Hochschulpolitik: Sozialisationsagentur Uni

Die Exzellenzinitiative zur Förderung der Forschung ist eine Chance für alle nicht geförderten Universitäten. Hier kann man endlich wieder an der Zukunft der Hochschulen arbeiten: der Lehre.

Von der "Exzellenzinitiative" vergessen: Studierende brauchen heute Wissen, das sie zum Umgang mit der komplexen Gesellschaft befähigt. Bild: Falk Heller/argum

Achill nannte man einen Helden, damit andere nicht glaubten, sie müssten den Speer genauso weit werfen, so ein Bonmot von Niklas Luhmann. Ähnlich könnte man die Entscheidung der "Exzellenzinitiative" sehen, zunächst drei und bald noch einigen weiteren deutschen Universitäten für ihr "Zukunftskonzept zum Ausbau der universitären Forschung" Fördermittel in Millionenhöhe zu geben. Sie entlastet alle anderen Universitäten. Landauf, landab kann man sich jetzt darauf konzentrieren, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen, die dringlicher ist als die Förderung der Spitzenforschung, nämlich die Aufgabe des Ausbaus einer den Ansprüchen der Zeit angemessenen Hochschullehre.

Tatsächlich fällt ja auf, dass das Konzept der Exzellenzinitiative eigentümlich steril ist. Die Wissenschaft, die hier gefördert wird, wird weder auf ihre Verankerung in der Organisation der Universität noch auf ihre Verknüpfung mit der Hochschullehre hin befragt. Man hat es mit einer Dame ohne Unterleib zu tun.

Exzellente Forschung, so die Annahme, ergibt sich schlicht und ergreifend daraus, dass man Wissenschaftlern die Mittel gibt, an die internationalen Forschungsstandards anzuschließen. Das ist zwar nicht ganz falsch. Aber Hochschulpolitik ist das nicht.

Die Hochschulpolitik, mit der sich alle anderen Universitäten derweil herumschlagen müssen, ist längst andernorts gemacht und trägt den klingenden Namen Bologna-Prozess. Dieser Prozess, initiiert mit der Sorbonne-Deklaration vom 25. Mai 1998, verfolgt das Ziel der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums bis zum Jahre 2010. Das Ziel soll erreicht werden, indem europaweit ein zweistufiges System von Studienabschlüssen geschaffen wird und alle Kurse, die im Rahmen der entsprechenden Studiengänge belegt werden, nach einem einheitlichen Leistungspunktesystem bewertet werden. Die zielführende Idee hierbei ist weder die Abschaffung aller regionalen Besonderheiten der Studienorganisation noch die Einheitlichkeit der Studienabschlüsse als solcher, sondern die Schaffung von Vergleichbarkeit, um den Studierenden den Wechsel zwischen den Universitäten der europäischen Union zu erleichtern. Auf den ersten Blick kann man es sich nicht vorstellen, aber auf den zweiten Blick ist es durchaus möglich, dass der Bologna-Prozess im Unterschied zur Exzellenzinitiative die besten Voraussetzungen dafür bietet, den dringend erforderlichen Wandel einzuleiten.

Auf den ersten Blick passiert in der Tat nichts anderes, als dass mit heißer Nadel einige tausend Bachelor- und Masterstudiengänge gestrickt werden, die sich händeringend an möglichst konkreten Berufsaussichten orientieren, damit die Verkürzung auf drei oder vier (Bachelor) bis fünf (Bachelor plus Master) Jahre Studienzeit gerechtfertigt werden kann. Für diesen Zweck werden die alten Fächer auseinandergenommen, um sie dem Bedarf anzupassen, den man in der viel beschworenen "Praxis" glaubt identifizieren zu können.

Auf den zweiten Blick jedoch spielt sich dasselbe ab, aber mit einer ganz anderen Moral, wenn man so sagen darf. Auf den zweiten Blick sind die Universitäten nicht nur die hochschulpolitisch Getriebenen, die sich schneller von ihren bisherigen Studiengängen verabschieden, als ihnen auch nur klar werden kann, was sie da über Bord kippen; und sie sind auch nicht nur die gewieften Taktiker, die mit mehr oder minder weitgehenden kosmetischen Operationen aus dem alten Grundstudium ein Bachelorstudium und aus dem alten Hauptstudium ein Masterstudium machen. Auf den zweiten Blick geschieht etwas tiefer Greifendes, das man vielleicht am besten als Umstellung der Idee der Universität von der alten Buchdruckgesellschaft auf die heraufziehende Computergesellschaft beschreibt.

Gut, zugegeben, das sind große Worte für eine vielleicht kleine Sache. Aber versuchen wir einmal herauszufinden, was wir zu sehen bekommen, wenn wir dieser Vermutung für einen Moment Glauben schenken. Im Kern der "Institution" Universität steht von Anfang an und bis heute die Idee einer Wissenschaft, die von der Notwendigkeit und Attraktivität der Lehre lebendig gehalten wird. Der Gang der Wissenschaft, so Wilhelm von Humboldts Argument für die Universität, also die Lehre, und gegen die Akademie, also die Versammlung der Gelehrten, sei unter kräftigen, rüstigen und jugendlichen Köpfen rascher und lebendiger. Deswegen ist die Universität bis heute und damit gegen das Interesse von Hochschullehrern, die sich ihre Reputationsgewinne aus ihren Forschungsbeiträgen versprechen, von der Lehre her zu denken. Die Universität ist primär nicht eine Stätte der wissenschaftlichen Forschung, sondern eine Sozialisationsagentur für die Heranführung des Nachwuchses an die komplexeren Fragen von Welt, Leben und Gesellschaft. Wissenschaftliche Forschung ist innerhalb der Universität, worin auch immer ihre eigenen Ziele bestehen, auf ihren Beitrag zu dieser Art von Lehre zu befragen.

Was könnte die heimliche Moral des Bologna-Prozesses sein? Wenn man die tausenden von neuen Studiengängen an den großen staatlichen Universitäten, die Zusammenlegung und Neuordnung von Fachhochschulen und die vielfachen Bemühungen um die Gründung und Unterhaltung von privaten Universitäten zusammen nimmt, kann man vielleicht sagen, dass die Ordnungsfigur sowohl für die Organisation als auch für die Lehre an diesen Hochschulen nicht mehr die Massenuniversität mit ihrer grandiosen Idee der mit einem Bildungsticket geförderten sozialen Mobilität für alle ist, sondern die "kleine Universität" (Christian Strub), die eine überschaubare Anzahl von Studierenden und Dozenten zur Verfolgung eines mehr oder minder klar bemessenen Studienziels an einen Ort bringt, der auf den Ebenen der Studierenden, der Dozenten und des Studienziels vielfach mit anderen Orten ähnlicher Art, und zwar nicht nur mit anderen Universitäten, sondern mit auch mit Betrieben, Vereinen, Behörden und anderen Einrichtungen der Praxis vernetzt ist.

Die zentrale Idee dieser kleinen, nämlich verdichteten, auf einen beschränkten Anspruch bezogenen, jedoch dennoch und nach wie vor am gesamten Wissen orientierten Universität besteht nach meinem Eindruck darin, jeden einzelnen Studiengang als eine "Form" im genannten Sinne zu konzipieren. Es geht darum, Studierende und Dozenten zu jener minimalen Trittsicherheit zu befähigen, die man im Umgang mit einer komplexen Gesellschaft braucht, in der jedes nur denkbare Wissen, das Sachwissen ebenso wie das Prozesswissen, das Wissen der Theoretiker ebenso wie das Wissen der Praktiker und das Wissen der Natur- und Lebenswissenschaften ebenso wie das Wissen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, in denkbar enger Nachbarschaft zu seinem eigenen Nichtwissen steht. Die Kompetenzen, zu denen die Universitäten jetzt zu befähigen beginnen, ebenso wie die Talente, nach denen Industrie, politische Organisationen, Militär, Kirchen und Kultur suchen, sind Kompetenzen und Talente, die ihre Expertise daraus beziehen, dass sie es methodisch, theoretisch und praktisch gelernt haben, mit Nichtwissen umzugehen. Wer das nicht kann, kann gar nichts. Aber wer das kann, kann darauf aufbauend jedes nur denkbare Wissen erwerben, ohne dieses je mit Gewissheit zu verwechseln und so seine Kompetenz und sein Talent wieder aufs Spiel zu setzen.

Dafür braucht man den Dreischritt von Methode, Theorie und Praxis, nämlich (a) die Fähigkeit, zwischen Situationen, in denen man sich festgefahren hat, von Situationen zu unterscheiden, in denen man noch weiterkommt ("Methode"), (b) die Fähigkeit, ein Problem nicht nur zu erkennen und gegebenenfalls zu lösen, sondern überhaupt erst einmal als ein solches zu formulieren, darzustellen und einer möglichen Lösung zuzuführen ("Theorie"), und (c) die Fähigkeit, mit der Erfahrung umzugehen, dass Situationen von den Teilnehmern unterschiedlich definiert werden und noch lange nicht jede gelungene Problemdefinition auch begrüßt wird ("Praxis").

Das Steckenbleiben kann den Verhältnissen, den Dingen, wie sie sind, und den Herren, wie sie herrschen, willkommener sein als das Weiterkommen; und die Problemstellung (bestenfalls auch nur eine Problemverschiebung) tritt jenen auf die Füße, die ihr Auskommen mit der bisherigen Problemvermeidung oder Problemlösung hatten. Deswegen macht es immer wieder Sinn, daran zu erinnern, dass praxis für die alten Griechen jede Tätigkeit war, die sich selbst genügt. Wollte man darüber hinaus etwas bewirken oder herstellen, sprach man von poiesis.

Das ist die Herausforderung, der sich die nächste, die kleine, die dichte, die vernetzte Universität stellt: Sie bemisst die methodischen und die theoretischen Kompetenzen, die sie nur vermittelt, indem sie sie laufend erprobt, an einer Praxis, von der man weiß, dass sie sich selbst genügt, indem sie ihre eigenen Motive, Werte und Ziele hat und selbst dann auf Kontinuität hinauswill, wenn sie die Diskontinuität, den dauernden Wandel predigt.

Aus der Sicht des Soziologen holt die kleine Universität mit genau dieser Praxisorientierung, über die man einst, als man sich noch an den Regalwänden der Bibliotheken orientierte, so gelächelt hat, die ganze Gesellschaft in ihre Seminare. Aber sie tut dies nicht en bloc, so wie man einst, geschult am "destruktiven Charakter", wie ihn Walter Benjamin in seinen "Denkbildern" beschrieben hat, glaubte, sich die Gesellschaft insgesamt zu eigen zu machen und zugleich vom Halse halten zu können, indem man sie "kritisiert".

Und sie tut dies nicht eifrig und dienstfertig, so wie man bis heute allzu oft glaubt, man müsse nicht nur, sondern man könne auch die Problemstellungen in Politik und Wirtschaft schlicht und ergreifend in die Universität importieren, um sie dort ihrer Bearbeitung und Lösung zuzuführen, so als wisse man nicht, dass jedes Problem ohne seinen Kontext gar kein Problem ist, vor allem jedoch bar jeder Information darüber ist, wie es sinnvoll zu stellen, geschweige denn zu lösen ist. Nein, Praxisorientierung heißt in der nächsten Universität Komplexitätsorientierung. Und ohne dass man sich hierfür bei der einschlägigen Komplexitätsforschung rückversichern müsste, bedeutet die Orientierung an Komplexität nicht die vergebliche Verdopplung der Bemühungen, um den jede Beschreibung und Erklärung überfordernden Gegenstand doch noch zu beschreiben und zu erklären (also im Bücherregal zu verorten). Sondern sie bedeutet, vom Versuch des Verstehens auf den Versuch der Kontrolle umzustellen, so wie W. Ross Ashby angesichts des Missverhältnisses von komplexer Welt und individuell wie kollektiv beschränkten Fähigkeiten des Menschen den Schritt von der Hermeneutik zur Kybernetik geschildert hat. "Kontrolle" heißt hierbei nicht, den Versuch zu machen, immerhin noch zu herrschen, wenn man schon nicht mehr versteht, so verbreitet und nicht einmal immer erfolglos diese Trivialisierungsstrategie auch sein mag. Sondern "Kontrolle" heißt im Sinne des angelsächsischen control, im Umgang mit den Überraschungen eines komplexen Phänomens die eigenen Erwartungen zu korrigieren, die eigenen Erinnerungen aufzufrischen und so eher zu lernen als zu beharren.

Jeder Studiengang wird zu einem Formexperiment und steht als genau dies in der dauernden Diskussion zwischen Studierenden, Dozenten und Praktikern. Man erprobt Anschlüsse möglichen Handelns und streitet über die Aus- und Eingrenzung des Wissenswerten. Man macht Erfahrungen, bewertet sie und fädelt sie ein in die Struktur des Curriculums. Man beobachtet Erfolge und Misserfolge anderer Curricula und lernt, wie in der Industrie, von best practices, ohne den Fehler zu machen, eine prinzipielle Unvergleichbarkeit von Vorbild und eigenem Beispiel aus den Augen zu verlieren.

Vor allem jedoch tut man etwas, was in der Moderne eher als Sündenfall galt und worin interessanterweise Frauen viel eher als Männer brillieren: Man schließt vom Besonderen auf das Besondere. Und man tut dies nicht direkt, in der Form des Analogieschlusses, denn das war der eigentliche Sündenfall, sondern man tut es indirekt, vermittelt über eine Theoriefigur, die selber nichts anderes ist als ein Besonderes.

DIRK BAECKER, Jahrgang 1955, ist Soziologe und wechselte gerade von der kleinen Universität Witten/Herdecke an die noch kleinere Zeppelin University in Friedrichshafen. Eine längere Version dieses Artikels ist in Lettre International 77, 2007, erschienen.

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