Arbeitskampf: Ständige Betriebsversammlung

Obwohl die Fahrradwerker von Bike Systems immer weiter zurückgesteckt haben, will ein US-Investor ihren Laden jetzt dicht machen. Darum haben sie den Betrieb besetzt.

Seit 35 Tagen werden in Nordhausen keine Räder mehr montiert. Bild: dpa

Die Nachtschicht bei Bike Systems beginnt pünktlich um zehn. Unter einem weißen Gartenzelt auf dem Werksgelände der stillgelegten Fahrradfabrik lassen sich acht Männer auf Holzbänke fallen. Auf den Tischen davor quellen Aschenbecher über. Im Licht bunter Glühbirnen liegen verstreut die übrigen Hinterlassenschaften der Spätschicht: ein Mensch ärgere dich nicht, Dartpfeile, ein zerfledderter Prospekt aus dem Baumarkt, ein DVD-Rekorder.

Und, sehr wichtig: Feuerkörbe. In denen werden die Arbeiter später alte Paletten verheizen, so gegen drei Uhr früh, wenn die Augustnächte im thüringischen Nordhausen am Rande des Harzes empfindlich kühl werden. Seit sechs Wochen besetzen sie das Werk. "Irgendwas Neues?" fragt einer. Die Runde schweigt.

Es ist viel geredet worden in den letzten Wochen, ohne dass die Männer eine Ahnung hätten, wie es weitergeht mit ihnen und ihrem stillgelegten Fahrradwerk, der Bike Systems GmbH. Die meisten sind jenseits der 40, viele haben seit 20 Jahren nichts anderes gemacht, als Fahrräder zu montieren. "Im Moment", sagt Henry Voigt, ein 45 Jahre alter Schlosser, "passen wir nur auf, dass kein Vertreter von der Heuschrecke aufs Firmengelände marschiert und die Maschinen rausholt."

Auf der Straße hinterm Werkszaun fährt laut hupend ein Pkw vorbei, die Männer unterm Zelt heben die Daumen und schreien "Jawoll!". Das Transparent, das sie draußen gehisst haben, findet Resonanz: "Arbeit von heute auf morgen weg! Die Mitarbeiter stehen vor dem Aus. Lone Star will uns abspeisen. Zeigt Solidarität durch Hupkonzert."

Es ist Tag 35 der Betriebsbesetzung von Nordhausen. Der ungewöhnliche Protest von 125 Arbeiterinnen und Arbeitern gegen das unwürdige Ausscheiden aus ihrer Firma ist in der sechsten Woche angekommen. Seit Ende Juni ist die Produktion eingestellt. So hat es die Eigentümerin, eine Tochter der US-Investmentgesellschaft Lone Star, von einem Tag auf den anderen verfügt.

"Lone Star", empört sich im Zelt der Arbeiter Bernd Krings, 55, "hat uns erst die Aufträge und das Material gestohlen, und dann das Werk dichtgemacht, das ist Diebstahl in Vollendung". - "Nee, das ist Marktwirtschaft", entgegnet Voigt.

An das Ende geglaubt hatte zunächst keiner. Schließlich gibt es für das Werk eine Bestandsgarantie bis Ende 2007. Und es rollten ja täglich bis zu 2.800 Fahrräder für den Groß- und Versandhandel vom Hof. Aber dann war am 29. Juni doch Schluss. Schluss, ohne dass sich irgendwer Gedanken um die Belegschaft gemacht hätte. Die Summe, rund 800.000 Euro, die am 9. Juli während eines Gesprächs zum "Interessenausgleich" von der Firmenleitung angeboten wurde, deckt nicht einmal die Kündigungsfristen. "Da", sagt Bernd Krings, "sind dann bei vielen die Sicherungen durchgeknallt."

Aussperrung mal andersrum

Tags darauf ist der Betrieb besetzt: rund um die Uhr, im Dreischichtbetrieb, sieben Tage die Woche. Wer aufs Gelände kommt, bestimmen jetzt die Arbeiter. Aussperrung mal andersrum.

Seither herrscht Schwebezustand. Kündigungen wurden bislang nicht ausgesprochen. Die Mitarbeiter sind freigestellt und erhielten sogar noch Lohn, als sie bereits mehrere Wochen den Betrieb besetzten. Alle Verhandlungen jedoch endeten ergebnislos. Der Belegschaft geht es um arbeitsrechtliche Mindeststandards wie Sozialplan, Auffanggesellschaft und Einhaltung der Kündigungsfristen. Standards, für die angeblich kein Geld da ist in einem Unternehmen, aus dem die Eigentümer zuvor Millionen zogen. Vor ein paar Tagen dann stellte der örtliche Geschäftsführer einen Antrag auf Insolvenz.

Es geht jetzt um 125 Menschen und ihre Familien. Mitten im vermeintlichen Aufschwungland Deutschland, mitten in Nordhausen, das Boomtown ist, gemessen am ostdeutschen Mittel: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15 Prozent, demnächst eröffnen ein neues Verpackungswerk und ein zweites Kurbelwellenwerk, ein neues Industriegebiet ist in Planung, und Echten Nordhäuser Korn gibt es auch immer noch.

Die Wurzel des Übels, da sind sich Belegschaft und Gewerkschaft einig, liegt bei der US-Investmentgesellschaft Lone Star, in Deutschland bekannt durch den Kauf meist unrentabler und notleidender Immobilienkredite. Daneben investiert Lone Star in europäische Unternehmen mit dem Ziel, maximalen Profit und Rendite herauszuholen und die Firmen anschließend abzustoßen - oder, wie im Fall des Nordhäuser Fahrradwerks, ohne Rücksicht auf Verluste und Marktstrukturen ganz zu schließen.

Nur dass sich diesmal jemand wehrt: 125 Arbeiterinnen und Arbeiter aus einer Kreisstadt mit 43.000 Einwohnern, die sich nie viel gekümmert haben um Weltpolitik, internationale Finanzmärkte, Private Equity, Hedgefonds oder gar Arbeitskampf; viele von ihnen sind nicht mal in einer Gewerkschaft. Plötzlich aber trauen sie sich was, rufen auf zu Protestkundgebungen, laden zu Solidaritätspartys auf dem Werksgelände, schrecken nicht zurück vor der Konfrontation mit der US-Investmentfirma und deren international tätigen Anwälten. Mehrmals schon sollten die Besetzer geräumt werden. Glaubt man ihren Schilderungen, dann führten sich die Lone-Star-Vertreter bei diesen Anlässen auf wie Rumpelstilzchen.

Immer durften die Besetzer bleiben. Denn ihren Aufenthalt samt Transparenten, Zelten, Feuerkörben und Kundgebungen haben sich die gesetzestreuen Arbeiter vorab vorsichtshalber genehmigen lassen. Vom Ordnungsamt, von der Feuerwehr, vom Landratsamt, von der Polizei. Offiziell handelt es sich bei der Besetzung um eine ständige Betriebsversammlung - und bei der hat der Betriebsrat das Hausrecht.

Helden? "Hörn Se uff!" Heidrun Kirchner kann Lob nicht ausstehen. Kirchner, 57, ist die Betriebsratsvorsitzende der Bike Systems, sie residiert in einem rauchverhangenen Glaskabuff mit Plastikblumen im dritten Stock neben den ehemaligen Montagehallen, sie trägt knallrote, hochhackige Schlappen und vor ihrer Brille einen Sonnenschutzaufsatz, den sie während des Gesprächs hochklappt. "Ich find die freie Marktwirtschaft zum Kotzen", teilt sie mit, und dann: "Im Grunde hätten wir uns viel früher wehren müssen."

Früher. 1986 wird das Fahrradwerk als Teil des VEB IFA-Motorenwerke Nordhausen gegründet, es überlebt die Wende und diverse Eigentümer. Eine Tarifbindung besteht nicht, stattdessen sagen die Arbeiter Ja zu Kürzung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes, Lohnverzicht, Überstunden. Der durchschnittliche Bruttostundenlohn liegt heute bei 6 bis 7,50 Euro, weniger als der Mindestlohn, über den die große Koalition in Berlin streitet. "Alle haben hier den Kopp runtergeduckt", sagt Henry Voigt, der Schlosser, "erst als sie mit dem Rücken zur Wand standen, sind sie zusammengerückt."

Mit dem Rücken zur Wand. Im Dezember 2005 verkauft die Biria-Gruppe ihr Fahrradwerk in Nordhausen. Neue Eigentümerin wird die Bike Systems, eine Gesellschaft mit begrenzter Haftung und 25.000 Euro Eigenkapital. Das Geschäft wird abgewickelt über die LSF Transcontinental Holding SAS, eine 100-prozentige Lone-Star-Tochter mit Sitz in Brüssel. Lone Star übernimmt auch das zweite Biria-Fahrradwerk in Neukirch (Sachsen).

Die Geschäftsübernahme führt, wegen des geringen Eigenkapitals, Ende 2005 zur Überschuldung bei Bike Systems von mehr als 220.000 Euro. Dennoch kann die Insolvenz abgewendet werden - dank eines Gesellschafterdarlehens, gewährt von der LSF. Im Geschäftsjahr 2006 beläuft sich der Fehlbetrag bei Bike Systems auf mehr als 1,2 Millionen Euro; er wird erneut über ein Darlehen der Lone-Star-Tochter LSF ausgeglichen.

Spürbar werden die Veränderungen Ende 2006. Das Werk im sächsischen Neukirch wird geschlossen. Mehr als 200 Mitarbeiter verlieren ihren Job. Und: Die Nordhäuser müssen ihre eigenen Kunden und Aufträge abtreten und fungieren ab sofort nur noch als Lohnfertiger - ausgerechnet für ihren bisherigen Hauptkonkurrenten, die Mifa Mitteldeutsche Fahrradwerke AG in Sangerhausen. Fast zeitgleich übernimmt Lone Star bei der börsennotierten Mifa zwei Millionen Aktien. Das entspricht 25 Prozent des Mifa-Kapitals und einem Wert von 8 Millionen Euro. Ihre Beteiligung finanziert Lone Star über das Betriebsvermögen sowie sämtliche Aufträge der Fahrradwerke in Neukirch und Nordhausen.

Spätestens von da an ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass das Nordhäuser Fahrradwerk endgültig ruiniert ist. Den etwa 1,7 Millionen Euro für regelmäßige Aufwendungen im ersten Halbjahr 2007 steht nur rund 1 Million Euro Erlös gegenüber. Ohne eigene Kunden und ohne eigene Aufträge können die Nordhäuser niemals kostendeckend arbeiten. Doch das Unternehmen wird liquide gehalten, solange es für die Mifa produziert. Ende Juni ist damit Schluss. Der Konkurrent der Mifa ist jetzt ausgeschaltet. Die Mifa-Aktie steigt.

"Es gibt keinen Herrn Lone Star"

"Ich weiß nicht, ob die wirklich von Anfang an vorhatten, den Betrieb plattzumachen." Heidrun Kirchner, die Betriebsratsvorsitzende, ist da bis heute nicht durchgestiegen. Denn sosehr sie die freie Marktwirtschaft "zum Kotzen" findet, so sehr waren sie und ihre Kollegen davon überzeugt, "dass Amerikaner diejenigen sind, die Geld haben". Heidrun Kirchner fühlt sich betrogen: "Es gibt ja keinen Herrn Lone Star, bei dem man mal hätte nachfragen können."

Es gibt aber Frederik Müller. Der ist der Geschäftsführer der Bike Systems GmbH, ein unauffällig gekleideter Businesstyp um die 40. Um ihn zu sprechen, muss man ihn persönlich aufsuchen - telefonisch ist Müller nicht erreichbar, jedenfalls nicht unter der Nummer, die als seine offizielle gilt.

"Ach, das tut mir leid", sagt er, als man unangemeldet sein Büro im Backsteingebäude neben dem Werk betritt. Nur könne er leider nichts sagen über die drängenden Fragen im Fall Bike Systems. Warum beispielsweise wurden Wochen nach der Produktionseinstellung noch sämtliche Verpflichtungen des Unternehmens ausgeglichen? Warum wurde dann aber, ausgerechnet am Tag nachdem die Finanzmärkte wegen der US-Immobilienkrise ins Rutschen geraten waren, für die Lone-Star-Tochter Bike-Systems Insolvenz beantragt?

Er müsse erst mit dem Insolvenzverwalter Rücksprache halten, bedauert Frederik Müller. "Danach können wir reden - jederzeit, warten Sie." Er schreibt eine Telefonnummer auf einen Post-it-Zettel, einen dieser selbstklebenden Abziehschnipsel, auf denen man sich normalerweise Dinge zur schnellen Erledigung notiert. Es ist die bekannte Nummer. Darüber kritzelt er noch seinen Namen, ohne Angabe einer Funktion - wer weiß schon, was morgen ist. Müller hat einen verbindlichen Händedruck. In den Tagen danach ist er unerreichbar.

"So ist es immer." Barbara Rinke, 60, ist die Oberbürgermeisterin von Nordhausen, sie ist eine Sozialdemokratin mit sanfter Stimme. Doch wenn es um Lone Star geht, wird sie ungehalten: "Man hätte doch über alles reden können! Das Fahrradwerk war vor ein paar Jahren schon mal insolvent. Da haben wir 300.000 Euro Gewerbesteuern erlassen, und das Werk wurde gerettet. Wie oft haben wir die Geschäftsführung auch diesmal eingeladen, aber die sind einfach weggeblieben, unentschuldigt." Erst allmählich dämmert ihr wie den Beschäftigten, wie hilflos sie tatsächlich sind und dass Dialog offenbar das Letzte war, was Lone Star interessierte.

In Nordhausen beginnt die Frühschicht. Es ist Tag 36 der Firmenbesetzung. "Insofern", erklärt gerade Betriebsratschefin Heidrun Kirchner ihren Kollegen auf den Holzbänken, "ist es beinahe gut, dass es jetzt einen Insolvenzverwalter gibt." Denn der sei zumindest ein konkreter Ansprechpartner. Wunder erwarten sie keine von ihm. "Dafür", sagt einer der Arbeiter, "hat jeder von uns zu viele Hartz-IV-Bekannte."

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