Lokführer: In der Friedenspflicht

Nils Reuter arbeitet in seinem Traumjob. Der Lokführer erhofft sich als GDL-Mitglied vor allem mehr Geld.

Nils Reuter: "Wer Lokführer wird, weiß, was ihn erwartet" Bild: Johannes Gernert

BERLIN/HAMBURG taz Es ist das zweite Mal in seinem Leben, dass es eine Rolle spielt, in welcher Gewerkschaft er ist. Beim ersten Mal hat sich ein Bahner-Kollege in Bayern danach erkundigt. "Das geht dich gar nichts an", hat Nils Reuter damals geantwortet. Das war ja wie zu DDR-Zeiten, wo man in der richtigen, der einzigen Gewerkschaft sein musste. Reuter war Anfang der Neunziger als Lokführer in den Westen gegangen, weil ihm die Arbeitsplätze da während dieser turbulenten Nachwendezeit sicherer schienen als in Ost-Berlin. Vorher hatte ihn sein Personaldisponent noch gefragt, ob er der GDL, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, beitreten will.

Gewerkschaft macht Sinn, fand Reuter, wegen Rechtsschutz und solchen Sachen. Und GDL machte doppelt Sinn. Ein Fleischer schließlich geht auch nicht zur Bäckerinnung, hatte ihm mal einer gesagt. So wurde Nils Reuter, der Lokführer, GDL-Mitglied.

16 Jahre lang begleitete ihn die Gewerkschaft wie der Dudelfunk beim Autofahren. Sie kostete einen monatlichen Beitrag, verhandelte gemeinsam mit den anderen Bahnergewerkschaften, was man so moderate Lohnerhöhung nennt. Reuter nahm es zur Kenntnis, mehr nicht.

Seit ein paar Wochen ist das anders. Transnet und GDBA hatten sich Anfang Juli nach einem Warnstreik auf 4,5 Prozent mehr Geld geeinigt - Reuter nennt das "quasi nichts" -, aber die GDL forderte 31 Prozent. Er war plötzlich Mitglied in einer Gewerkschaft, die weiterkämpfte. Und er erwartet von ihr, dass sie gewinnt. Wie auch immer so ein Sieg aussieht, jetzt, wo vorerst ohne Streik weiterverhandelt wird. "Die Erwartung ist relativ hoch", sagt Reuter. 150 Euro mehr netto würde er sich wünschen.

An einem Samstagmorgen um halb acht sitzt er im Cockpit des ICE 1518 von Berlin-Südkreuz nach Hamburg-Altona. Sein massiger Körper hüpft im druckgefederten schwarzen Sessel ganz leicht auf und ab, der Rucksack mit der Stullenbox steht in der Ecke. Im Sekundentakt fliegen Strommasten vorbei. Wenn ein Zug entgegenkommt, hebt Reuter kurz die Hand. Es sieht aus wie ein Victory-Zeichen.

Er hat seinen Dienst um 5:41 Uhr im Betriebsbahnhof Rummelsburg angetreten, sieben Stunden und zwanzig Minuten dauert er heute. Morgen ist Sonntag, da arbeitet er über neun Stunden. Er beschwert sich nicht. Wer Lokführer wird, weiß, was ihn erwartet, sagt er. Nils Reuter ist 42 Jahre alt, 26 davon arbeitet er schon bei der Bahn, mehr als sein halbes Leben. Während der Schulzeit sollte er einmal in einem Fragebogen seinen Berufswunsch nennen. Er hat Lokführer hingeschrieben. "Mir wäre nüscht anderes eingefallen", sagt Reuter. Er wollte das einfach schon immer. Reuter ist Schlosser und dann Heizer bei der Reichsbahn geworden, hat Kohlen ins Feuer einer Dampflok geschippt, hat Loks auf einem Güterbahnhof rangiert und irgendwann, nach etlichen Prüfungen an der Lokfahrschule Güstrow, nachdem er genügend Lehrfahrten absolviert hatte, nach insgesamt sieben Jahren, fuhr er den ersten Zug. Lokführer ist Nils Reuters Traumberuf geblieben. Wenn man ihn fragt, ob etwas besser sein könnte, sagt er: "Vielleicht mal wieder n Güterzug fahren." Das würde ihm Spaß machen. Das geht nicht, weil es die DB Fern gibt, die DB Cargo und die DB Regio und weil er bei der DB Fern nur IC und ICE fährt. Ja, so ein Güterzug. Aber sonst

Nils Reuter weiß, wo gelegentlich Rehe oder Wildschweine über die Gleise rennen Bild: Johannes Gernert

Vor allem die Bezahlung. Er ist ganz oben auf der Karriereleiter angekommen, 2.100 Euro brutto, dazu Wochenend- und Nachtzuschläge. Als er einmal das Gehalt auf dem Vertrag eines Kollegen sah, der bei einem privaten Güterzugunternehmen arbeitet, hat er darüber nachgedacht, sich in Hessen zu bewerben. Wegen seiner Familie hat er es gelassen. Außerdem kündigt man nach 26 Jahren Bahn nicht einfach, findet er. Seine Frau arbeitet im Reisebüro. Wäre das nicht so, würden sie mit ihren beiden Kindern vermutlich nicht im Reihenhäuschen am Stadtrand wohnen.

Kurz vor Hamburg ruft der Zugführer aus einem der hinteren Abteile an und fragt, ob sie noch in der Zeit sind. Er hat gemerkt, dass Reuter dreimal gebremst hat. Die Fahrzeitreserve beträgt auf der Strecke Berlin-Hamburg drei Minuten. Dreimal Bremsen könnte sie aufgebraucht haben. Alles in Ordnung, sagt Nils Reuter.

Sie sind sehr freundlich zueinander, die Schaffner, die Lokführer, die Gastro-Leute. Sie wünschen sich "wunderschöne gute Tage" und "schöne Päuschen". Es wirkt fast wie eine Harmonie-Therapie gegen den ständigen Fahrgastgroll. Wer in welcher Gewerkschaft ist, sagt Reuter, spielt überhaupt keine Rolle. Er weiß das von den meisten gar nicht.

Es hat sich in den vergangenen Jahren bei den Kollegen einiger Frust angestaut, erzählt er. Sie müssen mehr arbeiten, 41 statt 38 Stunden in der Woche, für dasselbe Geld. Jetzt, nach Jahren des Verzichts, ist es Zeit, etwas zu fordern, finden sie. Und wenn die GDL sich nicht durchsetzt? "Dann werden sich einige überlegen, ob sie ihre 15 Euro Mitgliedsbeitrag vielleicht lieber anders anlegen", sagt Reuter.

Der ICE 1518 rollt pünktlich in den Hamburger Hauptbahnhof. Nils Reuter ist zufrieden. Er hasst Verspätungen. Schon eine Minute ärgert ihn, so richtig. Seine Schnellzüge steuert er von Berlin nach Dortmund, Dresden, Stralsund, Frankfurt oder Hamburg. Dafür besitzt er "Streckenkenntnis", die regelmäßig überprüft wird. Auf seinem Armaturenbrett mit den Schalthebeln und den beiden Monitoren, auf denen er die Stationen der Route sieht und feststellen kann, welche Türen offen oder zu sind, liegt ein Heft, das Lokführer "die La" nennen - die "Zusammenstellung von vorübergehenden Langsamfahrstellen und anderen Besonderheiten".

Er weiß, wo gelegentlich Rehe oder Wildschweine über die Gleise rennen oder wo Jugendliche Mutproben veranstalten könnten: Wer am längsten stehen bleibt. Schulkinder am Bahnsteigrand machen ihn manchmal nervös. Reuter würde trotzdem nie behaupten, dass er besonders viel Verantwortung trägt, so wie es viele Politiker gerade stellvertretend für ihn tun. Er macht seinen Job, er macht ihn schon lange und er macht ihn ordentlich. Er möchte dafür ordentlich bezahlt werden.

Kürzlich war er im Urlaub in Schweden. Er dachte, wenn er zurückkommt, ist der Tarifstreit beigelegt. Als er dann wieder da war, hatte ein Nürnberger Gericht der GDL verboten zu streiken und die Vermittler Geißler und Biedenkopf bemühten sich um eine Einigung.

Am Dienstagnachmittag sollten sie nun ihre Ergebnisse verkünden. Nils Reuter schaltet also zu Hause den Fernseher an und sieht viele lachende Menschen. Die freuen sich ja alle, denkt er. Sein Gewerkschaftschef Schell, der Geißler und der Biedenkopf. Was ist rausgekommen? Es wird weiterverhandelt bis Ende September, ohne Streik. "Die haben 14 Tage gesessen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie ein konkretes Ergebnis präsentieren", sagt er. "Da war ich wohl ein bisschen blauäugig." Er wird noch ein paar Wochen länger hoffen müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.