Blick auf aktuelle Diskurse zu drei Schwerpunkten – einer Genealogie unserer politischen Ideen, dem Wandel des Ideologiebegriffs bei den Erfindern des historischen Materialismus und der Problematisierung von Universalismus, Rassismus und globalen Gewaltformen.

Étienne Balibar ist einer der letzten Mohikaner des strukturalistischen Marxismus. Er war gerade Mitte 20, als er 1965 mit Louis Althusser und einigen Studienfreunden der École Normale Supérieure „Das Kapital lesen“ herausgab – eine Arbeit, die in den wilden 60er- und 70er-Jahren viele Gemüter bewegt hat. Diese Debatten scheinen einigen heute so fern wie die Kaiserkrönung Karls des Großen. Nicht so für Balibar. Er hat einem sehr eigenen Verständnis von materialistischer Analytik die Treue gehalten. Dies gereicht ihm zur Ehre in dieser Zeit, in der global die ungezähmte industrielle Gewalt ebenso wiederaufersteht wie die unverschämte Ausbeutung und die Klassengesellschaft. Ist Balibar also ein Zukünftiger?

Heutige Politik ist Exekution von Sachzwängen. Gegen diese geistlose Verwaltung des Gemeinwesens entwirft Balibar Politik in einer dreifachen Weise neu. Sie erscheint zunächst als kollektive Selbstbegründung. Politik ist der Vorgang, in dem sich der Akteur selbst erschafft. Das Volk „macht“ sich, in dem es sich grundlegende Rechte nimmt. Dies heißt „Emanzipation“.

Das Volk als politischer Akteur findet sich nun aber mit einem äußeren Raum konfrontiert, der seine Möglichkeiten definiert. Politik hat sich daher auf die wandelnden Bedingungen ihrer Selbstschöpfung hin neu zu erfinden. Demokratische Politik ist eine ständige Arbeit an den Hindernissen, die ihre Verwirklichung erschweren. Die Überschreitung der gegebenen Formen des Politischen bildet den Kern jeder demokratischen Politik. Dies heißt „Veränderung“.

Die jeweilige Veränderung kann jedoch scheitern, wenn die Mechanismen der Integration versagen und die symbolischen Ordnungen der Normalität zerbrechen. Exakt dies kennzeichnet die Epoche nach 1989. Die weltweite Expansion der Kapitalströme produziert ein zahlloses Heer von Überflüssigen ohne jede politische Repräsentation, „Millionen von Menschenabfällen“. Sie bringt damit die Frage der Demokratie erneut auf die Tagesordnung. Denn der entstehende Weltmarkt besitzt keinen politischen Überbau. Die sogenannte Globalisierung bricht alternativlos über die Menschen herein und spannt ihre subjektiven Verarbeitungskräfte auf das Äußerste an.

Balibar fasst diese Konstellation in eine dialektische Figur. Auf die „ultraobjektiven Formen“ einer Gewalt ohne Gesicht antworten „ultrasubjektive Formen“ in Gestalt grausamer Fundamentalismen. Wir erleben keine Renaissance des Bösen, sondern gewalttätige Reaktionen auf gewaltsame Prozesse. Gegen diesen selbstzerstörerischen Mechanismus setzt Balibar auf eine „Politik der Zivilität“, die um die Wunden der Modernisierungen weiß und der Identitätsbildung hohes Augenmerk beimisst. Denn je dramatischer die objektiven Zumutungen, umso aggressiver die ethnischen und religiösen Selbstversicherungen.

Balibar ist skeptisch und zuversichtlich zugleich, ob eine solche Politik die globalen Prozesse steuern kann. Sein Optimismus speist sich aus der historischen Erfahrung. Seit Machiavelli hat sich die Politik als Raum praktischer Kritik und utopischer Möglichkeit verstanden. Balibars Blick auf die Erfinder der Politik zielt auf diese Wiederbelebung, und hier ist er ein Ideenhistoriker ganz besonderer Art. Heute sind die Begründer der politischen Philosophie zu harmlosen Säulenheiligen verkommen. Doch im intellektuellen Nahkampf ihrer Zeit und als Kritiker ihrer Gegenwart werden sie zu unseren Zeitgenossen. Spinoza und Rousseau, Kant und Fichte standen vor ähnlichen Problemen wie wir. Sie mussten eine sich dramatisch verändernde Welt mit ihrem Verstand neu denken. Die Klassiker arbeiteten an Problemen, die vor dem globalen Horizont aktueller denn je sind: Wie schafft man ein Gemeinwesen, wer kann Staatsbürger sein, wie entsteht ein allgemeiner Wille. Es geht also um die Wirklichkeit der Demokratie.

Heute, da sich die soziale Demokratie selbst beseitigt, da die Politik in den imperialen Zentren nur noch den gewollten Mangel verwaltet und an den Peripherien die Ordnung nur noch militärisch aufrechterhält, beharrt Balibar auf ihrem befreienden Charakter. Die Entdeckung der Politik in der Neuzeit bedeutete die Sichtbarmachung von überflüssigen Zwängen und erstarrten Ordnungen. Politik war der Ort der Erfindung neuer Freiheiten. Und sollte es wieder sein.

Balibars Buch ist so ein Angriff auf einen Gegner, der ungenannt, aber stets präsent ist: die sogenannte Elite. Sie liegt uns ständig in den Ohren, dass wir ohne sie nicht leben könnten (in der Demokratie), dass die Gleichheit die Freiheit erdrückte (im Zeitalter der schreienden Ungerechtigkeiten), dass wir gefälligst Verantwortung übernehmen sollten (im Zeitalter der globalen Finanzmärkte und der transnationalen Oligopole).

Balibar enteignet diese Begriffsenteigner, die uns erzählen, das die Freiheit gegen die Gleichheit auszuspielen ist. Nein, das eine ist ohne das andere nicht zu haben. „Gleichfreiheit“ („égaliberté“) ist das Gebot der Stunde. Mauern wir uns nicht neu ein, sondern entfalten wir die Demokratie in Richtung einer globalen Staatsbürgerschaft. Nehmen wir die Entkoppelung von politischen und sozialen Rechten nicht hin, sondern begreifen wir, dass die Verteidigung der sozialen Rechte in Europa nur möglich ist, indem wir sie global verwirklichen.

„Der Schauplatz des Anderen“ ist ein schwieriges Buch. Es konfrontiert eingerostete linke Sichtweisen mit der neuen Welt nach 1989. Manche Gewissheit gerät da ins Wanken. Und dies geschieht in einer Sprache, die eine wirkliche Lektüreleistung abverlangt. Aber für diese Mühe wird der Leser mit einer theoretischen Ernsthaftigkeit belohnt, die absolut unzeitgemäß ist.

Balibars Buch ist in eine Reihe zu stellen mit Jacques Derridas Überlegungen in „Marx' Gespenster“ und der „Politik der Freundschaft“, aber auch mit der Diskussion um Michael Hardts und Antonio Negris „Empire“. Hier wie dort herrscht ein Gespür für das Unbekannte einer historischen Situation, die nach einer Neuerfindung der Politik schreit. Heute an der realistischen Vorstellung freier und gleicher Menschen in der einen Welt festzuhalten, ist vielleicht die stärkste materielle Kraft, die das Denken aufbieten kann

Étienne Balibar: „Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität“. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, Hamburg 2006, 324 Seiten, 35 Euro