Jugendliche ohne Ausbildungsplatz: Die neue Unterklasse

Die Wirtschaft jubiliert über den Ausbildungsplatz-Rekord. Von Jugendlichen ohne, sprechen Unternehmer nicht gern. Dabei ist ihre Zahl fast genauso hoch.

"Nach 500 Bewerbungen gehen einem die Betriebe aus" - ob Protest hilft?

Gute Nachrichten für Schulabgänger. Es geht ihnen jetzt schon fast so gut wie Nobelpreisträgern. Das war gestern die Botschaft der Wirtschaft. Im Haus des Handwerks in Berlin hatte man sich versammelt, um die neueste Ausbildungsbilanz zu veröffentlichen. Handwerkspräsident Otto Kentzler bejubelte das beste Ausbildungsjahr seit langem. Ein Rekordhoch! Gute 9 Prozent mehr Ausbildungsplätze gibt es in Industrie und Handwerk. Insgesamt sind es 514.000 Jugendliche, die bis jetzt einen Lehrvertrag haben

Und doch sind es immer noch zu wenig Ausbildungsplätze. Viel zu wenig. Wenn man es ganz genau nimmt, fehlen noch rund 450.000. So viele Jugendliche nämlich befinden sich laut amtlicher Statistik in allerlei berufsvorbereitenden Maßnahmen. Auf gut Deutsch sind das Warteschleifen. Die Jugendlichen bekommen dort alles Mögliche - bloß keinen Beruf.

Der Lehrstellenmarkt war immer schon ein kompliziertes Ding. Seit gestern ist er endgültig ein Paradoxon. Die Konjunktur brummt, die Betriebe stellen ein wie die Teufel, bis zum Ende des Jahres könnten 600.000 Jugendliche eine Lehrstelle finden. Einerseits. Andererseits ist die Zahl derer, die man letztlich geparkt hat, noch nie so groß gewesen. Rund eine halbe Million Menschen stecken im sogenannten Übergangssystem fest. Menschen wie Aydan Yatkin (17) und Sven Striebel (25). (s. "Mehr zum Thema")

"Es ist ein Paralleluniversum", sagte Heike Solga, "das mit dem Ausbildungsmarkt keinerlei Verbindung hat." Die Berufsforscherin hat die Situation der Menschen untersucht, die "Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft" (Verlag Barbara Budrich, 2005) aufbrechen. Sie befinden sich in Berufsgrundschuljahren, Berufsvorbereitung, sie machen ein freiwilliges Schuljahr oder Praktika, unbezahlt.

Es sind zunehmend Männer, sie kommen aus bildungsarmen Verhältnissen, nicht selten die Söhne von Zugewanderten - und sie tragen ein hohes Risiko: das der dauerhaften Arbeitslosigkeit. Ein Viertel der 25-Jährigen aus solchen "Maßnahmekarrieren" hat nie oder nur sporadisch gearbeitet. "Wo sollen die denn hingehen?", fragt Heike Solga. Es ist die neue Unterklasse. Jeder in der Szene der Berufsberater und Arbeitsmarktpolitiker weiß, dass es sie gibt. Sie kommt aus kleinen Verhältnissen, landet in Hauptschulen, später in den Warteschleifen, bleibt ohne Arbeit und vererbt ihre (Bildungs-)Armut weiter.

Alle wissen es, keiner hat eine Antwort. Es ist auch nicht einfach. Ohne Praktika und Ersatzmaßnahmen würden die Jugendlichen direkt auf der Straße landen.

Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) sagt vorsichtig, dass Warteschleifen für Jugendliche "nur die zweitbeste Lösung sind".

Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, warnt, dass man "bildungsarmen Langzeitarbeitslosen" helfen muss - auch weil die Integrationschancen ihrer Kinder "gegen null tendieren".

Eine Bundestagsabgeordnete meint ratlos: Wir wissen ja auch nicht, ob die sich nur einen Kasten Bier mehr kaufen, wenn wir ihnen mehr Stütze geben.

Aber das sind die Nachrichten aus den Katakomben. Das war bei den Azubi-Jublern im Berliner Haus des Handwerks gestern kein Thema. Da haben sich die drei Bundesminister für Arbeit, Bildung und Wirtschaft versammelt und alle möglichen Verbandspräsidenten. Der Aufschwung hat den Ausbildungsmarkt erreicht, sagen sie. Erstmals seit 2001 könnte die Lehrstellenlücke geschlossen werden, behaupten sie. Die rechnerische Lücke zwischen Neubewerbern und offenen Ausbildungsplätzen ist nur noch 10.000 Stellen dünn - und dann sind alle versorgt.

Die hauptamtlichen staatlichen Berufsforscher sind hin und her gerissen. "Es ist toll, wir haben eine fast normale Bilanz für die aktuellen Schulabgänger!", freut sich Joachim Ulrich vom Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn. Sein Kollege Hans Dietrich aus Nürnberg, Forscher am Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, meint: "Die Konjunktur reicht lange nicht, auch leistungsschwachen Jugendlichen Jobs zu geben. Das ist objektiv zu wenig."

Man muss sich nur ein paar andere Zahlen ansehen, dann weiß man, wohin die Reise geht. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die nach Lehrstellen suchen, sind derzeit Altbewerber, 380.000 sind es. Und die Jugendlichen, die heute eine Ausbildung beginnen, sind im Schnitt 19,3 Jahre alt. 1970 begannen Teenies mit knapp 16 eine Lehre.

Wenige Kilometer von den Azubi-Jublern entfernt traf sich gestern das Paralleluniversum, um zu schauen, was man besser machen könnte. Die Lage der Jugendlichen, sagte dort der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann, sei heute ähnlich schlecht wie in der Nachkriegszeit. "Diese Generation hätte einen ganz harten Anlass aufzubegehren. Die ältere Generation gestattet es ihnen nicht nachzurücken."

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