Eine irre gute Idee: Tel Aviv

1907 – Sechzig in Jaffa lebende jüdische Familien osteuropäischer Herkunft gründen eine Vereinigung zum Bau einer Gartenstadt in den Sanddünen nördlich Jaffas. Die Siedlung erhält den Namen Tel Aviv (Frühlingshügel). Die ersten fünfzig Häuser werden 1909 gebaut. 1914 hat Tel Aviv rund 3.000 Einwohner. Im Frühling 1917 zwingen die türkischen Machthaber Palästinas alle Einwohner zum Verlassen ihrer Stadt. Erst nach der Einnahme Süd-Palästinas durch die Briten im Herbst dürfen sie zurückkehren. Nach blutigen Ausschreitungen 1921 gegen die in Jaffa lebenden Juden werden diese teilweise nach Tel Aviv evakuiert. Die Stadt wächst auf über 12.000 Einwohner.

1920er – Mit der vierten Alijah (Einwanderungswelle) siedeln sich viele Juden in Tel Aviv an. Sir Patrick Geddes entwickelt 1925 den ersten Bebauungsplan. 1929 gibt es blutige Ausschreitungen zwischen Juden und Arabern an der Grenze zwischen Tel Aviv und Jaffa. 1932 wird der Verband deutschsprachiger Einwanderer gegründet. Tel Aviv hat rund 100.000 Einwohner. Mit der fünften Alijah haben bis 1939 rund 60.000 deutsch-jüdische Flüchtlinge Palästina erreicht. Der International Style verändert Tel Aviv zur „weißen Stadt“.

1937 – Tel Aviv hat rund 140.000 jüdische Einwohner, Jaffa etwa 55.000 arabische. Im Zweiten Weltkrieg wird Tel Aviv durch die Achsenmächte bombardiert. Mehr als 100.000 Holocaust-Überlebende wandern von 1946 an nach Palästina ein. Am 14. Mai 1948 verkündet David Ben Gurion im Museum am Tel Aviver Rothschild-Boulevard die Gründung des Staates Israel. Kurz darauf beginnt der erste israelisch-arabische Krieg. Das arabische Jaffa wird von der israelischen Armee erobert. 1949 kommt es zum Waffenstillstand. Wegen des international umstrittenen Status von Jerusalem siedeln sich fast alle ausländischen Botschaften und Konsulate bis heute in Tel Aviv an. Tel Aviv wird 1950 mit Jaffa zu einer Stadtgemeinde vereint. Beginn der jüdischen Einwanderung aus den arabischen Staaten.

1958. Tel Aviv-Jaffa hat rund 360.000 Einwohner, darunter etwa 6.500 Araber in Jaffa. 1965 wird der Handelshafen von Jaffa geschlossen. 1967 ist der Sechstagekrieg. Die ägyptische Propaganda behauptet, Tel Aviv würde von der Luftwaffe bombardiert und brenne. Tatsächlich bleibt die Stadt unbeschädigt. Israel erobert das Westjordanland, den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel. 200.000 Araber flüchten aus dem Westjordanland. 1973 ist der Jom-Kippur-Krieg. 1977 verliert die Arbeitspartei die Kontrolle über die Regierung. 1979 schließen Israel und Ägypten einen Friedensvertrag. Israel beginnt mit der Räumung des Sinai. 1987 beginnt die ersten Intifada der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Jordaniens König Hussein verzichtet 1988 auf den Anspruch auf das Westjordanland. Die Vereinbarung von Oslo 1993 verspricht den schrittweisen Abzug Israels aus den besetzten Gebieten und Autonomie für die Palästinenser. Der Vertrag wird nur in Ansätzen umgesetzt.

1994 - Erster Selbstmordanschlag in Tel Aviv: Dabei werden in einem Stadtbus 21 Menschen getötet. Bis 2006 kommt es immer wieder zu Selbstmordattentaten in Tel Aviv mit vielen Opfern. In allen Gaststätten werden Einlasskontrollen eingeführt. 2003 werden Tel Aviv und seine Häuser des International Style von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt. 2004 werden die Hafenanlagen zum Vergnügungs- und Einkaufszentrum. 2007 hat Tel Aviv 384.500 Einwohner. 91,8 Prozent sind Juden, 4,2 Prozent Araber. Hinzu kommen legale und illegale Arbeiter, besonders aus asiatischen Staaten. KLH

Vor fast einhundert Jahren kamen einige Juden in Palästina auf die Idee, eine neue Stadt am Meer zu gründen – und seit 75 Jahren spricht man dort auch Deutsch: Für die „Jeckes“, vor den Nazis geflüchtete deutsche Juden, war es ein schwieriger Neubeginn in der weißen Stadt. Doch heute werden sie für ihre Aufbauarbeit verehrt. Ein Besuch bei den letzten Überlebenden

VON KLAUS HILLENBRAND

Zum langen weißen Strand geht Viola Virshubski in ein paar Minuten. Sie liebt das Leben dort, den Trubel, die Restaurants. Aber auch die Geschäfte sind nicht weit von der Wohnung der 76-Jährigen und ihres Mannes Mordechai entfernt. Einmal um die Ecke, und sie steht auf der Ben Yehuda, dieser ewig langen Straße, die Tel Aviv von Süden nach Norden durchschneidet. Die Ben Yehuda: das war früher einmal das Zentrum der deutschen Einwanderer. In den Läden und Cafés hatte es die hebräische Sprache schwer, denn die Deutschen – Jeckes genannt – sprachen untereinander lieber Deutsch.

„Tel Aviv war immer lebenslustig“, sagt die gebürtige Berlinerin. „Es war fantastisch. Es gab Theater, Konzerte, Bars, Kaffeehäuser, die Hotels am Strand. Früher gab es sogar ein Kasino. Wir haben uns wunderbar amüsiert.“

Sie und ihre Eltern flüchten 1934 aus dem nationalsozialistischen Berlin, aber kein Land will die Familie aufnehmen. Sie finden vorläufige Aufnahme in Barcelona, wo die Republikaner die faschistischen Franquisten aus der Stadt gejagt haben. Erst knapp zwei Jahre später erreichen sie mit einem Touristenvisum Palästina – die neue Heimat. Die Familie zieht nach Tel Aviv. In die weiße Stadt, den Melting Pot der Kulturen. Inklusive eines kleinen Stückchens Deutschland an der Ben-Yehuda-Straße.

Viola Virshubski sagt: „Seitdem wohne ich an der Ben Yehuda. Ich könnte nirgendwo anders leben als hier. Ich muss hier sein.“ Andere alte Menschen mögen die Ruhe bevorzugen und das Grün weiter Landschaften. Frau Virshubski nicht. So wie die meisten Tel Aviver. Sie lieben ihre Stadt.

Von 1933 an sind die deutschen Juden auf der Flucht vor den Nazis. Doch kaum ein Land will sie aufnehmen. Nur die wenigsten haben sich bisher für Palästina und das große zionistische Projekt eines jüdischen Lands interessiert. Jetzt wird Tel Aviv für viele zur Rettung.

Eine flache Küste, braun und sonnenverbrannt: Der Dampfer verringert sein Tempo. Zuletzt laufen die Schrauben rückwärts, um die Fahrt zu stoppen. Draußen, weit weg an Land, sieht man Häuser und Menschen. Die Aufregung unter den Passagieren an Bord nimmt überhand. Gestapeltes Gepäck wird von drängelnden Menschen umgeworfen. Sie wollen an die Reling, um einen ersten Blick auf das fremde Land zu erhaschen, sie sind nach der tagelangen Seereise endlich dort angekommen, wo für sie ein neues Leben beginnen soll: fern der Heimat Deutschland, deren Machthaber sie anfangs schikaniert und am Ende mit dem Tode bedroht haben, weg von Freunden und Verwandten, die in aller Herren Länder verzweifelt ein Exil suchen, getrennt von den Straßen und Häusern der Kindheit.

Sie haben Palästina erreicht.

„Das Schiff konnte nicht in den Hafen von Tel Aviv einfahren“, erinnert sich Lotte Norbert an ihre Ankunft im Februar 1939. Die junge Frau ist mit einer Gruppe Jugendlicher unterwegs, ohne die Eltern „Wir wurden mit kleinen Booten hereingebracht. Der erste Mensch, mit dem ich sprach, war ein Polizist in einer blauen Uniform. Es war ein jüdischer Polizist! Er fragte mich, wer wir seien und woher wir kämen.“ Wir erhielten alle ein Spritze gegen Typhus. Dann kam ein Lehrer, der uns zu einem Autobus brachte, der nach Tel Aviv fuhr.

Der Berliner Hans Landau erreicht Palästina im Jahr 1933 als Elfjähriger mit seinen Eltern. Der Vater besaß in der Reichshauptstadt eine zahnärztliche Praxis. „Wir kamen im arabischen Jaffa an“, berichtet er. „Das Schiff stoppte weit draußen vor dem Hafen. Unten warteten kleine Boote, die uns an Land bringen sollten. Wir mussten das Fallreep herunter vom Schiff steigen. Durch den starken Wellengang hob und senkte sich der Abstand zu den Booten um eineinhalb Meter. Wir mussten springen. Die arabischen Bootsleute fingen uns auf – kein angenehmes Erlebnis. Sie brachten uns zum Hafen von Jaffa. Da regierten die Briten mit ihren arabischen und jüdischen Polizisten und Zöllnern. Von dort brachte uns eine Kutsche ins nahe Tel Aviv.“

Die ersten Eindrücke von der unbekannten Stadt am Meer sind für die deutsch-jüdischen Neueinwanderer widersprüchlich. Tel Aviv hat damals schon mehr als 100.000 Einwohner, ausschließlich Juden, und ist noch nicht einmal dreißig Jahre alt.

Eugenie Afuri Ajad war 1935 in Berlin beim Verteilen antifaschistischer Flugblätter von der Gestapo verhaftet worden. Sie kommt mit viel Glück wieder frei, und über Breslau und Triest wird ihre klandestine Ausreise organisiert. „Tel Aviv war für mich schon damals ein Wunder“, sagt die heute 93-jährige Dame: „Dass es so etwas überhaupt gab: eine Stadt der Juden! Obwohl damals viele Straßen noch gar nicht gepflastert waren. Die ganze Atmosphäre war für mich als Berlinerin sehr eigenartig. Ich habe mich nicht nicht heimisch gefühlt. Anfangs war ich sehr unglücklich.“

Lotte Norbert steigt im selben Jahr mit ihrer zionistischen Jugendgruppe am Hafen in den Bus in die Stadt: „Der Bus fuhr die ganze Dizengoffstraße im Zentrum bis zum Busbahnhof entlang. Der einheimische Lehrer sagte: „Schaut, das ist die jüdische Stadt! Was sagt ihr dazu?“ Er war unglaublich stolz auf Tel Aviv. Ich habe mich im Autobus umgeschaut. Der Boden war voll von Nussschalen, und ich sagte ihm: „So einen schmutzigen Bus habe ich noch nie gesehen.“ Da war er schwer beleidigt. Ich kam doch aus München, da war der Unterschied zu Tel Aviv sehr groß. Es war schon städtisch hier – aber doch unglaublich schmutzig.“

Die Gespräche mit Lotte Norbert, Eugenie Afuri Ajad, Hans Landau und weiteren älteren Damen und Herren finden wie selbstverständlich auf Deutsch statt. Das Altersheim Pinach Rosen steht an einer Seitenstraße des Tel Aviver Vororts Ramat Gan. Das flache Gebäude ist erst kürzlich mit Mitteln der Jewish Claims Conference renoviert worden. Die Claims Conference fungiert weltweit als Erbe von jüdischem Vermögen, für das sich infolge des Holocaust keine natürlichen Erben mehr auffinden lassen. Sechs Millionen europäischer Juden wurden Opfer der Nazis. Sie, die nicht rechtzeitig Europa verlassen konnten, wurden erschlagen, erschossen und vergast. Etwa 60.000 deutsche Juden konnten sich damals mit der fünften Alijah (Einwanderungswelle) ins britisch regierte Palästina retten – ihre neue Heimat. Die meisten von ihnen waren jung, und viele ließen ihre Familie in Deutschland zurück, die sie nie wiedersahen. Die Neueinwanderer aber zog es in die Städte: nach Jerusalem, Haifa und, zuallererst, nach Tel Aviv.

Heute stehen die Neueinwanderer von damals im achten, neunten oder zehnten Lebensjahrzehnt. An der Rezeption des Altersheims sind die Wochenangebote für die Bewohner angeschlagen: Turnen, Malstunde, eine Singgruppe, Musikprogramme, Keramikkurse. Alles auf Deutsch. Die Bewohner von Pinchas Rosen sind keine Deutschen, sondern Israelis und sprechen natürlich auch Hebräisch. Sie haben sich schon vor Jahrzehnten in ihrem Land eingelebt, manche machten große Karriere, andere schlugen sich mit den unterschiedlichsten Jobs durch, wieder andere kümmerten sich um Kinder und Familie. Aber Deutsch ist ihre Muttersprache geblieben, die Sprache, die sie als Kinder und Jugendliche gelernt haben. Sie möchten dabei bleiben.

Auf Kanal 36 läuft RTL: Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“ dürfte unter den ehemaligen deutschen Israelis Quoten erreichen, von denen der Sender in der Heimat nur träumen kann. Die Alten in Tel Aviv wundern sich, wie dürftig die Allgemeinbildung unter den jungen deutschen Kandidaten geworden ist.

Die „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Trägerin des Heims Pinchas Rosen, hat zum Kaffee gedeckt, mit Kuchen, Säften, Filterkaffee und einer blütenweißen Decke auf dem großen Tisch. Die Direktorin Devorah Haberfeld, klein, drahtig, feuerrote kurze Haare, ist mitgekommen, um zu hören, was die Damen und Herren von der Vergangenheit erzählen. Sie gehört als Kind ursprünglich Wiener Juden schon der zweiten Generation der Jeckes an. Jeckes? So nennen sich die früheren deutschen Juden selbst. So wurden sie bei ihrer Ankunft von den alteingesessenen Juden meist osteuropäischer Herkunft kollektiv getauft. Anfangs war es ein Schimpfwort. „Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?“, lautete einer der zynischen Witze über sie, denen man vorwarf, es mangele ihnen an zionistischer Gesinnung. Sie waren ja „nur“ Flüchtlinge. Heute ist der Begriff „Jecke“ in Israel ein Ehrentitel und steht für Fleiß und Pünktlichkeit – deutsche Tugenden eben.

Wie war das, als die Jeckes damals ankamen in der neuen, auf Sand gebauten Stadt? Und wie ist es dazu gekommen, dass Tel Aviv heute diese große, vor Lebenslust berstende Stadt geworden ist, mit gewaltigen Bürotürmen und schattigen Boulevards, Discos und Philharmonikern, Shopping-Malls und den letzten kleinen Kramläden ostjüdischer Prägung in den Seitenstraßen der Ben Yehuda?

Im nächsten Jahr wird Tel Aviv einhundert Jahre alt. Der Staat Israel begeht am 8. Mai 2008 seinen sechzigsten Geburtstag. Die „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Verband der deutschsprachigen Immigranten, wurde 2007 fünfundsiebzig. Diese drei Daten haben mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Im Hafen von Tel Aviv, in dem Lotte Norbert vor neunundsechzig Jahren an Land ging, kommen schon lange keine Schiffe mehr an. Gerade erst erbaut, wurde er schon bald zu klein. Die Häfen von Haifa im Norden und Aschdod im Süden liefen ihm den Rang ab, die Anlage wurde geschlossen und verfiel. Jetzt ist sie wieder geöffnet. Statt Zöllnern gibt es Kellner, Magazine sind zu Designergeschäften mutiert, und am ehemaligen Hafenbecken reiht sich Restaurant an Nachtclub und Café. Die Passagiere von heute sind die Nachtschwärmer von Tel Aviv, jung oder schon etwas älter. Pärchen, Gruppen und ganze Familien promenieren. Am Freitagabend, wenn im religiös geprägten Jerusalem zum Beginn des Sabbats die Bürgersteige hochgeklappt werden, birst die riesige Diskothek vor sich drängenden Menschen, die neuesten Hits werden aufgelegt, die Luft ist zum Schneiden, die Menge stampft mitgerissen im Takt der Musik. Nicht nur hier. Rund um die Sheinkinstraße weiter südlich reiht sich Bar an Bar. Junge Leute wie Yoav Schrerd, dem das „Weinstock“ gehört, zählen zu den risikobereiten Gründern der Etablissements, die auf ein vergnügungssüchtiges Publikum setzen können, das viel Musik, aber wenig Alkohol konsumieren will. Diese Stadt ist profan.

Heutzutage ist Tel Aviv weit über das kleine Israel hinaus berühmt für seine Nachtszene, für die Schwulenkultur, die Strandbars, die Offkunst mit den Galerien, für Experimente. Die Wahrheit ist: So viel hat sich nicht verändert.

Viele Restaurants und Kaffeehäuser sind in den Dreißigerjahren von Jeckes gegründet worden. Sie mochten sich den orientalisch-ostjüdischen Sitten nicht so einfach anpassen, vermissten den gewohnten Stammplatz im Café, das Essen im Restaurant. Man verlangt nach Kaffee mit Sahne statt Tee mit Zitrone, bevorzugt Tischtücher aus Leinen statt solcher aus Papier. „Balsam Eis Café jetzt nur noch in Erez Israel, Allenby Straße 37“ heißt es in einer Zeitungsanzeige von 1936. „Wiener Abend im Café City. Dienstag, 27. November 1934, Neun Uhr, Jazz- und Schrammelmusik, künstlerisches Programm, Tombola, Überraschungen“, lautet der Text einer anderen. Anni Mainz schreibt in ihrem 1935 erschienenen Büchlein über Tel Aviv: „Wer hat noch nicht von jener Straßenkreuzung gehört, die vom deutschen Teil der fünften Alijah Potsdamer Platz genannt wird. Gegen Abend ist es hier beinah so turbulent – mit dem Geflitz der gleichen Streifentaxis – wie das Berliner Vorbild.“ Das war wohl ein wenig übertrieben.

Die Schauspielerin Orna Porat erreicht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Tel Aviv. Sie berichtet: „Man hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich habe natürlich als Erstes Hebräisch gelernt, damit ich wieder auf die Bühne kommen konnte. Nach einem Jahr bekam ich mein erstes Engagement im Kammertheater. Es war ein großer Erfolg. Damals gab es schon die Habima, das Nationaltheater, das Theater der Gewerkschaften und das Kammertheater.“ Anders als viele deutschsprachigen Einwanderer sucht Porat, heute eine der bekanntesten Persönlichkeiten Israels, keinen Kontakt zu den Jeckes. „Ich gehörte nicht dazu“, meint sie. Sie hat sich sehr schnell integriert. Doch ihren kölschen Dialekt hat sie bis heute behalten.

Nicht allen sittenstrengen Besuchern hat die Tel Aviver Lebensart gefallen. Alfred Wiener, deutscher Jude aus Berlin, schreibt nach einem Besuch schon 1927: „Übrigens fehlen auch die üblichen und üblen Begleiterscheinungen der größeren Stadt nicht. Tel Aviv hat eine geheime Prostitution und sogar zwei Animierkneipen.“ Und Wiener mokiert sich: „Die straffe Zucht und Ordnung, die im Orient ganz besonders notwendig sind, fehlen.“ Eine etwas andere Ansicht vertritt da David Ben Gurion, einer der Gründungsväter Israels. Auf die Frage, wann die zionistische Bewegung ihr Ziel erreicht haben wird, antwortete er vor mehr als siebzig Jahren: „Wenn jüdische Polizisten eine Nacht damit verbringen, jüdische Prostituierte in einer jüdischen Stadt zu verhaften.“

Geplant war Tel Aviv freilich einmal ganz anders. Die Geschichte der ersten jüdischen Stadt der Neuzeit begann gleich nebenan, im arabischen Jaffa, einer der ältesten Städte der Welt. Jaffa war von alters her der einzige Hafen Palästinas. Hier erreichten die christlichen Pilger mit ihren Segelschiffen aus Europa das Gelobte Land, aber auch diejenigen älteren Juden, die sich im 19. Jahrhundert dazu entschlossen hatten, ihre letzten Lebensjahre in der Heiligen Stadt Jerusalem zu verbringen. Ab 1880 nahm die jüdische Einwanderung ins türkisch regierte Palästina zu, und es waren nicht länger nur Fromme, die ins Land kamen. Kaufleute zog es automatisch in das Handelszentrum Jaffa, hinzu kamen alteingesessene Juden aus Gaza.

Freilich war Jaffa eng und altertümlich gebaut. Sanitäre Einrichtungen fehlten ganz, und das Abwasser floss über den Rinnstein ins Meer. Was heute mit freundlich renovierten Gebäuden und hellen Innenhöfen pittoresk erscheint, entsprach damals in weiten Teilen einer stinkenden Kloake. Arthur Ruppin, erster Leiter des zionistischen Palästina-Amts, erinnert sich an das Jaffa von 1908: „Die Straßen waren ungepflastert oder mit zahlreichen Löchern im Pflaster und überall mit Kehricht bedeckt. Keine Kanalisation, daher üble Gerüche von allen Seiten; keine Wasserleitung, sondern Wasserbeschaffung mit Zieheimern oder Handpumpen aus – häufig stark verunreinigten – Brunnen, daher in jedem Sommer Typhusepidemien, daneben starke Verbreitung von Trachom und Malaria. An den Rändern der Straßen saßen Bettler und Bettlerinnen, meistens mit Kindern im Arm, auf deren trachomkranken Augen Massen von Fliegen herumkrochen.“

Der Magdeburger Arthur Ruppin sollte mit seinem Palästina-Amt praktische Schritte zur jüdischen Siedlung in die Wege leiten, Kredite für Landkäufe vergeben und landwirtschaftliche Kolonien unterstützen. Eines Abends im Juli 1907 kommt ein jüdischer Uhrmacher zu ihm ins Hotel. Er berichtet Ruppin von sechzig Familien, Kaufleuten, Akademikern und Lehrern, die außerhalb von Jaffa den Bau einer Siedlung planen. Es soll ein ganz modernes Stadtviertel werden, mit großen Vorgärten, kleinen, lichten Häusern und einem Gymnasium im Zentrum: eine Gartenstadt, von der in Europa allenthalben die Rede ist, das Gegenteil des schmutzigen, engen ostjüdischen Schtetls also. Ruppin und der Uhrmacher reiten auf Eseln zu dem vorgesehen Terrain, besichtigen die menschenleeren und unfruchtbaren Dünen, wo die neue Siedlung entstehen soll – ein Phantom im Sand. Doch Arthur Ruppin lässt sich überzeugen. Er bittet den Jüdischen Nationalfonds um einen großzügigen Kredit für den Bau. So wird Arthur Ruppin zum Geburtshelfer der neuen Stadt.

Am 11. April 1909 organisiert ein gewisser Meir Dizengoff in den Dünen vor Jaffa per Losverfahren die Landverteilung. Sechzig weiße Kieselsteine sind mit den Namen der Familien beschrieben, auf weiteren sechzig grauen sind die Parzellen notiert. Aber die Siedlung hat noch keinen Namen. Alle möglichen Vorschläge werden gemacht. Man einigt sich auf Tel Aviv, übersetzt „Frühlingshügel“. Tel Aviv, so lautet in der hebräischen Übersetzung der Titel von Theodor Herzls utopischem Roman „Altneuland“, in dem der Wiener Zionistenführer ein blühendes jüdisch-arabisches Gemeinwesen beschreibt. Einen Traum also, größenwahnsinnig angesichts der mehr als dürftigen Verhältnisse im Palästina von 1909. Das Entwicklungsziel für die Siedlung Tel Aviv ist bescheidener: ein luftiger Vorort Jaffas mit einigen Dutzend Häusern, ausschließlich zum Wohnen bestimmt, denn gearbeitet wird weiterhin selbstverständlich in Jaffa. Ende 1909 stehen fünfzig Häuser. Ruppin legt besonderen Wert auf ein Wasserklosett in jedem Gebäude. Daraus entwickelte sich der Witz: „Was ist ein Haus in Tel Aviv? Ein WC mit einigen kleinen Zimmern drum herum.“ Für die Asphaltierung der Straßen reicht das Geld nicht. Die Bewohner müssen durch den knietiefen Sand schreiten, wenn sich nach Jaffa wollen.

Im „Palästina-Handbuch“ aus dem Jahre 1912 schreibt Davis Trietsch: „Jetzt leben bereits circa tausend Juden in für dortige Verhältnisse sehr gut gebauten Häusern und fühlen sich in ihrer Stadt so wohl wie nur möglich. Das neue Stadtviertel (Tel Aviv) hat breite und gut gehaltene Straßen, die Häuser sind mit Vorgärten versehen, und das ganze Viertel ist mit einer Mauer umgeben. Eine Art Zentrum des Stadtteils bildet das Hebräische Gymnasium.“

Zu Beginn ist Tel Avivs Entwicklung ein Auf und Ab. 1912 gelingt Arthur Ruppin der Ankauf des Sandstrands. Jetzt kann sich die Siedlung bis zum Meer ausdehnen. 1917 gibt es die Kleinstadt nicht mehr. Die Türken lassen Tel Aviv gegen Ende des Ersten Weltkriegs komplett evakuieren. Erst mit der Eroberung Palästinas durch die Engländer im selben Jahr dürfen die Einwohner zurückkehren. 1921 gibt es in Jaffa blutige Pogrome gegen die jüdischen Bewohner. Sie werden nach Tel Aviv evakuiert. Die Stadt wächst auf über 12.000 Einwohner. Araber, die sich in den Randbereichen der neuen Stadt angesiedelt haben, werden aus ihren Häusern gezwungen. Meir Dizengoff wird erster Bürgermeister von Tel Aviv, das sich mehr und mehr von Jaffa ablöst und die alte Stadt zu überflügeln beginnt.

Heute wohnen in Tel Aviv, eingezwängt zwischen Jaffa im Süden und dem Yarkonfluss im Norden, mehr als 300.000 Menschen (mit dem eingemeindeten Jaffa sind es 380.000, im Zentrum allein 150.000). Doch tagsüber drängen sich in der Stadt viel mehr. Der Großraum um die Stadt beherbergt über 3,2 Millionen Menschen und ist unstrittig das Wirtschaftszentrum Israels. Von den ersten sechzig Häuschen mit ihren roten Ziegeldächern aber ist kein einziges erhalten geblieben, und an der Stelle des Hebräischen Gymnasiums von 1909 steht ein Betonklotz. Kritiker monieren gern, die Stadt habe, ganz anders als Jerusalem, keine Geschichte. Das ist zweifellos richtig. Selbst die wenigen Spuren der ursprünglichen Siedlung gingen im beispiellos raschen Aufstieg Tel Avivs verloren. Wozu diese kleinen unscheinbaren Gebäude erhalten? Die Stadt musste wachsen, wachsen, wachsen. Keine Zeit für Sentimentalitäten, schon gar nicht bei der Urbanisierung.

So entsteht zunächst ein seltsames Gebilde, ein Melting Pot der Architektur. Die Einwohner, sämtlich Immigranten, bringen die Baustile aus ihrer früheren Heimat mit. Es gibt zunächst keine verbindlichen Bauvorschriften. Da stehen Jugendstilhäuser neben neobarocken Wunderlichkeiten, russisch angehauchte Villen neben klassizistischen Gebäuden mit Kolossalsäulen, dazwischen einfache Betonhäuser ohne jede Fassadengestaltung. Letztere bilden die große Mehrheit, denn natürlich fehlt es den Bauherren fast immer an Geld für große Fassadenkünste. Gerhard Holdheim schreibt 1929 fast entschuldigend: „Es ist klar, dass bei der Mannigfaltigkeit der aus aller Welt zusammenströmenden Juden jeder nach seinem eigenen Geschmack baute und die fast amerikanische Entwicklung der Stadt eine einheitliche Lösung in dieser Beziehung nicht zuließ.“ Von der Idee einer Gartenstadt bleibt nicht viel übrig. Der belgische Sozialistenführer Emil Vandervelde notiert im selben Jahr: „Im Zentrum der Stadt sind die Häuser zu dicht zusammengedrängt. Es gibt hier nicht genügend Bäume, nicht genug Grün, keine öffentlichen Anlagen, keine Spielplätze. Statt einer Gartenstadt mit Einfamilienhäusern hat man – in Erwartung amerikanischer Wolkenkratzer – eine europäische Stadt mit dreistöckigen Mietshäusern gebaut.“

Aus Deutschland stammende Juden spielen bei dieser Entwicklung zunächst keine herausragende Rolle. Zwar ist Deutschland ein Zentrum des Zionismus, doch nur die wenigsten Juden können sich dazu entschließen, ins Land ihrer Vorväter zurückzukehren. Schließlich sind sie daheim integriert und fühlen sich als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger. Wozu dann einen Neuanfang im unterentwickelten Orient wagen? Arthur Ruppin ist eine seltene Ausnahme. Der Architekt Richard Kauffmann, der 1920 einwandert, eine andere: Bis 1933 kommen nur 2.000 deutsche Juden nach Palästina – weniger als ein Prozent des jüdischen Bevölkerungsanteils.

Die deutschen Juden, die sich mit Beginn der Nazi-Herrschaft nach Tel Aviv retten können, treffen auf eine Mischung aus ostjüdischer und orientalischer Kultur. Für viele unter ihnen ist Palästina ein Kulturschock. Sie sprechen kein Hebräisch, doch Deutsch, die Sprache der Nazis, ist verpönt. Sie haben die falschen Berufe. Von 250 Rechtsanwälten, die 1933, aus Deutschland kommend, in Palästina eintreffen, müssen fast alle umschulen. Die Einwanderer aus Deutschland sind bisweilen schon älter und entsprechend weniger flexibel. Sie entsprechen so gar nicht dem Vorbild des muskulösen zionistischen Pioniers. Sie müssen dennoch ganz von vorne anfangen.

Viola Virshubski erinnert sich in ihrer Wohnung an der Ben-Yehuda-Straße, dass ihr Vater, ursprünglich ein wohlhabender Arzt, zunächst keine Stellung finden konnte. Er musste sich jahrelang mit dem Verkauf von Büchern über Wasser halten. Sie erzählt: „Wenn man auf der Straße Deutsch sprach, wurde man schief angeguckt. Meine Eltern haben dennoch nie richtig Hebräisch gelernt. Mein Vater hatte einen Privatlehrer. Wir haben Witze gemacht, denn er hat die Sprache furchtbar schlecht gelernt. Man hat über die Jeckes gelacht, weil sie sich anders benahmen. Sie waren Europäer. Sie sind Europäer geblieben. Für meine Eltern war all das ziemlich schlimm.“

Ihr Mann Mordechai, Jahrgang 1930, ergänzt: „Für uns Kinder war es einfach. Wir konnten überall auf der Straße spielen, es gab ja kaum Autoverkehr. Die Sprache erlernten wir dort automatisch. Wir lebten uns rasch ein. Für die Eltern war es viel schwerer. Mein Vater besaß in Tel Aviv ein Geschäft für Lampen, Taschenlampen und Glühbirnen – einen sehr kleinen und sehr schlecht gehenden Laden. In Leipzig war er ein angesehener Kaufmann gewesen. Jedes Jahr ging es im Sommer nach Italien und zur Kur in die Tschechoslowakei. Hier waren wir viel ärmer – nicht nur ökonomisch. Auch gesellschaftlich war das ein Rückschritt.“

Vielen Jeckes gelingt es, einen Teil ihrer Möbel nach Palästina mitzubringen. Das Palästina-Amt in der Berliner Meinekestraße 10, das die viel zu wenigen Einwandererzertifikate für die so dringend gesuchte neue Heimat vergibt, erstellt 1936 Empfehlungen: „Sehr angenehm und billig im Gebrauch sind elektrische Eisschränke und sonstige elektrische Haushaltsgeräte wie Plätteisen, Staubsauger, Ventilatoren. Es empfiehlt sich für jeden Palästinawanderer, seinen Bücherbestand mitzunehmen, nachdem schlechte und wertlose Bücher ausgesondert sind.“ Mordechai Virshubski dazu: „Wir haben unsere ganze Bibliothek mitgebracht. Meine Mutter hat nur deutsche Bücher gelesen. Sie sprach Deutsch, Französisch Russisch und Polnisch. Aber kein Hebräisch.“ Goethe, Schiller und Heine halten Einzug ins Heilige Land.

Frühere jüdische Einwanderer aus Osteuropa waren jung und arm, und sie sind in den Dreißigerjahren etabliert. Von 1933 an trifft der deutsch-jüdische Mittelstand in Palästina ein. Er hat andere Vorstellungen vom Alltagsleben. Man sehnt sich nach richtigen Restaurants statt der offenen Garküche an der Straße. Viele vermissen den gewohnten Filterkaffee und die gebildeten Gespräche im Kaffeehaus. Manche trauern den gewohnten Knödeln und dem Sauerbraten nach, wagen es anfangs nicht, exotische Oliven und Humus zu kosten. Diese banalen Umstellungsprobleme mögen heute, im globalen Multikultizeitalter, verstaubt wirken.

Damals waren sie eine kleine Tragödie. Winzig klein gar im Vergleich zum Mord an sechs Millionen Menschen. Aber für die Betroffenen dennoch tragisch.

Eugenie Afuri Ajad denkt im Altersheim an die alten Zeiten zurück: „Die Lebensmittelgeschäfte waren eine Katastrophe. Ich erinnere mich, dass das Brot unverpackt auf der Erde stand und die Hunde daneben liefen.“ Eleonora Weinstein, 95, ursprünglich aus Köln, fällt die Marmelade ein, die beim Verkauf aus einem Pott auf Papier geklatscht wurde. Und Hans Landau, Jahrgang 1922, weiß von den Eiswagen zu berichten, wo man die Blöcke Gefrorenes abholen musste, um sie anschließend in die Küche zu tragen.

Die Jeckes beginnen, sich von der übrigen Gesellschaft entsprechend abzusondern. Sie gründen zum Beispiel ihre eigenen Restaurants, wo sie weiterhin Deutsch miteinander sprechen können. „Da gab es die vielen Cafés in der Ben-Yehuda-Straße“, erinnert sich Viola Virshubski: „Da saßen nur Deutsche, Ärzte, Rechtsanwälte, Schauspieler. Man hat ausschließlich Deutsch gesprochen.“ An der Kaffeetafel im Altersheim Pinchas Rosen meint der 89-jährige Oded Baumann unter allgemeiner Zustimmung: „Ohne die Jeckes könnten wir gar keinen Kaffee trinken. Vorher gab es nur türkischen Kaffee. Anständiger Kaffee kam mit Herrn Loewe, der in Königsberg eine Rösterei besaß und hier die Firma Atari gegründet hat.“

Mit den Jeckes kommen typisch deutsches Organisationstalent und Fachwissen nach Palästina. Sie bringen Neues, bisher nie Dagewesenes nach Tel Aviv: elegante Geschäfte und Kaufhäuser mit großen Schaufenstern, Hotels mit Bädern in den Zimmern, Industriebetriebe mit modernen Maschinen. Unter den deutschen Einwanderern sind bekannte Musiker, die das gerade gegründete Philharmonische Orchester von Tel Aviv verstärken. Die einwandernden Ärzte sorgen für eine nachhaltige Verbesserung im Gesundheitswesen. Es kommen Mathematiker und Statistiker, die für Ordnung und Übersicht in den zionistischen Behörden sorgen. So lösen die Jeckes in ganz Palästina einen gewaltigen Entwicklungsschub aus, politisch, wirtschaftlich und besonders kulturell. So wie Nazi-Berlin kulturell verödet, so erblüht Tel Aviv.

Viele Menschen finden freilich zunächst keine Beschäftigung. Sie suchen nach Nischen, um irgendwie zu Geld zu kommen. Noch heute erinnern sich viele Tel Aviver an die älteren Männer, die in den Straßen mit Bauchläden Bücher verkaufen mussten.

Erste Anlaufstelle für viele der Einwanderer wird die Hitachdut Olej Germania, die Interessenvertretung der deutschsprachigen Juden. Der 1932 gegründete Verband kümmert sich um Jobs, organisiert Hebräischkurse, verteilt schon auf den Schiffen Informationen über das künftige Leben in Erez Israel: „Welchem Spediteur übergebe ich die Abfertigung meines Gepäcks? In welcher Pension werde ich absteigen? Wo kaufe ich Möbel und Einrichtungsgegenstände?“, sind die drängenden Fragen. Olej Germania eröffnet schon bald Einwandererwohnheime, Sammelstellen für gebrauchte Kleidung, Sanatorien, Suppenküchen und eine Hilfskasse für Sozialfälle. 1933, im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft, gehen mehr als 20.000 Hilferufe bei den „ollen Germanen“ ein, so die liebevolle Bezeichnung für die Organisation. Lotte Norbert erinnert sich: „Ich ging zur Olej Germania. Die gaben mir eine Adresse, wo ich als Dienst- und Kindermädchen anfangen konnte.“

Der Anfang im neuen Land fällt vielen Jeckes schwer. Die Alten leiden unter Umstellungsproblemen, die Jungen durften in Nazi-Deutschland keinen Schul- oder Universitätsabschluss mehr ablegen. Oded (Horst) Baumann berichtet an der Kaffeetafel im Altersheim über seine ersten beruflichen Schritte in Tel Aviv: „Ich wollte eigentlich Grafiker werden, aber das klappte nicht. Mein ältester Bruder arbeitete in einer Garage, da kam ich auch hin und lernte Auto fahren. Dann war ich bei einer Tischlerei. Schließlich fand ich einen Job in einem Reklamebüro. Dort lernte ich Gebrauchsgrafik. Aber ich musste ja Geld verdienen. Damals machte in Tel Aviv eine deutschsprachige Zeitung auf, Blumenthals Neueste Nachrichten. Die nannte man nur Blumenkohl. Da war ich ein paar Jahre. Ich besaß eine Halbtagsstelle, aber ich arbeitete täglich zwölf Stunden.“

Immer wieder appelliert Olej Germania an die Neueinwanderer, die Landessprache zu erlernen. Die deutschen Flüchtlinge sollen sich im Land integrieren. „Lernt hebräisch!“, heißt es regelmäßig im Mitteilungsblatt, das zunächst fast ausschließlich in deutscher Sprache erscheint. Zugleich wird entschuldigend mitgeteilt: „Die Inserate erscheinen in derjenigen Sprache, die der Inserent wünscht.“ Es ist fast ausschließlich Deutsch.

Misstrauisch beäugt von ihrer Umgebung, bleiben die Jeckes bei ihrer eigenen mitteleuropäischen Kultur. Eine Unzahl bösartiger Witze kursiert über sie, wobei der Verdacht naheliegt, dass die allermeisten von den Jeckes selbst erfunden worden sind. „Wie macht man in Palästina ein kleines Vermögen? Indem man ein großes mitbringt.“ „In Tel Aviv wird ein neues Haus gebaut. Ältere Männer bilden eine Kette, einer reicht dem anderen Stein um Stein: ‚Danke schön, Herr Professor‘, ‚bitte schön, Herr Doktor‘, ‚selbstverständlich, Herr Oberstudienrat.‘ “

Tatsächlich ist die fünfte Alijah und die Einwanderung der deutschen Juden eine große Erfolgsgeschichte. In der israelischen Gesellschaft werden die Jeckes nach Jahrzehnten der Ignoranz heute verehrt, weil sie westeuropäische Standards ins Land gebracht haben. Manche ehemalige Deutsche haben bemerkenswerte Karrieren gemacht: Xiel Federmann begründete die Dan-Hotelkette, Stef Wertheimer ist Boss großer Industrieunternehmen (und hat nebenbei ein Jeckes-Museum finanziert), Salman Schocken machte die Tageszeitung Ha’aretz zum Qualitätsblatt, Pinchas Rosen wurde erster Justizminister Israels, Alex Bein leitete das Staatsarchiv.

In Tel Aviv aber verändern die Neueinwanderer das Antlitz der ganzen Stadt. Jüdische Architekten zählen mit zur ersten Gruppe, die in Nazi-Deutschland ein Berufsverbot erhält und deshalb zur Emigration gezwungen wird. Sie bringen neuzeitliche Vorstellungen nach Palästina mit: das Bauhaus. Manche alteingesessene Juden haben in Dessau und Berlin Architektur studiert, andere erlernen am Technion in Haifa die Grundsätze des neuen Bauens. Sie und die Neueinwanderer prägen die Veränderung Tel Avivs zur weißen Stadt.

Im Jahre 1925 hatte Tel Aviv durch den Schotten Sir Patrick Geddes endlich einen ersten Bebauungsplan erhalten. Er sieht ein hierarchisch strukturiertes Straßennetz mit baumbestandenen Boulevards, breiten Hauptstraßen, kleinen Nebenstraßen und vielen Plätzen vor. Zahlreiche Gärten und eine lockere Bebauung sollen Tel Aviv einen grünen Charakter geben. Letzteres lässt sich freilich nicht durchhalten. Die großen Einwanderungswellen und das damit verbundene dynamische Wachstum Tel Avivs zwingen zu Kompromissen. Es wird eng.

Von Beginn der 1930-Jahre an setzt sich in Tel Aviv der unter anderem von Le Corbusier und Mies van der Rohe entwickelte „International Style“ in der Architektur mit seinen kühlen Flächen, kubischen Formen, asymmetrischen Kompositionen und der Verweigerung dekorativen Schnickschnacks durch. Der Baukörper erhält geometrische Grundformen, ein Flachdach, teilweise Glaswände. Das Haus hat den Menschen, die darin wohnen, zu dienen, nicht umgekehrt, lautet das Prinzip.

Ab April 2009 begeht Tel Aviv das ganze Jahr über seinen 100. Geburtstag. Geplant sind Ausstellungen und Konferenzen, ein Marathonlauf, Kongresse, Sportveranstaltungen, Kinderfeste und – wie könnte es bei Tel Aviv anders sein – eine riesengroße Party. Weitere Information unter www.tlv100.co.il

Der Jeckes-Wald

Zu ihrem 75. Geburtstag 2007 beschloss die Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft – faktisch vertritt sie die deutschsprachigen Israelis –, den nachfolgenden Generationen einen Wald zu widmen. Er soll an die Jeckes und ihre Leistungen erinnern, auch wenn keiner von ihnen mehr am Leben sein wird. Das vorgesehene Landstück liegt im bergigen Galil im Norden Israels, ganz in der Nähe des Jeckes-Museums in Tefen. Kontakt: Association of Israelis of Central Euro- pean Origin, 15 Rambam St. POB 1480, Tel Aviv 61014, Israel, E-Mail: jeckes@netvision.net.il

Danksagung

Als ich vor 25 Jahren zum ersten Mal Tel Aviv besuchte, war die Ben-Yehuda-Straße noch von den deutschen Juden geprägt. Seitdem habe ich immer wieder Tel Aviv besucht. Viele Menschen haben mir bei der Recherche für diesen Text geholfen.

Besonderer Dank gilt Eugenie Afuri Ajad, Oded Baumann, Etty Gargir, Devorah Haberfeld, Hans Landau, Edina Meyer-Maril, Lotte Norbert, Lillit Pavel, Orna Porat, Nitza Szmuk, Viola und Mordechai Virshubski, Eleonore Weinstein (alle Tel Aviv), Abraham Frank (Jerusalem), Schlomo Meyer (Leo-Baeck-Institut Jerusalem), Karin und Walter Braun (Kibbuz Mayyam Zwi), Ulla Unseld-Berkévicz (Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main), Eva Schumacher-Wulf (Israelische Fremdenverkehrszentrale, Berlin), Shlomi Livne (Globe-Reisen, Frankfurt/Main) und Ines Sonder (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam). KLH

Links und rechts des Rothschildboulevards im Süden, an der Gordonstraße im Norden, rund um den Dizengoffplatz im Zentrum: die Gebäude des „International Style“ prägen die Stadt. Manche Fassaden sind gerundet wie Meereswellen, manche auffallend kantig, viele Häuser besitzen ein verglastes Treppenhaus, fast alle sind mit Balkonen ausgestattet und stehen auf Säulen. Alle aber sind sie weiß – deshalb die weiße Stadt. Das moderne Bauen musste im heißen Tel Aviv neu interpretiert werden. So entwickelten sich aus den langen Fensterbändern lange, häufig geschwungene Balkonbänder mit hohen Brüstungen, um die Wärme aus den Wohnungen zu halten. Nirgendwo auf der Welt hat der „International Style“ so flächendeckend eine Stadt geprägt wie in Tel Aviv. 3.700 Gebäude entstanden zwischen 1931 und 1948.

In Nazi-Deutschland werden Bauhaus und „International Style“ verboten, nordische Spitzdächer und Furcht einflößende Säulengänge erobern Berlin. In Tel Aviv gewinnt die Leichtigkeit.

Doch für manche der Neueinwanderer aus Deutschland gibt es unangenehme Überraschungen. Ihre gewaltigen Vertikos und Bücherschränke passen nicht in die niedrigen Wohnungen der Moderne. Dabei hatte doch das Palästina-Amt in Berlin eindringlich vor der Mitnahme klobiger Möbelstücke gewarnt. So scheitert die deutsche Mahagoni-Einrichtungsarchitektur an den Verhältnissen in der neuen Stadt. Stahlmöbel sind auch praktischer.

Im vom Wachstum besessenen Tel Aviv hat es freilich noch einmal fast fünfzig Jahre gedauert, bis man im hässlichen Rathausneubau entdeckte, welch einmaliges architektonisches Erbe man dort beherbergt. Bis dahin waren schon manche Bauhaus-Gebäude einfallslosen Neubauten gewichen, hatten die Bewohner der verbliebenen Gebäude in Eigenregie Balkone verbaut, Häuser aufgestockt, die Wände eingerissen und die glatten Fassaden warzengleich mit Klimageräten verunziert. Viele Bauhaus-Gebäude, so die Sammelbezeichnung für die Neubauten der Dreißiger und Vierzigerjahre in Tel Aviv, sind dennoch erhalten. Dank des Engagements der Architektin Nitza Szmuk zählen sie seit dem Sommer 2003 zum Unesco-Weltkulturerbe. Eintausend sind zur Erhaltung vorgesehen. Einige hundert hat man schon restauriert. Die Tourismusvermarkter haben sie entdeckt, und die Tel Aviver sind stolz auf sie. Ganz besonders die Jeckes.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kommen fast keine Einwanderer mehr. Sie sind in Deutschland gefangen. Dafür nähren sich die Truppen der Wehrmacht. Rommels Afrikakorps steht 1941 tief in Nordafrika. Die Nazis wollen mit einer Einsatzgruppe analog zum Massenmord in der Sowjetunion die palästinensischen Juden umbringen, wenn sie das Land erst einmal besetzt haben. Ein Jahr später werden die Deutschen in der Schlacht bei El Alamein geschlagen.

Viele junge Jeckes melden sich freiwillig zum Dienst in der britischen Armee. „Es war selbstverständlich, dass wir am Kampf gegen die Nationalsozialisten teilnahmen. Ich ging 1940 zur Royal Air Force“, berichtet Hans Landau im Altersheim Pinchas Rosen. Oded Baumann, geboren 1919 in Berlin, besitzt 1940 nur den alten, deutschen Reisepass, weil er seinen palästinensischen Ausweis verloren hat: „Ich habe mir überlegt, dass der deutsche Pass vielleicht nicht das Richtige ist, um in die britische Armee einzutreten. Da nahm ich den Spielerpass meiner Fußballmannschaft mit. Sie haben mich genommen, und ich kam zur Luftwaffe. Anfangs konnte ich kein einziges Wort Englisch.“

Nach dem Krieg erreicht eine neue Einwandererwelle Palästina: Es sind die europäischen Überlebenden des Holocaust, die nun ins Land drängen. Es sind nicht mehr viele deutsche Juden unter ihnen, denn fast alle sind von den Nazis ermordet worden – so wie Lotte Norberts Eltern, die in Auschwitz umkamen. 1948 gründet sich der Staat Israel. Die Männer, die noch kurz zuvor in der britischen Armee gegen die Nazis gekämpft haben, werden erneut eingezogen, als arabische Armeen aus Ägypten, Jordanien, Syrien, dem Libanon und dem Irak das Land überfallen.

Die Jeckes gliedern sich in die israelische Gesellschaft ein, aber sie bleiben über die Jahrzehnte etwas Besonderes. Sie fühlen sich nicht als Deutsche, aber sie können ihre deutsche Herkunft nicht verleugnen. Sie veranstalten private Kulturabende in ihren Wohnungen. Sie organisieren sich als die wahren Vertriebenen in Landsmannschaften ehemaliger Breslauer, Berliner, Kölner. Viele der älteren Einwanderer haben nie wieder deutschen Boden betreten nach dem, was die Deutschen ihnen angetan haben. Doch in Tel Aviv bleibt die Ben-Yehuda-Straße ein bisschen deutsch. „Es gab dort so viele Jeckes“, erzählt Viola Virshubski, die der Gegend bis heute treu geblieben ist. „Es gab Delikatessengeschäfte und Kaffeehäuser. Alle Metzger waren Jeckes. Alle haben sich gekannt.“

Die deutsche Schriftstellerin Ulla Berkéwicz, heute Leiterin des Suhrkamp Verlags, erinnert sich, wie sie vor fünfzehn Jahren mit ihrem späteren Mann Siegfried Unseld zur Ben Yehuda kam: „Das war unglaublich: Für zweihundert Meter haben wir sechs Stunden gebraucht. Wir kommen an einem Zeitungsladen mit Leihbüchern vorbei, da steht ein älterer Mann davor. Die beiden Männer reden zwei Stunden miteinander, und es geht nur um deutsche Kultur. Dann gehen wir weiter, und da kommt die Buchhandlung Landsberger. Siegfried Unseld schaut ins Fenster und sagt: ‚Moment mal, da stehen Suhrkamp-Bücher. Da muss ich rein.‘ Wir gehen hinein, und da sitzt der Antiquar, Herr Laske, und sagt: ‚Guten Tag, Herr Unseld.‘ Da ist der natürlich baff. Das dauert wieder zwei Stunden. Danach gehen wir in ein Café, und Siegfried Unseld bestellt drei Tee. Ich frage ihn: ‚Wieso drei?‘ Da verabschiedet er sich, geht über die Straße und bleibt wieder zwei Stunden bei dem Zeitungshändler.“

Heute sind die meisten Kaffeehäuser an der Ben Yehuda Geschichte. Der gebürtige Berliner Antiquar Ernst Laske, ein wandelndes Lexikon deutscher Literatur, ist vor einigen Jahren verstorben, die Buchhandlung Landsberger hat sich verkleinert und ist umgezogen. Fast alle Jeckes sind tot. Viele ihrer Kinder und Enkel verstehen kein Deutsch, schon gar nicht können sie die Frakturschrift in den alten Büchern entziffern. Goethe, Schiller und Heine landen auf dem Sperrmüll. Auf dem Flohmarkt entdecken wir alte Briefe, die eine in Berlin zurückgebliebene Mutter 1938 an ihren Sohn in Palästina geschrieben hat.

Tel Aviv aber entwickelt sich weiter, und weil die Fläche eng begrenzt ist, geht es nach oben: Wolkenkratzer, die der Sozialist Vanderfelde 1929 vergeblich suchte, umkränzen heute das Zentrum. Gewaltige und fantasielose Betonungetüme mit Großhotels haben den „International Style“ entlang dem Strand verdrängt. Doch weil die City so attraktiv wie beliebt geblieben ist, entwickeln sich auch Immobilien- und Mietpreise immer weiter in die Höhe. „Die Blase“ wird Tel Aviv von Einheimischen genannt. Eine Einzimmerwohnung ist kaum unter 400 US-Dollar im Monat zu haben. Mit 5.000 Dollar pro Quadratmeter sind die Immobilienpreise die höchsten des Nahen Ostens, höher noch als in Dubai. Die wertvollsten Wohnungen aber finden sich in den restaurierten Bauhaus-Gebäuden am schattigen Rothschildboulevard mit seinen wunderbaren Kiosken, wo die Fruchtsäfte frisch gepresst ausgeschenkt werden: Dort kommt der Quadratmeter bei Luxuswohnungen auf bis zu 15.000 Dollar. „Das größte Problem hier sind die hohen Miet- und Kaufpreise“, sagt Edina Meyer-Maril, Dozentin an der Architekturschule. „Reiche kaufen die Stadt auf, auch als Kapitalanlage, bewohnen aber die Häuser nicht. Aber, wie alles hier: Morgen kann es schon wieder ganz anders kommen.“

Manche Häuser allerdings sind vom Zahn der Zeit und der aggressiven salzigen Meeresluft angenagt und verschmutzt. Ihr Weiß ist einem schmutzigen Grau gewichen. „Viele Gebäude an der Ben-Yehuda-Straße sehen schrecklich aus. Mir tut das richtig weh“, meint Viola Virshubski: „Die Hauswirte vermieten an junge Leute und stecken kein Geld in Renovierungen.“

Zur Rushhour erstickt die Stadt im Verkehr, schwarze Giftwolken entweichen den Dieselmotoren der vielen Omnibusse und machen das Atmen schwer. Straßen, Busse, Fußgängerwege, ja selbst der feine Sandstrand mit seinen Restaurants – alles ist zumindest voll von Menschen, an „guten Tagen“ aber völlig überfüllt. Tel Aviv ist Kapitalismus pur, ohne israelische Kibbuzromantik, ohne ehrwürdige Altstadtmauern wie in Jerusalem – obwohl die mächtige Histadruth-Gewerkschaft ihre Zentrale in der Stadt hat und die Arbeitspartei lange Zeit die Regierung stellte.

Aber es ist ganz wunderbar.

Besoffene russische Neueinwanderer auf Parkbänken, ondulierte Damen beim Nachmittagscafé, müde Obdachlose am Busbahnhof, eilige Köfferchenträger ohne Krawatte, gelangweilte Soldatinnen und Soldaten, lässig das Gewehr auf der Schulter, Familien auf dem Weg zum Strand, gewaltige Kühlboxen schleppend, genervte Autofahrer im Dauerstau, Minibusfahrer der Linie vier mit den kürzesten Stoppzeiten der Welt, Humusverkäufer, Kioskverkäufer (24 Stunden geöffnet), der ältere Antiquar mit schütteren Haaren und verstaubten deutschsprachigen Büchern, genervte Polizisten, begeisterte amerikanische Touristen, junge Asiatinnen, in der Altenpflege beschäftigt, Studenten, Lehrer, Arbeiter, Kinder, keine Schuhputzer – Tel Aviv ist keine ganz normale Stadt am Meer. Hier geht es israelisch und gleichzeitig international (und ein bisschen orientalisch) zu. Westeuropa verschmilzt mit Russland und Amerika. Der Gazastreifen aber ist unendlich weit entfernt.

Die „Olej Germania“ – die „ollen Germanen“ – die heute „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“ heißt, hat ihren Sitz seit Jahrzehnten in der zentral gelegenen Rambamstraße. Auch das Mitteilungsblatt erscheint weiterhin – zur Hälfte auf Deutsch, zur andern auf Hebräisch. Direktorin Devorah Haberfeld und ihre Mitarbeiter können sich über Mangel an Arbeit nicht beklagen. Der Verein unterhält ein Netz von Altersheimen für die Jeckes, unterstützt Holocaust-Überlebende, von denen viele mit winzigen Renten überleben müssen, organisiert Kulturabende – im letzten Oktober feierte er seinen 75. Geburtstag. Doch wenn der Verein hundert Jahre alt wird, wird es keine Jeckes mehr geben. „Das wird Geschichte sein. Aber bald wird keiner mehr davon wissen, wenn wir alle weg sind“, sagt Viola Virshubski. Sie zählt mit ihren 76 Jahren zu den Jüngsten.

Die Jeckes sind keine deutschen Juden. Schon gar nicht stehen sie für die vor der Nazi-Herrschaft viel beschworene deutsch-jüdische Symbiose. Sie sind Überlebende und Zeitzeugen des Epochenwandels von der demokratischen Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur in Deutschland und des Aufbaus der Stadt Tel Aviv und des Staates Israel. Und sie sind die letzten Vertreter einer deutschsprachigen jüdischen Kultur, die es in Deutschland selbst nicht mehr gibt.

Im Galil, der bergigen Region ganz im Norden Israels, werden die Jeckes weiterleben. Die „ollen Germanen“ möchten dort einen Wald pflanzen, als Zeichen der Verwurzelung in ihrem Land. Die ersten Sprösslinge sind schon gesetzt.

KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist taz-Redakteur. Im September erscheint sein Buch „Nicht mit uns“ über das Schicksal der jüdischen Familie Frankenstein in Nazi-Deutschland (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag)