RAF: Diese ganze Kriegsscheiße

Wie war das noch mit dem Establishment in der alten BRD? Die Auseinandersetzung um die RAF und den Deutschen Herbst hat mehr als eine kriminalistische Debatte verdient.

Helmut Schmidt (m.), Hanns Martin Schleyer (r.) und dessen Nachfolger Hans-Günther Sohl (l.) im April 1977 Bild: ap

Am 19.Oktober 1977 wird die Leiche von Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos in Mulhouse im Elsass gefunden. Der Präsident der Deutschen Industrie befand sich seit dem 5. September in der Hand des Kommandos "Siegfried Hausner" der Rote Armee Fraktion (RAF). Damit sollte nach 44 Tagen der spektakulärste Entführungsfall der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte blutig zu Ende gehen. Nachts zuvor hatte ein deutsches Antiterrorkommando in Somalia die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" gestürmt. Und wenig später waren - am Morgen des 18. Oktober- im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim die RAF-Gründungsmitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Rapse tot in ihren Zellen aufgefunden worden, einzig Irmgard Möller überlebte schwer verletzt.

Heute, fast dreißig Jahre später, scheint ausgerechnet die juristische Seite der damaligen Ereignisse wieder umstritten und von neuerlichem Interesse. Dies erstaunt doch, da gerade die kriminalistischen Aspekte des "Deutschen Herbstes" lange als fast vollständig ausgedeutet galten. Für die Entführung von Schleyer und der gemeinschaftlich begangenen Morde an seinen Begleitern wurden insgesamt zehn RAF-Mitglieder verurteilt (Peter-Jürgen Boock, Monika Helbing, Sieglinde Hofmann, Christian Klar, Silke Maier-Witt, Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz, Sigrid Sternebeck, Rolf Klemens Wagner und Stefan Wisniewski). Zwei weitere Tatverdächtige, Willy-Peter Stoll und Elisabeth von Dyck, wurden bei der Fahndung erschossen, sieben weitere wurden wegen anderer Delikte verurteilt. Nur nach Friederike Krabbe wird seither noch gefahndet, so heißt es jedenfalls.

Dennoch geriet vor allem Stefan Wisniewski Anfang des Jahres erneut in die Schlagzeilen. Nach Aussagen des Spiegel-Kronzeugen Peter-Jürgen Boock soll er die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und (zusammen mit Rolf Heissler) auch auf Hanns Martin Schleyer abgegeben haben. Boock will dies zumindest über Dritte gehört haben. Diese rein kriminalistisch aufgezäumte Diskussion um einzelne längst abgeurteilte RAF-Täter scheint nicht immer einleuchtend. Wisniewski zum Beispiel war 1978 als 25-Jähriger in Paris von der Polizei festgenommen worden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er damals an die deutschen Behörden überstellt und wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes und der Schleyer-Entführung zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt.

Die individuell nachweisbare Schuld eines RAF-Angeklagten kümmerte damals nicht sonderlich. Die RAF betrachtete sich als Kollektiv, welches gemeinschaftlich plante und handelte; der deutsche Staat und seine Justiz agierten in ähnlicher Logik: Wer der Mitgliedschaft in der RAF überführt werden konnte, wurde nach kollektiven Kriterien verurteilt. Das frühere RAF-Mitglied Knut Folkerts schilderte kürzlich an seinem Fall, wie frei die Anklagen der Bundesanwaltschaft oftmals konstruiert waren. Hauptsache, es reichte für die Verurteilung zu mindestens einmal "lebenslänglich".

Stefan Wisniewski, der 1953 geborene Sohn eines polnischen Zwangsarbeiters und einer Deutschen, wurde 1981 vom Gericht als einer der Schützen beim Überfall auf Schleyers Eskorte identifiziert. Als er von der Polizei gefasst wurde, soll er den verbliebenen RAF-Kadern um Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt so bedeutsam gewesen sein, dass sie seine Befreiung mit einem Hubschrauber planten. Aber er saß die lebenslänglich gegen ihn verhängte Haftstrafe ab und wurde 1999, nach 21 Jahren Gefängnis, auf Bewährung aus der Haft entlassen. Wie auch immer: Bereits 1981 lag Wisniewski schon nicht mehr auf RAF-Linie, hatte - wie man bei Justiz und in der Szene wusste - ein kritisches Verhältnis zum bewaffneten Aktionismus und seiner eigenen Geschichte. Dennoch weigerte er sich - im Gegensatz zu Boock und einigen anderen -, seine früheren Motive gänzlich zu verleugnen oder gar belastende Angaben gegenüber Dritten zu machen.

Ihm und anderen nicht dogmatischen - aber eben auch nicht opportunistischen - früheren RAF-Kämpfern wie Folkerts, Ella Rollnik oder Karl-Heinz Dellwo scheint es bei der Einordnung ihrer Geschichte weniger ums "Recht haben" zu gehen als um eine politische Diskussion, die die damaligen zeitgeschichtlichen Umstände berücksichtigt, die sie als ursächlich für ihre Irrtümer sehen.

In diesem Zusammenhang ist ein Interview von Interesse, das Helmut Schmidt Ende August der Zeit gab. Schmidt, während der Schleyer-Entführung Bundeskanzler und oberster Sozi, plauderte dort als jetziger Zeit-Mitherausgeber mit dem Chefredakteur über jene dramatischen Tage im Oktober 1977. Auf die Frage von Giovanni di Lorenzo, wie man in so schwerer Stunde, Schleyer- und die "Landshut"-Maschine waren entführt, im Kleinen Krisenstab unbeirrt an der harten Linie festhalten konnte, gibt Alt-Kanzler Schmidt zu Protokoll: "Wir waren ja erwachsene Männer und keine Jugendlichen. Wir hatten alle die Kriegsscheiße hinter uns. Strauß hatte den Krieg hinter sich, Zimmermann hatte den Krieg hinter sich, Wischnewski hatte den Krieg hinter sich. Wir hatten alle genug Scheiße hinter uns und waren abgehärtet. Und wir hatten ein erhebliches Maß an Gelassenheit bei gleichzeitig äußerster Anstrengung des eigenen Verstandes. Der Krieg war eine große Scheiße, aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt." Den Kleinen Krisenstab hat also laut Schmidt eine über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erworbene Erfahrung nicht unwesentlich geeint. An anderer Stelle sagt Schmidt: "Ich habe mich weiß Gott wegen der Kiesinger-Regierung zu verteidigen. Es waren lauter ehemalige Nazis drin: Kiesinger war Nazi, Lübke zumindest Mitläufer, Schiller war auch Mitläufer. Unter Adenauer strotzte das ganz Bundeskanzleramt vor Nazis - so war das. Aber zu behaupten, der Rechtsstaat sei in Gefahr gewesen, ist dummes Zeug."

Retrospektiv betrachtet, dürfte ihm auch ein Großteil der früheren Kontrahenten aus der Linken da nicht widersprechen. Nur war die Entwicklung in den 1960/70er-Jahren vielleicht weit weniger absehbar, als dies Schmidt heute behauptet. Auch ein Stefan Wisniewski hatte 1997, zu einer Zeit, als er noch im Gefängnis saß, in einem taz-Interview längst festgestellt: "Es gab in der Zeit die Theorie vom neuen Faschismus, der aus den Institutionen kommt und keine Massenbasis braucht. Beides hat so nicht gestimmt. Diese schräge Theorie wurde nicht nur von der RAF vor- und nachgebetet, sie führte auch dazu, dass wir uns auf einen militaristischen Schlagabtausch mit dem Staat beschränkten." Unter den Bedingungen von Postfaschismus und Kaltem Krieg hatte sich die Linke in den meisten westlichen Ländern unter ähnlichen - falschen - Prämissen wie im Deutschland in den 1960er/70er-Jahren radikalisiert.

Wie lapidar bis anhin insbesondere in Deutschland mit der NS-Geschichte umgegangen wurde, darauf deutet auch eine weitere Passage aus dem Zeit-Interview mit Helmut Schmidt. Auf die Frage, ob er Schleyer gut kannte, antwortete Schmidt, Schleyer sei "sicherlich zwei-, dreimal bei uns zum Abendessen gewesen". Er sei nicht mit ihm befreundet gewesen, aber sie hätten gut miteinander gekonnt. Und dann wird es richtig interessant: "Er war ein sachlicher Mann, und er war kein reaktionärer Arbeitgeber. Von seiner Geschichte bis 1945 habe ich damals nichts gewusst." Nachfrage Zeit: "Von seiner Zeit als SS-Offizier haben Sie erst im Zuge der Entführung erfahren?" Antwort Schmidt: "Das kam viel später."

"Viel später". Darf man dies Schmidt glauben, der selbst einen Großteil seiner Jugend im Nationalsozialismus zubrachte und bei der Wehrmacht gekämpft hatte? Wohl kaum. Eher könnte man annehmen: Es war ihm damals einfach egal. Historisch beide Augen zuzudrücken, gehörte in der alten Bundesrepublik zum Programm, zumindest für viele, die oben waren oder nach oben wollten. Davon sprechen auch die ein oder anderen mittlerweile erschienenen Biografien, die sich wissenschaftlich mit den Eliten im NS-Nachfolgestaat beschäftigen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie wenig Beachtung in den derzeitigen Diskussionen Werke wie das von Lutz Hachmeister ("Schleyer. Eine deutsche Geschichte") finden. Dabei wären sie ein möglicher Schlüssel zu Verständnis und Selbstverständnis einer Gesellschaft und ihres Establishments, gegen das die Jugend in den 1960er-Jahren aufbegehrte und die RAF in den 1970ern Amok lief. Wendehälsen wie dem früheren Nazi Schleyer fehlte zeit ihres Lebens jegliches Unrechtsbewusstsein für das, was sie aktiv zum Untergang der Weimarer Republik oder dem Aufbau des Dritten Reiches beigetragen hatten. "Entjudung", Massenmord und Okkupation waren ihnen so selbstverständlich wie das Einfordern von Managerposten im neuen demokratischen Deutschland.

In seiner Bewerbung für den Geschäftsführerposten der IHK Baden-Baden 1949 strich der frühere SS-Offizier und leitende Wirtschaftskader des besetzten Protektorats "Böhmen und Mähren" ausgerechnet seine "Kenntnis der Organisation der gewerblichen Wirtschaft und Erfahrungen im Außenhandel" sowie "den festen Willen zum restlosen Einsatz meiner Person für eine gestellte Aufgabe" heraus. Bei anderer Gelegenheit beschwerte sich Schleyer dreist, "im Osten Hab und Gut verloren" zu haben. Die Schleyers residierten im besetzten Prag zuletzt in einer arisierten Villa. Das Übel, auf das die Jugend in den 1960er-Jahren im Westen stieß, war keineswegs eingebildet, auch wenn die theoretischen und praktischen Schlüsse, die die radikalisierte Linke daraus zog, später teilweise verhängnisvoll waren.

Es scheint aber heute so, dass viele der von den Attentaten ab den 70ern unmittelbar Betroffenen sich der zeitgeschichtlichen Verstrickung stärker bewusst sind als so einige der früheren linken Claqueure. Zumindest erwecken einige der Angehörigen, die Vater oder Mann verloren haben, dieser Tage einen durchaus differenzierten Eindruck. Blättert man aber in Beiträgen, die den Anspruch haben, über den Polizeijournalismus von Spiegel und Co. hinauszureichen, ist davon häufig wenig zu spüren.

Zu oft stößt man auf dieses leidenschaftslose Halbwissen, wie es auch für die routinierten Bände von Wolfgang Kraushaar ("Die RAF und der linke Terrorismus") typisch ist. Zur Erklärung, warum einige in den Untergrund gingen und andere nicht, bemüht man in diesem von Kraushaar herausgegebenen "Standardwerk" Banalitäten aus der Familienforschung. Tobias Wunschik referiert dort beispielsweise, "dass in einem Alter von 14 Jahren jeder vierte deutsche Linksterrorist nicht mehr in einem vollständigen Elternhaus lebte". Dies gelte insbesondere für die zweite Generation der RAF. "Peter-Jürgen Boock beispielsweise war vormals lange Zeit in Jugendheimen untergebracht, die alleinstehende Mutter der Brüder Wolfgang und Henning Beer litt an Alkoholsucht, und auch bei Inge Viett, Silke Maier Witt, Brigitte Mohnhaupt, Volker Speitel und Stefan Wisniewski fehlten Elternteile." Sicherlich, Stefan Wisniewskis Vater, der Zwangsarbeiter aus Polen, verstarb früh. Das mag faktisch genauso stimmen, wie dass SS-Offizier Schleyer aus einer nach gängigen Vorstellungen völlig intakten Familie stammte. Nur, was besagt es?

Bestimmt nicht, dass der eine den anderen hätte erschießen dürfen oder unter einer Tat erklärenden Psychose litt. Merkwürdigerweise wissen dies auf allen Seiten alle Beteiligten. Doch solange die juristische die politische Diskussion überblendet, kann dies anscheinend nicht richtig wahrgenommen und ausgedrückt werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.