Fachkräftemangel: Die Mär von der Bildungsoffensive

Bildungsministerin Schavan hat auf Schloß Meseberg eine Bildungsoffensive eingeläutet. Ihre Strategie: Akademikermangel mit Bildungsverlierern beheben.

Die Uni - Bald auch Heimat von Handwerksmeistern und Nichtabiturienten? Bild: dpa

Sie zitterten schon richtig. Japan und Finnland, die USA und China, kurz: Deutschlands Konkurrenten auf dem Weltmarkt, blickten vergangene Woche aufmerksam nach Meseberg. Dort wollte die drittgrößte Industrienation der Welt eine Bildungsoffensive starten. Würde Deutschland in dem preußischen Schloss mit friderizianischer Effizienz Milliardenbeträge für Schulen und Hochschulen lockermachen?

WER FEHLT? Bis 2013 scheiden 330.000 Akademiker aus der gewerblichen Wirtschaft aus. Allein um sie zu ersetzen, braucht man fast alle Absolventen deutscher Hochschulen der kommenden sieben Jahre. Dann ist aber noch kein einziger Akademiker zusätzlich gewonnen. Während in Deutschland rund 40 Prozent eines Jahrgangs das Abitur ablegen, sind es in den OECD-Ländern 70 Prozent. Ähnlich ist die Lage bei Studienanfängern: In Deutschland liegt sie bei 36 Prozent, in der OECD bei 53 Prozent. 2006 blieben laut einer Umfrage unter mehr als 3.300 Unternehmen fast 48.000 Stellen für Ingenieure in Unternehmen unbesetzt. Jede sechste Firma hatte danach gravierende Probleme bei der Suche nach Experten. Die meisten Ingenieure fehlen bei unternehmensnahen Dienstleistungen wie etwa Ingenieurbüros oder Unternehmensberatungen; hier konnten knapp 15.000 Stellen nicht besetzt werden. In Metallerzeugung und -bearbeitung, Elektroindustrie und Fahrzeugbau waren es rund 12.500 Stellen. 2006 sind knapp 3.000 ausländische Hochschulabsolventen zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, bei schätzungsweise der Hälfte davon handelt es sich um Ingenieure.

WER KOMMT? Dass Deutschland seinen Arbeitsmarkt für polnische Ingenieure einen Spaltbreit öffnet, hat in Polen keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Die wirklich guten Spezialisten auf diesem Gebiet sind längst in Norwegen und Großbritannien. Dort winken wesentlich attraktivere Arbeitsbedingungen als in Deutschland. Insbesondere die Norweger setzen bereits seit Jahren auf die Polen, haben im Norden und Süden des Landes Schulungszentren eingerichtet und engagieren nur diejenigen, die sowohl den Berufs- als auch den Sprachtest bestehen. Deutschland bleibt dennoch attraktiv, weil es das Nachbarland ist. Doch die Löhne für gute Facharbeiter sind auch in Polen inzwischen fast schon auf Westniveau. Nur in ländlichen Regionen Polens werden noch Niedriglöhne von umgerechnet 200 bis 300 Euro gezahlt. Um die guten Fachleute in Polen konkurrieren inzwischen auch international tätige Unternehmen, die in Warschau, Breslau oder Krakau investieren. Sie versuchen, die nach Großbritannien und Irland ausgewanderten Polen zurückzuholen, und bieten ihnen Westlöhne an. Außerdem werden Ukrainer angeworben, da der Facharbeitermangel in Polen inzwischen die wirtschaftliche Entwicklung hemmt.

Keine Sorge. Der dröhnende Titel der "nationalen Qualifizierungsoffensive" steht im Gegensatz zu den im Prachtschloss gefassten Beschlüssen. Die Regierung hat eine seltsame Innovationsstrategie entwickelt: Sie will den Akademikermangel mit Bildungsverlierern beheben.

Die Meseberger Beschlüsse lesen sich wie ein Aufruf an die Reservearmee des Arbeitsmarkts: Schulabbrecher sollen künftig eine zweite Chance erhalten, ältere Arbeitnehmer sich fortbilden, Handwerksmeister und Nichtabiturienten studieren. Sogar Kleinkinder zählt die Bundesregierung zu den potenziell Hochqualifizierten. So steht es in einem internen Regierungspapier für die Meseberger "Qualifizierungsoffensive": In der Vorlage mit dem Titel "Forschung und Qualifizierung stärken" wird unter anderem gefordert, Grundschulen und Kindergärten zu "Bildungshäusern" zu verbinden. Keine Frage, das sind alles sinnvolle bildungspolitische Reformen - nur lässt sich mit ihnen die schmerzliche Ingenieurslücke schwerlich schließen. Die deutschen Global Player können nicht warten, bis Vierjährige in "Bildungshäusern" zu kleinen Genies herangereift sind.

Bei Daimler in Stuttgart werden dieses Jahr 500 Akademiker und damit doppelt so viele Hochschulabsolventen wie bisher eingestellt. Allein 400 von ihnen sollen in Forschung und Entwicklung helfen, japanischen Autoinnovationen Paroli zu bieten. Bei Porsche werden 300 Ingenieure dringend gesucht - unter anderem, um einen Hybridantriebsmotor zu entwickeln. Der Young Professional Index hatte im Mai gemeldet, dass drei Viertel der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes nach diplomierten Technikern suchen - besonders nach Maschinenbauern sowie Medizin- und Elektrotechnikern.

Prompt mehrten sich die Klagen der Wirtschaft, dass das deutsche Bildungssystem zu wenige Hochqualifizierte auf den Markt bringt. Also ließ sich Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) einen schonungslosen Lagebericht von den Forschern des Kölner Instituts der Wirtschaft schreiben. Das Ergebnis war ein kleiner Schock für den Mann, der auch Technologieminister sein will. Die Zahl der Stellen für Hochqualifizierte, die nicht oder verspätet besetzt werden können, liegt bei über 100.000. Betroffen seien Branchen, "die für die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands am wichtigsten sind". Im Maschinen- und Fahrzeugbau sowie in der Metall- und Elektroindustrie würden händeringend Ingenieure gesucht. 20 Milliarden Euro gingen flöten, so die Expertise, weil dem Exportweltmeister akut Hochqualifizierte fehlen.

Wer freilich gedacht hatte, dass Glos nun endlich zeigen würde, dass er als Ersatzmann für den Technofreak Edmund Stoiber ins Kabinett kam, sah sich getäuscht. Während Glos noch mit dem Umweltminister um die Altbausanierung stritt, entdeckte überraschend die Bundesforschungsministerin ein neues Betätigungsfeld. Annette Schavan, die zwei Jahre lang zu Bildungsfragen eisern geschwiegen hatte ("Fragen Sie die Kultusminister der Länder"), pirscht sich seit einigen Wochen wieder an ihr Thema heran.

In Interviews hatte sie bereits vor Meseberg gezeigt, dass sie nun doch wieder Bildungsministerin sein will. Sie sprach über Schulbücher und Kindergärten, sie kritisierte sogar die Bundesländer, weil sie die Mobilität in Deutschland nicht garantierten.

Als die Zeit sie vergangene Woche fragte, woher der neue Mut komme, ließ Schavan erstmals seit ihrer Amtsübernahme einen Anflug von Selbstkritik erkennen: Sie habe jetzt so viele Reden zum einheitlichen europäischen Bildungsraum halten müssen. "Dabei fragte ich mich manchmal, ob wir in Deutschland diesen einheitlichen Bildungsraum eigentlich haben."

Kritiker fragen sich indes auch etwas - ob Schavans Erkenntnisprozess nicht ein bisschen spät kommt, um jetzt einen Akademikerboom zu entfachen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Kai Gehring forderte frech eine Qualifizierungsoffensive für die Ministerin selbst.

In der Tat ist der Sinneswandel der Bildungsministerin nicht ganz überzeugend. Denn Schavan hat den Akademikermangel bislang beharrlich geleugnet. Und als Präsidentin der Kultusministerkonferenz hat sie verhindert, was Abhilfe hätte schaffen können: die nachhaltige Steigerung der Abiturientenzahlen durch Umbau des Schulwesens.

Exakt vor einem Jahr warnte die OECD vor einem Fachkräftemangel in Deutschland. Es gebe zu viele Risikoschüler, viel zu wenige Abiturienten und eine absehbare Lücke bei Akademikern, insbesondere Ingenieuren. Der Guru der Bildungsstatistiken der OECD, Andreas Schleicher, warnte damals, dass Deutschland bei der Aufholjagd um Akademiker "die Zeit davonläuft". China etwa habe seit 1995 die Quote seiner Akademiker verdoppelt, Deutschland hingegen seine nur um bescheidene 8 Prozent steigern können.

Da war Schleicher bei Annette Schavan gerade an der richtigen Adresse. Auf die Studie "dieses Herrn" gehe sie gar nicht erst ein, sagte sie ausgerechnet vor der Helmholtz-Gemeinschaft, dem größten Forschungsarbeitgeber in Deutschland. Man könne doch Deutschland nicht mit China vergleichen! Jetzt, ein Jahr später, warnt die gleiche Bildungsministerin vor dem Akademikermangel - und ruft die letzte Reserve an die Unis. Als baden-württembergische Kultusministerin hatte Schavan Kritik an der zu geringen Abiturientenzahl dagegen stets mit dem Hinweis auf die famosen Möglichkeiten einer betrieblichen Lehre pariert.

Allerdings nützt die Schavansche rhetorische Kehrtwende wenig. Denn für die Ausbildung von Akademikern sind andere zuständig. Allein die Kultusminister der Länder können die Zahl der Abiturienten erhöhen. Der Bund ist für Schüler erst verantwortlich, wenn sie die Schule ohne Abschluss verlassen. Dann darf er sich mit milliardenschweren Wiedereingliederungsprogrammen um sie kümmern.

Das ist der eigentliche Grund dafür, dass in Meseberg zwar viel über Akademikermangel geredet wurde, über Abiturienten und Studenten aber tunlichst geschwiegen werden musste. Die Bundesregierung muss Hochqualifizierte für den Aufschwung bereitstellen - aber sie kann es gar nicht. Da ist die Regierung der Hightechnation abhängig von bettelarmen Kultusministern aus dem Saarland, aus Brandenburg oder Bremen, und die freuen sich schon auf ein Wiedersehen mit der gewendeten Schavan. Früher nannte man sie in der Runde zärtlich "die Föderastin". Heute verkündet sie: "Die Akzeptanz des Föderalismus geht gegen null."

Schavans Hoffnungen, mit den Kultusministern schnell auf einen grünen Zweig zu kommen, sind offenbar gering. In dem internen Meseberg-Papier flehen ihre Bundesbeamten die Länder geradezu an, nicht wieder zu verzögern wie zuletzt beim Hochschulpakt, der beinahe gescheitert wäre. Man sei darauf angewiesen, heißt es da, "dass alle Akteure mit Blick auf das Ganze ihre Verantwortung wahrnehmen und sich auf gemeinsame Ziele verständigen."

Welche Art Verhandlungen mit den Kultusministern bevorstehen, ist absehbar: Bis Oktober 2007, so steht es in dem Papier, solle mit den Ländern zum Beispiel ein Handlungsrahmen für "harte Schulverweigerer" entworfen werden, der dann bis 2010 abzuarbeiten ist.

Wie geduldig solche Handlungsrahmen sind, weiß Schavan nur zu gut. Vor sechs Jahren, es war die Zeit des ersten Pisaschocks, hatten die Kultusminister sieben Handlungsfelder abgesteckt, mit denen sie "sofort" auf das deutsche Schuldesaster reagieren wollten. Die meisten der sieben Punkte sind bis heute offen, manches ist in der Mache, anderes findet sich nun in der neuen "Qualifizierungsoffensive" wieder. Federführend damals war die Kultusministerpräsidentin Schavan.

"Ich kehre hochzufrieden aus Meseberg zurück", sagte die Bildungsministerin nach der Kabinettsklausur. Die Weltmarktkonkurrenten Deutschlands haben in dem Schloss eine andere Lektion gelernt: "So schnell schießen die Preußen nicht."

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