Michael Moore-Film: Gesundheitssystem am Pranger

In "Sicko" vergleicht Moore Gesundheitssysteme. USA? Desolat. Frankreich? Herrlich. Und wieder ist das Dokumentarische bloß Nebenprodukt der Polemik.

Na? Für welchen Finger reicht das Geld? Bild: senator

Moderne Gesellschaften produzieren ihre eigenen Kalauer: Das Gesundheitssystem ist krank - wie oft haben Politiker und Leitartikler, Patienten und Volksredner diese Diagnose schon gestellt? Ob sie zutreffend ist und an welchen Ansprüchen dies zu messen wäre, unterliegt dabei charakteristischen Schwankungen, je nachdem, ob der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach oder ein Sprecher der pharmazeutischen Industrie das Wort führt. Moderne Gemeinwesen befinden sich in einem Zustand permanenter Gesundheitsreform, in den USA strebt mit Hillary Clinton eine Politikerin das Präsidentenamt an, die auf diesem Gebiet ihre bittersten Lektionen gelernt hat. Dort wie hier suchen Experten nach einem Schwert für den gordischen Knoten aus Interessen und Bedürfnissen.

Der Filmemacher Michael Moore führt nun in seinem neuen Film "Sicko" eine Unterscheidung wieder ein, auf die in Europa niemand mehr stolz ist: Er findet in der neuen Welt der USA ein desaströses Gesundheitssystem vor, während in der alten Welt, in England und Frankreich (und in Kanada), alles ganz wunderbar ist. Drüben sind die Menschen bei börsennotierten Konzernen versichert, die nach Möglichkeit jede Behandlung untersagen. Herüben sind die Menschen in einem öffentlichen Gesundheitssystem aufgehoben, das von der Wiege bis zur Bahre alles übernimmt und im Bedarfsfall sogar noch jemanden für die Wäsche ins Haus schickt.

"Sicko" ist, wie es von einem Populisten wie Michael Moore nicht anders zu erwarten ist, ein Propagandafilm mit ernstem Hintergrund. Das Ausmaß, in dem Moore hier agitiert statt recherchiert, ist angesichts der komplexen Materie nicht verwunderlich, erlaubt allerdings doch die Frage, wem denn hier welcher Bär aufgebunden werden soll.

Den Ausgangspunkt bildet naheliegenderweise die Situation in den USA. Dabei lässt Moore die über 50 Millionen Menschen, die dort gar keine Krankenversicherung haben, außen vor. Ihm geht es in "Sicko" um die vielen Fallgruben des amerikanischen Systems. Die Versicherungen müssen ständig das Profitinteresse mit den Ansprüchen der Patienten abwägen. Sie beschäftigen deswegen eigene Ärzte, die über Notwendigkeit und Chancen bestimmter Therapien befinden. "Denied", abgelehnt, lautet dabei sehr häufig der Bescheid.

Moore findet für dieses kapitalistische Dilemma die erwartbar konkreten Bilder: Ein Mann verliert bei einem Unfall zwei Finger, im Krankenhaus wird der Wert der beiden Extremitäten beziffert, dann muss der Mann entscheiden, welchen Finger er sich leisten kann. Diesen und ähnliche Fälle präsentiert Moore in seiner üblichen Rolle als Anwalt der kleinen Leute. Dazu bringt er Menschen vor die Kamera, die früher für das System gearbeitet haben und jetzt öffentlich Reue zeigen. Politiker und ihre Verbindungen zur Industrie werden an den Pranger gestellt.

Die eigentliche kritische Spitze gewinnt Moore in "Sicko" jedoch aus dem System-, sprich: Ländervergleich. In den USA gilt jede Form von "sozialisierter" medizinischer Versorgung als Vorstufe zum Kommunismus. In Ländern wie Kanada, England oder Frankreich, in denen das Gesundheitswesen in öffentlicher Hand ist, sind nun aber die Rahmendaten deutlich besser: Die Lebenserwartung ist höher, die Säuglingssterblichkeit ist niedriger, die Wartezeit in Ambulanzen ist kurz.

Vor allem Frankreich wird in "Sicko" zu einem Schlaraffenland des Wohlseins. Ein Höhepunkt des Films ist zweifellos die Szene, in der Michael Moore zu den Klängen von "Je taime" mit verzücktem Blick durch Paris wandert - seine Liebe bezieht sich ganz eindeutig auf das Gesundheitssystem der Grande Nation.

Die windschiefen Vergleiche haben in der Essenz natürlich immer noch Sinn - es gibt gute Gründe für eine weitreichende medizinische Grundversorgung, die nicht von den Kapitalmärkten bestimmt wird. Michael Moore hat allerdings in den Jahren seines kometenhaften Aufstiegs zur großen weißen Hoffnung der globalen Linken das Prinzip der Personalisierung auf beiden Seiten entscheidend vorangebracht: Solange die Schurkenrolle mit George W. Bush noch auf ein weiteres Jahr besetzt ist, muss Moore die persönliche Konfrontation suchen. Es muss, wenn er dem Präsidenten schon nicht direkt die Meinung sagen kann, wenigstens eine gute Provokation her.

"Sicko" wird deswegen im letzten Teil noch richtiggehend aktionistisch: Michael Moore findet in Kuba genau jenes "sozialistische" Gesundheitssystem, vor dem ihn die amerikanischen Politiker immer gewarnt hatten. Er vermag an den kubanischen Röntgenärzten und deren Geräten nichts Verdächtiges erkennen, im Gegenteil hilft auch in Kuba ein Computertomograf bei der Diagnose der Beschwerden eines Mannes, der nach dem 11. September 2001 am Ground Zero gearbeitet und dort giftige Dämpfe eingeatmet hat. 9/11 ist immer noch der Dreh- und Angelpunkt jeder Agitation in den USA, ob nun vom Präsidenten oder seinem prominenten Gegner.

"Sicko" kümmert sich nicht um die Unterschiede zwischen Selbstironie und kalkulierter Naivität, zwischen "dumm sein" und "sich dumm stellen". Das liegt ganz einfach daran, dass der Kalauer das Genre dieses Films ist. Was an Dokumentarischem noch mitgeliefert wird, stellt den USA kein gutes Zeugnis aus, die Polemik drumherum verfestigt aber eher die ideologischen Fronten, auch wenn Michael Moore sicher das Gegenteil im Sinn hatte: eine paradoxe Intervention.

"Sicko". Regie: Michael Moore, USA 2007, 113 Min.

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