Genetische Vielfalt: Kamele in Gefahr

Bei einer Konferenz in Interlaken kämpfen Hirtenvölker um die Besitzrechte an tiergenetischen Ressourcen. Sie befürchten eine Enteignung durch die zunehmende Patentierung.

Fest verwurzelt mit der Kultur der rajasthanischen Hirtennomaden: das Kamel Bild: dpa

Die Bürger Interlakens sind internationales Publikum gewöhnt, denn die Stadt in den Schweizer Bergen ist eine Ferienhochburg. Westlich gekleidete Chinesen, Inder und Japaner, Russen und Amerikaner gehören hier zum Straßenbild. Doch der schmächtige, dunkelhäutige Mann mit dem großen Bart und dem rot leuchtenden Turban fällt auf. Erst recht, wenn er auf seiner skurrilen Geige spielt und dabei auch noch singt und tanzt. Thola Ram Bhopa ist Musiker und Geschichtenerzähler. Vor seinem Wandteppich, der Kamele und Maharadschas darstellt, erzählt er singend die Geschichte des Pabuji, der vor über 600 Jahren Kamele nach Rajasthan, im Nordosten Indiens, brachte. Seitdem züchten die Raika, so heißen die rajasthanischen Hirtennomaden, Kamele. Die gesamte Kultur der Hirten ist vom Umgang mit den Tieren geprägt.

Doch die Kamele in Rajasthan sterben aus, ihr Bestand ist in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Immer mehr Weidegründe werden eingezäunt und so für sie unpassierbar. Bauern nutzen heute lieber industriellen Kunstdünger statt des traditionellen Kameldungs. Dadurch haben sie kurzfristig höhere Erträge, langfristig aber veröden ihre Böden. Die Einrichtung von Naturschutzgebieten erschwert den Raika ebenfalls das Leben.

In den neuen Reservaten dürfen ihre Tiere nicht mehr grasen, da man glaubt, die Kamele würden die Bäume zerstören. Dabei ist die traditionelle Art der Beweidung durch die Raika seit hunderten von Jahren umweltverträglich, da sie die kargen Ressourcen schonend behandelt.

Eine Delegation von vier Raika hat nun die lange Reise aus der Wüste Thar nach Interlaken angetreten, weil sie auf ihre Rolle als Bewahrer der biologischen Vielfalt und auf ihre Rechte als Züchter wichtiger Haustierrassen aufmerksam machen wollen. Denn Interlaken ist diese Woche Gastgeber der ersten "Internationalen Technischen Konferenz zu tiergenetischen Ressourcen" der Welternährungsbehörde der Vereinten Nationen" (FAO).

Hier entwickelt die FAO Strategien zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der tiergenetischen Ressourcen unserer Erde. Die Arbeitsentwürfe dienen als Grundlage und Vorbereitung für die zweite internationale Konferenz im Mai 2008 in Bonn, auf der die teilnehmenden Länder gesetzliche Grundlagen für die Verwaltung tiergenetischer Ressourcen beschließen werden.

Alexander Müller, stellvertretender Generaldirektor der FAO, hat diese Woche die erste umfassende Studie über die weltweite Situation der tiergenetischen Ressourcen vorgelegt. Hauptgründe für das Verschwinden tiergenetischer Ressourcen sind laut Müller die Industrialisierung und Globalisierung. In Interlaken will er gemeinsam mit den 190 teilnehmenden Ländern in einem "Global Plan of Action" sicherstellen, dass die tiergenetischen Ressourcen auch auf Dauer erhalten bleiben.

Seit der Jahrtausendwende wird jeden Monat eine Nutztierrasse ausgelöscht, ihre genetischen Ressourcen sind für immer verloren. Von derzeit noch 7.656 Nutztierrassen weltweit sind 20 Prozent akut bedroht. Seitdem es industrialisierte Massentierhaltung gibt, zählt als Zuchtkriterium vor allem die Produktivität der Tiere. Das thailändische Landhuhn eines Kleinbauern beispielsweise legt 70 Eier pro Jahr. Eine Hochleistungshenne in der Legebatterie bringt es auf 300. Die Massentierhaltung züchtet nur einige wenige auf extreme Hochleistung getrimmte Rassen weiter. Andere, "unproduktivere" Rassen und damit ihr genetisches Erbe, sterben aus.

Susanne Gura hat dieses Jahr im Auftrag von Greenpeace eine Studie über die Techniken der industriellen Zuchtbetriebe ausgearbeitet. Im Bereich Geflügelzucht ist die industrielle Tierproduktion weltweit fest in der Hand von nur vier Megakonzernen. Deren überzüchtete Hochleistungstiere haben nur eine kurze "Produktionsdauer", in der sie Spitzenerträge bringen.

Für den Anbau der Futtermittel wird Regenwald abgeholzt. Zudem investieren die Konzerne Unsummen in die Krankheitskontrolle und Weiterentwicklung ihres genetischen Potenzials. Besonders für solche Firmen ist es hochinteressant, ihre Tiere mit den robusten und widerstandsfähigen Tieren von Hirten und Kleinbauern zu kreuzen. Die Hirtenvölker fürchten nun den Ausverkauf ihrer genetischen Vielfalt und ihres über Jahrtausende erworbenen Know-hows in der Zucht von Haustieren.

Seit der Domestizierung von wilden Tieren wählen Bauern für ihre Züchtung nur die Tiere aus, die am besten an die jeweiligen Umweltbedingungen vor Ort angepasst sind und die resistent sind gegen Krankheiten. So entstand im Laufe der Jahrtausende weltweit eine große genetische Vielfalt innerhalb der Nutztierrassen. Die Hüter dieses genetischen Schatzes sind vor allem Hirtenvölker und Kleinbauern.

Die deutsche Veterinärmedizinerin Ilse Köhler-Rollefsen gründete 1992 die "Liga für Hirtenvölker", in der sie die Interessen der Kleinbauern und Hirten vertritt. In mehreren Studien hat sie die tiergenetischen Ressourcen der nordindischen Raika und anderer Hirtenvölker untersucht. Diese Tiere zeichnen sich durch Ausdauer, Genügsamkeit bei Wasser- und Futterverbrauch und Resistenz gegen tropische Infektionserkrankungen aus.

Hochgezüchtete Tiere, die nur in Ställen leben, sind im Vergleich dazu sehr empfindlich gegen Epidemien und Krankheiten. Daher sehen die Massentierzüchter ein großes Potenzial in den genetischen Ressourcen der widerstandsfähigen Nutztiere aus Entwicklungsländern.

Es besteht die Gefahr, dass sie das Genmaterial der robusten Tiere der Kleinbauern und Hirten ausbeuten und für ihre Interessen patentieren lassen. Dann wären alle Nachzüchtungen per Patent das geistige Eigentum dieser Konzerne. Diese wären dann rechtlich in der Lage, für alle Nachzüchtungen mit den von ihnen patentierten Genen Geld zu verlangen. Damit würde die biologische Vielfalt noch weiter eingeschränkt. Denn Kleinproduzenten von Tieren wie die Raika können sich dann die Weiterzucht der eigenen Tiere nicht mehr leisten.

Alexander Müller von der FAO hingegen betont, dass die kostbaren genetischen Ressourcen der Entwicklungsländer nur nachhaltig genützt und nicht ausgebeutet werden sollten. Die Hirtenvölker kämpfen nun in Interlaken gemeinsam mit ihren NGOs für ihre Anerkennung als Bewahrer der biologischen Vielfalt. Sie arbeiten an sogenannten Tierhalterrechten, die sie nach Fertigstellung in ihren jeweiligen Herkunftsländern gesetzlich verankern wollen.

Und natürlich kann auch der Endverbraucher die Entscheidung über die Biodiversität steuern. Wer für einen Liter Milch weniger als achtzig Cent bezahlen will, der fördert die Zucht von hochproduktiven Einheitsrassen, die mehrmals am Tag gefüttert und gemolken werden, und trägt damit indirekt zur Reduzierung der Biodiversität bei.

VON SUSAN WEBER UND ANDREAS BOHN

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