Spieltriebe 2: Nichts verkommen lassen

Das Osnabrücker Theater hat sich durch Uraufführungen neuer Stücke einen Namen gemacht. Doch diese Spielzeit beginnt mit dem ersten Zweitaufführungsfestival Deutschlands.

Das Osnabrücker Festival "Spieltriebe 2". Bild: dpa

Nur drei Tage brauchte Holger Schultze, um das Theater Osnabrück aus einem gut zehn Jahre währenden Schlaf in gepflegter Mittelmäßigkeit zu reißen. Das war vor zwei Jahren, als er und sein junges Team die Saison mit dem Festival "Spieltriebe" eröffneten, in dessen Verlauf ein rundes Dutzend neuer Theaterstücke aus der Taufe gehoben wurde. Damit positionierte der neue Intendant sein Haus in der Saison 2005/06 als Bühne mit den meisten Uraufführungen in ganz Deutschland. Doch damit nicht genug: Auftragswerke für junge Autoren, die Uraufführung von zwei Opern und zwei Stücken, die den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker erhalten hatten, dynamische Klassiker-Inszenierungen ("Faust I & II") und spannende Ausgrabungen wie Tennessee Williams "Orpheus steigt herab" setzten den gelungenen Auftakt fort, der auch außerhalb Niedersachsens mit zunehmendem Interesse beobachtet wurde.

In den vergangenen zwei Jahren erhielten zehn Produktionen Einladungen zu renommierten Festivals. Beim Heidelberger Stückemarkt und dem Deutschen Kinder- und Jugendtheater-Treffen in Berlin waren die Osnabrücker ebenso vertreten wie beim Wettstreit um den begehrten Mülheimer Dramatikerpreis. Im Mai 2007 durften sie sich da mit der Uraufführung von Dirk Lauckes Schauspiel "alter ford escort dunkelblau" vorstellen - als einziges niedersächsisches und mit Abstand kleinstes Theater. Dirk Laucke wurde für dieses Stück von der Zeitschrift Theater heute zum besten Nachwuchsautor des Jahres gewählt.

"Die Provinz gibt es eigentlich nur im Kopf", behauptet Holger Schultze und liegt damit wohl nicht ganz falsch. Statt sein Erfolgsrezept von 2005 zu kopieren, setzte er für das Festival "Spieltriebe 2", mit dem diese Spielzeit begann, einen deutlich anderen Schwerpunkt als vor zwei Jahren. Diesmal trugen die Osnabrücker dem Umstand Rechnung, dass die wenigsten Theaterstücke über die Uraufführungsproduktion hinauskommen und es nur einigen prominenten Autoren vorbehalten ist, ihre Werke in mehr als einer Inszenierung auf der Bühne zu sehen.

So wurde Rebekka Kricheldorfs "Ballade vom Nadelbaumkiller" 2004 am Staatstheater Stuttgart aus der Taufe gehoben und als überzeugende Bestandsaufnahme des Konflikts zwischen müden 68ern und ihren gar nicht erst wach gewordenen Kindern und Kindeskindern gefeiert. Tatsächlich spielt das Stück virtuos mit Weltverbesserungsvorschlägen und permanenten Versagensängsten. Ohne moralinsauren Erkenntnisdruck stellt es die Frage nach den historischen Verdiensten und der persönlichen Glaubwürdigkeit einer Generation, die einst aufgebrochen war, um die Gesellschaft zu verändern und sich dann mit dem langen Marsch durch die Institutionen zufrieden gab. Die Zöglinge der Revoluzzer haben freilich kein Recht, ihnen Vorhaltungen zu machen. In Kricheldorfs boshafter Ballade zerfasert das Engagement der Generation Golf und das der Netzwerkkinder bereits bei der erstbesten Nabelschau, während die soziale Spaltung, die Arbeitslosigkeit oder der Krieg in Afghanistan keine erkennbare Rolle mehr spielen.

Trotzdem konnte sich bislang kein einziges Theater zu einer Neuinszenierung entschließen, und dieses Schicksal teilte die "Ballade" mit vielen anderen, zunächst hochgelobten Stücken wie Werner Fritschs "Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens", Ulrike Syhas "Gewerbe" oder Philipp Löhles "Kauf-Land". Über die Ursachen dieser Wegwerfmentalität wird derzeit kontrovers diskutiert. Selbstredend versprechen sich die Theater von der Uraufführungstaktik eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit. Aber auch die Pressevertreter interessieren sich in den seltensten Fällen für die zweite Inszenierung, sofern es sich nicht um Autoren vom Bekanntheitsgrad eines Botho Strauß, Peter Handke oder einer Elfriede Jelinek handelt.

Rebekka Kricheldorf, die heute in Berlin lebt und kurz vor Weihnachten der Uraufführung ihres aktuellen Schauspiels "Neues Glück mit totem Model" in Dresden entgegensieht, glaubt nicht, dass hier vorwiegend nach qualitativen Aspekten entschieden wird. "Viele Theater setzen nur noch auf das Stichwort 'Uraufführung', weil damit auch ein gewisser Imagegewinn zu erzielen ist. Trotzdem finde ich es unsinnig, dass Stücke, die für gut befunden wurden, dann einfach nicht mehr gespielt werden. Dadurch sind die Autoren gezwungen, permanent neue Arbeiten abzuliefern, und das wirkt sich auf Dauer natürlich auf die Qualität aus."

So sieht es auch die 31-jährige Ulrike Syha, die für "Autofahren in Deutschland" mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet und mit ihrem Schauspiel "Nomaden" zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen wurde. Ihr 2005 in Heidelberg vorgestelltes Stück "Gewerbe", in dem sich die von Berufs- und Beziehungsproblemen drangsalierten Personen aus dem realen Leben in eine künstliche Katalogwelt flüchten, erlebte erst im Rahmen von "Spieltriebe 2" eine Neuinszenierung durch Nina Gühlstorff. Obwohl Syha zu den vergleichsweise oft aufgeführten jungen Theaterautorinnen zählt, und auch schon einzelne Werke nachgespielt wurden, braucht sie zusätzliche Einnahmequellen. "Mehr als ein Schauspiel kann und will ich pro Jahr gar nicht schreiben. Sonst kann man die Texte nachher nicht mehr auseinanderhalten", meint Syha, die sich folgerichtig auch durch Stipendien, Preisgelder oder Übersetzungen finanziert.

Unter diesen Umständen war die Idee eines Zweitaufführungsfestivals von vornherein bestechend, zumal fast alle Stücke in den laufenden Spielplan übernommen werden. Die Umsetzung ließ ebenfalls wenig zu wünschen übrig, auch wenn es gelegentlich - etwa in Katrin Herchenröthers Inszenierung von Löhles "Kauf-Land" - an Stringenz und Dynamik mangelte. Mit viel Esprit und Einfallsreichtum setzten Regisseurin Dorothea Schroeder, Bühnenbildnerin Ilka Müller und Ausstatterin Maria Anderski die "Ballade vom Nadelbaumkiller" in Szene. Eine Videoleinwand und wenige Requisiten reichten den Darstellern, um eine absurde Suche nach dem Sinn des Lebens vorzuführen. Sie endet schließlich damit, dass der zur Mündigkeit erzogene 68er-Sohn für unmündig erklärt wird, nachdem er sich als vermeintlicher Wiedergänger des seligen Don Juan einen Flamingo-Kronleuchter aufs Haupt gesetzt und versucht hat, seine ehemaligen Geliebten zu vergiften.

"Spieltriebe 2" fand nicht nur im Theater statt, sondern reiste mit seinen 11 Stücken auf fünf Routen durch die Stadt, spielte in einem Seniorenheim, einer Discothek und der Kunsthalle Dominikanerkirche. Ulrike Syhas "Gewerbe" wurde im Vereinsheim der Kleingärtnervereinigung "Deutsche Scholle" aufgeführt. Das restlos vertäfelte Ambiente wirkt auf Außenstehende vergleichsweise erschreckend, bildet aber einen angemessenen Rahmen für den Ehekrieg von Olga und Arthur (packende Umsetzung durch Christina Dom oder Oliver Meskendahl), die hier auf engstem Raum ihre ganz persönliche Tour de Farce veranstalten.

Die Festivalbesucher waren bemerkenswert jung und nutzten den motorisierten Shuttleservice, um sich von Aufführungsort zu Aufführungsort treiben zu lassen und über die Stücke und Inszenierungen zu diskutieren. Der Versuch, mit ungewöhnlichen Programmen neue Publikumsschichten anzusprechen, scheint zu funktionieren, gelingt allerdings auch nicht im luftleeren Raum: Die Osnabrücker Bühne hält seit einiger Zeit engen Kontakt zu den örtlichen Schulen, um allen Kindern und Jugendlichen mindestens einmal im Jahr einen Theaterbesuch zu ermöglichen.

Über die Anzahl und Auswahl der Stücke, die auf einem Festival präsentiert werden, kann in aller Regel kein Konsens erzielt werden. Insofern wird sich "Spieltriebe 2" ebenfalls die Frage gefallen lassen müssen, ob ausgerechnet diese (und nicht vielleicht andere, jüngere, ältere, bessere ) Werke eine Wiederbelebung und Neuinszenierung verdient hätten. Ob es klug war, fünf Routen anzubieten, die an drei Tagen nicht zu bewältigen sind, und ob nicht mehr ausländische Autoren in die Betrachtung hätten einbezogen werden sollen. Allerdings entsprächen solche Debatten genau dem Sinn dieses Festivals. "Wir wollten hier keinen Kanon vorstellen, sondern eine Diskussion anstoßen", sagt Intendant Holger Schultze. "Wenn sich andere Theater für andere Stücke entscheiden, haben wir sicher nichts dagegen. Hauptsache, es entscheiden sich überhaupt mehr Bühnen dafür, es nicht bei der Uraufführung bewenden zu lassen."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.