Verschollener Stummfilm: Josef von Sternbergs Erbe

Von "The Case of Lena Smith", Josef von Sternbergs berühmtem Stummfilm, existieren nur noch wenige Minuten. Eine Publikation geht ihrer Spur nach.

Zu Zeiten des Tonfilms: Josef von Sternerg (li.) mit Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque in Hollywood, 1938. Bild: dpa

Eine junge Frau steht vor der Fensterfront eines Wiener Kaffeehauses. Drinnen sitzt eine Gruppe von Offizieren. Als sie zögerlich vor der Eingangstür stehen bleibt, erweckt sie deren Aufmerksamkeit. Sie geht weiter; einer der Männer greift seine Mütze und folgt ihr in sicherem Abstand. Ein Zwischentitel verrät seinen Unmut über die Begegnung. "Willst du mich vor meinen Kameraden in Verlegenheit stürzen? Wir können in der Öffentlichkeit nicht zusammen gesehen werden." Das Mädchen, Lena, sagt dem Mann, dass die Behörden ihr das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind entzogen haben und den Jungen nur gegen die Zahlung von 1.000 Kronen zurückgeben werden. Ungerührt entgegnet der Offizier, dass er so viel Geld nicht habe. Als sie droht, ihre Ehe öffentlich zu machen, erklärt er, dass sie nichts gewinne, wenn sie einen Skandal provoziere. Höflich grüßend wendet er sich ab und lässt Lena auf der Straße stehen. Abblende.

Der 27. Oktober wird dieses Jahr zum ersten Mal offiziell als Tag des audiovisuellen Erbes gefeiert. Ziel der UNESCO-Initiative ist es, das audiovisuelle Kulturerbe stärker in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die Filmarchive gewähren aus diesem Anlass morgen Einblick in ihre Arbeit. Eine Übersicht über die Veranstaltungen findet sich im Internet (s. Link) . Daneben wurde von verschiedenen europäischen Kinematheken eine Website ins Leben gerufen, die verschollene Filme wie Josef von Sternbergs "The Case of Lena Smith" wieder sichtbar machen will - mit Plakaten, Stills und Drehbüchern, zum Teil sogar mit erhaltenen Ausschnitten.

Diese Schlüsselszene aus Josef von Sternbergs berühmten Stummfilm "The Case of Lena Smith" markiert den tragischen Wendepunkt in der Geschichte des Wiener Hausmädchens Lena Smith. Seit über fünfzig Jahren wurde sie von niemandem gesehen. Ihre einzige Überlieferung stammt aus der Feder des Filmkritikers Takada Masaru, dessen Szenentranskription 1929 in der japanischen Filmzeitschrift Eiga Orai veröffentlicht wurde. Vermutlich stellt diese Transkription heute das beste Zeugnis davon dar, wie von Sternbergs Film bei seiner Premiere einmal ausgesehen haben mag. Die letzte Filmkopie wurde in den Fünfzigerjahren von der Produktionsfirma Paramount Pictures zerstört.

Eine kleine Sensation

Anfang der Fünfziger stieg die amerikanische Filmindustrie vom hochempfindlichen Nitrozellulosematerial auf das chemisch vermeintlich stabilere Zellulosetriacetat um, nachdem sich die Lagerung der Nitrofilme als unkalkulierbares Risiko herausgestellt hatte. Im Zuge dieser Säuberung wurden unzählige Kameranegative und Filmkopien, die sich noch auf Nitrofilm befanden, für immer vernichtet. Es war die zweite große Säuberungswelle nach dem Umstieg der Filmindustrie auf Ton Ende der Zwanzigerjahre. Damals war quasi über Nacht die gesamte Stummfilmära mit einem Fingerschnipsen entwertet worden. Historiker beziffern den Anteil der verlorenen Filme aus der Stummfilmära heute auf erschütternde 85 bis 90 Prozent. Es hatte die Studiobosse ein müdes Lächeln gekostete, die kostbaren Negative von inzwischen klassischen Stummfilmtiteln den Bulldozern zu überantworten.

Josef von Sternbergs "The Case of Lena Smith" ist der Willkür der Studios gleich zwei Mal zum Opfer gefallen. Als er im Januar 1929 als einer der letzten großen Stummfilme in die amerikanische Kinos kam, hatte der Tonfilm bereits seinen Siegeszug angetreten. Von Sternberg wurde im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen von den Kritikern wenigstens noch besprochen. Das Publikum aber war, wie auch der Kinobetrieb, längst auf Tonfilm eingestellt. Als im folgenden Jahr von Sternbergs erster Tonfilm "Thunderbolt" anlief, überaus erfolgreich noch dazu, war "The Case of Lena Smith" vergessen. Die organisierte Vernichtungsaktion der Hollywoodstudios in den Fünfzigerjahren, die von einigen Zeitzeugen als wahres Massaker beschrieben wurde (in Filmjournalen tauchen immer wieder Fotos von Vorschlaghämmer schwingenden Studioangestellten auf), gab dem Andenken von von Sternbergs letztem Stummfilm den Rest. Heute gilt "The Case of Lena Smith" als einer der bedeutendsten verlorenen Filme der Filmgeschichte.

Es kam einer kleinen Sensation gleich, als der japanische Filmhistoriker Komatsu Hiroshi 2003 auf ein vierminütiges Fragment von "The Case of Lena Smith" stieß: in einem Altwarenladen in der Mandschurei. Wie die Filmrolle, mit englischen Zwischentiteln, hierher gelangte, bleibt bis heute ein Rätsel. Sicher ist, dass sie vorerst das einzige physische Überbleibsel von von Sternbergs Film ist. Zugleich enthält das Fragment eine der signifikantesten Szenen des Films. Es zeigt Lena und deren Freundinnen Pepi und Poldi beim Schlendern über den Wiener Prater, vorbei an Spielbuden und Schaustellern, und beim Flirt mit zwei jungen Offizieren. Von Sternberg hat die aufgekratzte Jahrmarktsstimmung mit viel Chuzpe eingefangen; Doppelbelichtungen und relativ kurze Schnitte vermitteln ein schönes Bild vom hektischen Amüsement im Wien des späten 19. Jahrhunderts: eine nostalgische Rückschau auf lokale Traditionen mit den gestalterischen Mitteln der Moderne.

Dass ausgerechnet diese Szene die Jahre unbeschadet überstanden hat, ist vielleicht ein Wink des Schicksals. Für von Sternberg, der Ende der Zwanzigerjahre längst in Amerika sesshaft war, bedeutete "The Case of Lena Smith" eine Rückkehr in seine alte Heimat, die er Jahre später in seinen Memoiren noch einmal äußerst lebhaft beschreiben sollte. Das Jahrmarktsfragment scheint fast so etwas wie das Herzstück des Films zu sein, in dem, völlig isoliert vom Rest, eine autobiografisch angehauchte Sehnsucht zum Ausdruck kommt, die der Kosmopolit von Sternberg bis zu seinem Tod mit dem Ort seiner Jugend verband.

Kraus und Schnitzler

Die Wiener Synema-Gesellschaft und das Österreichische Filmmuseum haben Josef von Sternbergs verlorenem Klassiker "The Case of Lena Smith" nun mit einer Buchveröffentlichung ein kleines Denkmal gesetzt. Es dürfte das erste Buch sein, das sich gänzlich einem Film widmet, der nachfolgenden Generationen nicht erhalten geblieben ist. Mitherausgeber Alexander Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums, beschreibt das Ziel der Publikation folgendermaßen: Zunächst unternimmt "Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith" den Versuch, basierend auf einer Vielzahl von Schrift- und Bilddokumenten, von Sternbergs Film möglichst akkurat zu rekonstruieren. Diese historische Studie sollte in einem ästhetisch ansprechenden Rahmen geschehen, was nichts anderes heißt, als dass dabei am Ende, wie Horwath es unverwechselbar wienerisch-lapidar ausdrückt, ein "schönes Buch" herauskommen sollte. Beides ist geglückt.

Horwath und seine Mitstreiter konnten dabei auf einen umfassenden Fundus von zeitgenössischen Kritiken, Drehbuchsynopsen und Zensurkarten, überlieferten Zwischentiteln, Standbildern, Produktionsnotizen und -rechnungen sowie ebenjene Szenentranskriptionen zurückgreifen, die Takada Masaru 1929 anfertigte.

Sie ziehen selbst Texte aus der zeitgenössischen Literatur heran (unter anderem vom unverwüstlichen Karl Kraus und Arthur Schnitzler, daneben von Sternbergs eigene Erinnerungen sowie Felix Saltens Milieuschilderung "Wurstelprater"). Die eigentliche Leistung ihres Buches besteht jedoch darin, einen Präzedenzfall für die Rekonstruktion verlorener Filme geschaffen zu haben. Seit Jahren beschäftigt Archivare und Historiker das Problem, wie sie Filme in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückbringen können, von denen keinerlei bewegte Bilder, vielleicht nicht einmal mehr Standbilder existieren. Was bleibt überhaupt vom filmischen Erlebnis ohne die zeitliche Erfahrung, die das Kino doch ausmacht?

Eine Herkulesaufgabe

1999 versuchte sich der amerikanische Stummfilmexperte Rick Schmidlin an der Herkulesaufgabe, die vierstündige Version von Erich von Stroheims Klassiker "Greed", die von der MGM noch vor Veröffentlichung im Jahr 1924 brutal verstümmelt worden war, mithilfe der knapp zweieinhalbstündigen überlieferten Fassung und 589 Filmbilder in der ursprünglichen Länge zu rekonstruieren. Das Ergebnis ist eine gelungene Annäherung an das Werk Stroheims, die allein mit der äußerst erfindungsreich eingesetzten Kinestasistechnik (dem Abfilmen von Standbildern) eine Ahnung davon vermittelt, was für ein epochales Meisterwerk mit "Greed" verloren gegangen ist.

"Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith" muss sich damit begnügen, ein hypertextuelles Patchwork zu liefern, in dem sich das geschriebene Wort, Milieubeschreibungen, Skizzen und Fotos zu einem reichen und anschaulichen Bild verdichten. Die Deutsche Kinemathek, die derzeit in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, dem Centre National de la Cinémathographie, dem tschechischen Filmarchiv und dem Filmarchiv Austria eine Dokumentation der 33 wichtigsten verlorenen Filmen aus Deutschland erstellt, sei empfohlen, sich Ansatz und Struktur des Von-Sternberg-Buchs zum Vorbild zu nehmen.

Gleichzeitig wirft das Buch auch ein neues Licht auf das wiederaufgefundene "Lena Smith"-Fragment - so wie überhaupt auf den Umgang mit filmischen Fragmenten, die immer noch zu den Stiefkindern der Archive gehören. Ein Stück Film, das lediglich als narrative Ruine besteht, hat für die meisten Menschen keinen bleibenden Wert. Dem Publikum ist die Schönheit eines Filmfragments aus sich selbst heraus - im Gegensatz zu archäologischen Fundstücken - schwer vermittelbar. Der italienische Restaurator Cesare Brandi schrieb in den Sechzigerjahren, dass jedes Fragment ästhetische und gestalterische Anlagen des Gesamtwerks enthält und somit auch als eigenständiges Werk einen künstlerischen Wert habe. Die Jahrmarktsszene aus "The Case of Lena Smith" unterstreicht Brandis These eindrucksvoll.

Alexander Horwath, Michael Omasta (Hg.): "Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith". Synema, Wien 2007, 304 Seiten, 20 Euro

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