Philippinischer Film: "Meine Filme sind wie Gemälde"

Der neunstündige Film "Death in the Land of Encantos" von Lav Diaz läuft auf den Filmfestspielen von Venedig. Der philippinische Regisseur über das Konzept Zeit und asiatisches Independent-Kino.

"Der Taifun ist eine Metapher für den Zustand des Landes" Bild: ruth ehrmann

Ihr neuer Film "Tod im Land der Encantos" ist eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm. Wie ist er entstanden?

Diaz: 2006 hat der Taifun "Reming" die Provinz Bicol auf der philippinischen Insel Luzon getroffen. Es war der schlimmste Taifun seit langem, und er hat hunderte von Menschen umgebracht. Ganze Familien wurden ausgelöscht. Ich habe vor vier Jahren Teile meines Films "Evolution of a Filipino family" genau da gedreht, wo "Reming" am schlimmsten gewütet hatte.

Als wir "Heremias" gedreht haben, waren wir noch einmal für sechs Monate dort. Ich fuhr eine Woche nach dem Taifun hin und sah, dass viele unserer Drehorte komplett zerstört waren. Ursprünglich wollte ich nur etwas Dokumentarmaterial von der Verwüstung drehen. Der Taifun ist eine Metapher für den Zustand des Landes.

Wir leben in einem wirklich zauberhaften Land, aber gleichzeitig sind die meisten Leuten in den Philippinen arm und elend. Und es geht auch um die Morde an Aktivisten und progressiven Leuten, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Unter der Präsidentin Gloria Arroyo sind mehrere hundert Linke umgebracht worden, und dem Militär wurden 10 Milliarden Peso zur Verfügung gestellt, um die Kommunistische Partei zu zerschlagen. Die Hauptfigur ist ein Opfer dieser Unterdrückung - er wurde vom Militär gefoltert.

Mit einer Länge von mehr als zehn Stunden gehört der Film zu den längsten der Filmgeschichte. Warum sind Ihre Filme so lang?

Diese Ästhetik entwickle ich seit meinem Film "Batang West Side". Meine Filme sind nicht mehr Teil der Konventionen der Filmindustrie. Sie sind vollkommen frei. Ich gehe davon aus, dass wir Filipinos als malayisches Volk nicht vom Konzept der Zeit bestimmt werden. Wir sind vom Raum und von der Natur geprägt, nicht von der Zeit. Erst mit den spanischen Kolonisatoren hielt die Reglementierung der Zeit Einzug: Um sechs Uhr morgens muss man die "oracion" beten, um sieben Uhr zu arbeiten anfangen und so weiter. Aber wenn man sich heute auf den Philippinen umsieht, sieht man, dass die Filipinos immer noch viel herumhängen. Sie sind nicht besonders produktiv. Das ist sehr malayisch.

Ich bin der Sohn eines Bauern und einer Lehrerin, und als ich in Cotabato auf der Insel Mindanao im Süden der Philippinen aufwuchs, musste ich jeden Tag 10 Kilometer zur Schule laufen und nach der Schule wieder 10 Kilometer zurück. Diese langsame Ästhetik ist Teil meiner Welterfahrung.

Nicht nur Ihre Filme sind sehr lang, sondern auch Ihre meisten Szenen. In Ihrem Film "Heremias" gibt es eine Einstellung, die eine geschlagene Stunde dauert

Ich finde lange Einstellungen emotionaler und wirkungsvoller, wenn man Pathos erzeugen will. Ich glaube nicht mehr daran, dass Kino bedeutet, dass man zwei Stunden im Kino sitzt und sich eine Geschichte ansieht, die auf diese Zeit komprimiert worden ist. Meine Filme sind wie Gemälde, die zunächst auch mal einfach nur da sind. Nichts verändert sich. Man kann sich das acht Stunden lang ansehen und dadurch eine bereichernde Erfahrung haben. Oder man kann zwei Stunden rausgehen, und wenn man zurückkommt, ist der Film immer noch da.

Früher habe ich mich darüber aufgeregt, wenn meine Filme mit Unterbrechungen gezeigt wurden. Beim Rotterdamer Film Festival hat es bei meinem Film "Heremias" Pausen zum Kaffeetrinken und für das Mittagessen gegeben. Aber am Schluss hat sich das Publikum beschwert, weil es den Film ohne Unterbrechungen erfahren wollte. Viele Leute bringen sich sogar was zum Essen ins Kino mit, damit sie nicht rausgehen müssen, wenn sie Hunger bekommen. Wenn man ein Purist ist, will man sich natürlich das ganze Ding ansehen. Aber wenn man nur eine Viertelstunde gucken möchte, ist mir das auch recht.

Ist diese Art von Filmemachen durch digitales Video erleichtert worden?

Digitales Video hat für mich alles verändert. Jetzt gehört der Pinsel mir selbst, anders als früher, wo alles dem Studio gehörte. Dadurch ist alles so frei geworden. Wir sind jetzt nicht mehr von den Kapitalisten und den Filmproduktionsfirmen abhängig. Ich kann in diesem winzigen Raum mit einem Computer einen ganzen Film schneiden. Als es vor ein paar Tagen geregnet hat, war hier alles überflutet, und das Wasser ging uns bis zu den Knöcheln. Und trotzdem konnten wir den Film fertig stellen.

Früher habe ich für Regal, eine große philippinische Filmproduktion, gearbeitet, aber da habe ich mich in Auseinandersetzungen mit dem Produzenten und dem Stab verschlissen. Ich musste um jede Rolle Film kämpfen. Und plötzlich ist der Hauptdarsteller weg, um mit einer Schauspielerin ein Schäferstündchen einzulegen, und der Kameramann ist Alkoholiker, und alle machen dauernd Szenen, weil jeder so ein riesiges Ego hat. Jetzt arbeite ich mit einem kleinen Stab von drei, vier Leuten und werde nicht mehr durch solche Sachen von der Arbeit abgelenkt.

Viele Filmemacher stört die visuelle Qualität von digitalem Video

Das ist Quatsch. Ich habe selbst mit 35-Millimeter-Film gearbeitet, aber es geht immer darum, wie man so ein Medium anwendet. Als Maler kann man auch zwischen Aquarellen und Kreidezeichnungen wählen. Der Zeichenstift kann so wirkungsvoll sein wie Ölfarbe. In Hollywood benutzt sie die besten Kameras und das teuerste Filmmaterial, aber die meisten Hollywood-Filme sind ist trotzdem Müll.

Das relativ billige digitale Video hat in ganz Südostasien eine Kinorevolution ausgelöst. Nicht nur in den Philippinen, sondern in der ganzen Region entsteht gerade ein neues, unabhängiges Kino, das zum größten Teil mit digitalem Video arbeiter. Aus Ländern wie Malaysia, in denen es früher überhaupt kein Independent-Kino gab, kommen plötzlich viele ungewöhnliche Filme, die zunehmend auch auf internationalen Festivals erfolgreich sind.

Digitales Video ist unsere Befreiungstheologie. Jetzt haben wir endlich unsere eigenen Medien. Das Internet ist frei, unsere Kameras sind frei. Darum gibt es jetzt ein südostasiatisches Independent-Kino. In den Philippinen gibt es jüngere Filmemacher wie John Torres, Khavn de la Cruz oder Raja Martin, die ähnlich arbeiten wie ich. Aber ich sehe auch, dass in der ganzen Region eine neue Generation von unabhängigen Filmemachern aufkommt. Wir sind lange ignoriert worden. Das lag an den Produktionsbedingungen. Wir hatten kein Geld, wir hatten keine Kameras. Das ist jetzt nicht mehr so. Wir sind jetzt auf Augenhöhe mit den Filmemachern in den reichen Ländern. In der ganzen Region verändert sich die Filmszene. Junge Leute machen ihr eigenes Ding, und sie gehen keine Kompromisse mit der Filmindustrie ein. Und ich habe das Gefühl, als würde die Filmindustrie anfangen, darauf zu reagieren.

Alle Ihre Filme hatten ihre Uraufführungen bei Filmfestivals im Westen. Dort sind sie auch viel häufiger gezeigt worden als in den Philippinen.

Ja, vor allem in Europa. Was Filme wie meine betrifft, sind die Philippinen einfach vollkommen zurückgeblieben. Kein Kino würde so was zeigen, weil die nur Geld machen wollen. Ich kann meine Filme hier nur an Universitäten und im Cultural Center of the Philippines zeigen. Und es haben auf jeden Fall mehr Leute in Europa meine Filme gesehen als hier in den Philippinen.

Aber ist es nicht ein Widerspruch, dass Sie den Anspruch haben, eine malayische Ästhetik zu vertreten, aber Ihre Filme in den Philippinen fast kein Publikum haben?

Die Einstellung der Leute hier zu beeinflussen, kann sehr lange dauern, denn sie sind fast 100 Jahre lang von Hollywood und den philippinischen Filmstudios mit Müll vollgestopft worden. Aber ich habe es nicht eilig. Vielleicht dauert es noch 50 Jahre, bis die Leute hier einsehen, dass diese verrückten Sachen, die wir machen, kein Wahnsinn sind, sondern dass wir das für sie tun. Das wird passieren. Kultur ist Wachstum. Wenn man gute Filme macht, hilft man der Kultur zu wachsen. Wenn man schlechte Filme macht, beschädigt man die Kultur. Wer Gutes sät, wird Gutes ernten, davon bin ich fest überzeugt. Allerdings führt das auch dazu, dass man selbst erst mal kein Geld hat. (lacht)

INTERVIEW: TILMAN BAUMGÄRTEL

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