Deutscher Film: Entzauberte Welt

Christian Petzolds Film "Yella" spielt an Nicht-Orten: leeren Städten und kargen Büros. Und stellt die Frage: Welches Leben ist möglich im Spätkapitalismus?

Yellas neues Leben beginnt mit einem Tod. Bild: hans fromm

Yella (Nina Hoss) sucht einen neuen Anfang. Sie hat im brandenburgischen Wittenberge mit ihrem Mann Ben (Hinnerk Schönemann) gelebt. Als dessen Unternehmen scheiterte, hat sie ihn verlassen. Jetzt hat Yella Aussichten auf einen neuen Job als Buchhalterin im Westen, ihr Vater (Christian Redl) steckt ihr Geld zu. Auf dem Weg zum Bahnhof lauert Ben ihr auf, sie steigt widerwillig in sein Auto. Er steuert es über die Seitenbegrenzung einer Brücke, es stürzt in die Elbe, geht unter in den Fluten. Yella und Ben schleppen sich an Land. Yellas neues Leben beginnt mit einer Taufe, einem Tod, es endet und beginnt am Rand der Stadt, es ist, ehe es recht beginnt, suspendiert auf dieser Grenze, dieser Brücke zwischen Hier und Da, zwischen Leben und Tod.

Randlandschaften und Grenzzonen, geografische und psychische, sind der Schauplatz nicht erst dieses Films von Christian Petzold. Wie Yella werden auch schon die von Nina Hoss in "Toter Mann" und "Wolfsburg" gespielten Figuren aus den Leben gerissen, die sie führen, durch eine Gewalt, die einbricht, und deren Einbruch eine scharfe Zäsur setzt zwischen einem Davor und einem Danach. Während es in den Vorgängerfilmen aber um Entwicklungen ging, um Zuspitzungen beinahe zur Tragödie, so ist "Yella" eher ein Film über einen Zustand, eine Geschichte über ein neues Leben, das ein Nachleben bleibt, über einen Aufbruch, der nicht gelingen kann.

Seltsam unbelebt ist der Bahnhof in Wittenberge. Als Geisterstadt kann aber auch Hannover erscheinen, so wie Petzold und sein Kameramann Hans Fromm es ins Bild setzen. Man sieht viele nüchterne Innenräume, insbesondere Hotel- und Verhandlungszimmer, und das Expo-Brachgelände, das als Überbleibsel eines ins Nichts gesetzten Events nicht einmal die Patina des Verfalls angesetzt hat. Diese nicht nur geschichtslosen, sondern geradezu geschichtsunfähigen Räume sind das, was der theologisch inspirierte Anthropologe Marc Augé "Nicht-Orte" nennt und so beschreibt: "Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit." Nicht-Orte par excellence sind Shopping-Malls, Flug- und Bahnhöfe, durchquerte, benutzte Räume, in denen man weder Halt noch Bindung findet, die aller Aura beraubt, auf ihre beinahe leeres Funktionieren, den bloßen Gebrauch reduziert sind. Petzolds Gegenwartsdiagnose freilich lautet: Alle sozialen Räume sind längst dabei, sich in solche aus allen Traditionen entbundenen Orte des Verkehrs von Waren, Kommunikationen und Menschen zu transformieren. Es gibt - und man kann das sehr genau mit und gegen Edgar Reitz tief nostalgische Saga gleichen Titels pointieren - keine Heimat im emphatischen Sinn mehr.

Die entscheidende Frage, die nicht nur im deutschen Kino derzeit kaum einer so entschieden stellt wie Christian Petzold, lautet dann: Welche Formen der Existenz treten an die Stelle von Verortung und Heimat und wie stellen sich diese neuen Formen in Bildern des Kinos dar? Man kann diese Fragen im Kino nicht ohne den Verweis auf Michelangelo Antonioni beantworten, der die Dissoziation von Figur und Raum in einer oft geradezu euphorisch modernistischen Geste zum Kern seiner filmischen Ästhetik machte. Wo im Waldesrauschen früher ein Rätsel verborgen lag, so etwas kurz gefasst die These von Antonionis Schlüsselwerk "Blow Up", da ist heute nichts mehr zu sehen, kein Geheimnis mehr zu entdecken, so sehr man sich auch medial aufgerüstet zu sehen bemüht. Kein Lied schläft mehr in den Dingen, und wenn die Blätter rauschen, dann flüstern auch sie noch vom Leben im Spätkapitalismus.

In der Tat rauschen auch in Petzolds Filmen Bäume und Wälder. In "Yella" gar so auffällig und insistierend wie nie zuvor. Die Bilder und Töne von Stadt und Natur sind hier aber höchst ambivalent. Das Krächzen der Vögel steht neben dem Flugzeug, das mit einem Knall die Schallmauer durchbricht. Der Fluss, das Wasser sind mit dem Tod konnotiert, nicht mit dem Leben. Und unheimlich wird auch das Funktionale. Das Expo-Gelände präsentiert erstarrte Architektur, das Leben, die Liebe finden statt in den Verhandlungsspielräumen, die die Ökonomie lässt. Und doch liegt gerade darin auch eine Lust, eine Faszination. Man sieht Yella erblühen, ein verstohlenes Lächeln, das Glück der Komplizenschaft in der Welt der doppelten Buchführung.

Christian Petzolds Filme kreisen stets um das für deutsche Ideologien so wichtige Wortfeld des Heimatlichen, Geheimen und nicht zuletzt des Unheimlichen. Und weil Gespenster, als Figuren, die die Grenze zwischen Leben und Tod überschreiten, die Verkörperung des Unheimlichen sind, sind Petzolds Filme auf der Suche nach Gegenwartsdiagnosen mehr und mehr zu Gespensterfilmen geworden. Zu Meditationen, die vorführen, wie Menschen aus räumlichen, sozialen, verwandtschaftlichen Bindungen gerissen werden, wie Existenzen an Grenzen geraten. Die Verhältnisse werden, ökonomisch wie metaphysisch, prekär - und für "Yella" gilt das im ursprünglichen Sinn des lateinischen Worts "precarius" ganz buchstäblich: das Leben der Protagonistin Yella ist einzig "auf Widerruf gewährt".

"Yella" ist, wie Petzolds letzte Filme überhaupt, bevölkert von Toten und Untoten, die die Lebenden heimsuchen und Lebenden, die wie Tote sich durch die Welt bewegen. Grundiert sind sie von Fragen wie: Wie sollen wir leben, wem dürfen wir trauen, wofür sollen wir uns entscheiden? Es geht um Geschlechterverhältnisse, um die Bedingungen von Arbeit und Liebe in der ökonomieversessenen Gegenwart. Wenn es etwas nicht gibt bei Petzold, dann sind das Subjekte, die wissen, was sie tun und warum. Stattdessen Menschen in fragilen Lagen, deren Welt zusammenbricht, die nach Halt suchen in anderen, in Verbrechen, in Projektionen und Fantasien, die weiterleben, obwohl sie tot sind, die dem Falschen vertrauen, das Richtige falsch machen und das Falsche richtig.

Es geht um Geschehnisse, von denen man nicht loskommt, Geschehnisse, an die gebunden zu sein jede Bindung ans alltägliche Leben unmöglich machen. In "Toter Mann" sucht eine Frau nach Rache für den Mord an ihrer Schwester, muss zuletzt aber feststellen, dass ein Täter auch ein Opfer sein kann und Vergeltung unmöglich wird, weil sie das richtige Objekt nicht mehr findet, weil der minutiöse Plan alle Kraft zur Aktion schon erschöpft hat. In "Wolfsburg" kommt einer von einer Tat, die er fast ohne Schuld beging, nicht los, verstrickt sich in eine Erlösungsaktion, in der jedes wahre Gefühl falsch, jedes Geständnis zur Lüge wird. Und in "Gespenster" sucht eine Mutter eine Tochter, die sie nie finden kann, klammert sich an eine Projektion, die beinahe stark genug ist, ins Leben zu rufen, was nie war.

Die Normalität und der Abgrund, Traum und Ökonomie, Arbeit und Natur sind nicht Gegensätze bei Petzold, so wenig wie der Genre-Film und die Dokumentation. Diese Überblendung findet sich in "Yella" in geradezu idealtypischer Weise. Petzold hat sich schon immer so virtuos wie subtil bei Vorbildern aus Film und Literatur zu bedienen verstanden - diesmal aber wagt er eine auf den ersten Blick völlig unmöglich anmutende Kombination. Der Rahmen der in "Yella" erzählten Geschichte ist ein kaum verhohlenes Remake von Herk Harveys Low-Budget-Horrorklassiker "Carnival of Souls" von 1962. Der Sturz in den Fluss, die kreischenden Raben, der Zustand zwischen Leben und Traum, Realem und Irrealem, der Horror einer von Rissen durchzogenen Wirklichkeit: all das findet sich bereits hier.

Dieses Szenario des Unheimlichen überlagert Petzold aber mit einer völlig anderen Welt, eben der des Risikokapitals. Auch hier gibt es ganz unverkennbar und bis in winzige Details hinein ein filmisches Bezugswerk. Es ist die Dokumentation "Nicht ohne Risiko" (2004) des Regisseurs Harun Farocki, der ein wichtiger Lehrer Petzolds an der Filmhochschule war und bei all seinen Spielfilmen als "dramaturgischer Berater" fungiert. Yella begegnet im Restaurant ihres Hotels in Hannover dem undurchsichtigen Philipp (unterkühlt: Devid Striesow). Er nimmt Yella mit zu seinen Verhandlungen mit risikokapitalbedürftigen Geschäftsleuten, als Sekretärin erst, dann als Komplizin.

In der Welt der Bilanzen kennt Yella sich aus, und die atemberaubend kontrolliert spielende Nina Hoss führt sie uns vor als eine, in der jede Geste zählt, in der Existenzen auf den Treibsand von Zahlen gebaut sind. Eine Welt auch, wie Yella am Ende lernt, in der Schuld und Verschuldung, mithin Moral und Kapital voneinander nicht zu trennen sind. Man stürzt nicht zweimal in denselben Fluss: Was beim einen Mal beinah unverschuldetes Schicksal war, ist beim zweiten Mal ein Urteilsspruch, dem Yella sich ohne Widerstand fügt. Dazwischen liegt eine Geschichte als rite de passage, in dem der Schein der Rationalität, auf dem die Ökonomie insistiert, sich mit Unheimlichkeit auflädt. Petzold zeigt das in genau gerahmten Bildern und mit der all seinen Filmen eigenen Sprödigkeit. Das Gespenstische ist bei ihm keine Kraft der Natur, sondern Effekt einer gründlich entzauberten Welt.

"Yella". Regie: Christian Petzold. Mit Nina Hoss, Devid Striesow u. a. Deutschland 2007, 89 Min.

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